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„Great writers,“ those who constitute our canon (at any given moment, one should add warily, since aesthetic canons fluctuate considerably over time), have invariably been the focus of reception studies, partly because they provide the most fertile ground for research, but partly also because literary scholars (and in particular the aspiring doctoral candidate: I myself graduated with an influence /reception study of this kind) need some justification for their endeavors, and what better ticket into the ivory rower - or onto the book market - than the study of the most seminal and widely accepted authors? James Joyce is just such a „great author.“ And „James Joyce and German Literature,“ the subject of this essay, must inevitably result in some form of reception study. But just what form should it take? Within the limited space of one article, it would be impossible to survey in toto Joyce's influence on German literature; that is, the multiple receptions of Joyce by some four or five generations of authors writing in German.
Schriftsteller sind auch nur Menschen und wollen sich genauso an der jeweiligen Tagesdebatte beteiligen können und sich im Diskursgeschehen der Gesellschaft genauso Gehör verschaffen wie der 'normale' Bundesbürger (wenn sie nicht selbst schon Ursache der Tagesdebatte sind). Doch ist ein Autor 'nur' ein 'normaler' Bundesbürger? Hat er oder sie nicht eine besondere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, gebührt seiner oder ihrer Stimme nicht ein besonderes Gewicht in der öffentlichen Debatte? So haben wir's doch seit dem deutschen Idealismus gehalten: der Dichter ab Stimme des Volkes, als Statthalter des Gewissens, als Wegweiser und Vordenker, Mahner und Warner und was noch alles mehr. […] An zwei Beispielen, Heinrich Böll und Martin Walser, will [der Autor] nicht nur prüfen, warum gewisse 'menschliche' Äußerungen, die sie taten, „durch Publizität zum Spott oder zum Skandal“ wurden, sondern auch wie sich beide Autoren nachträglich dazu äußerten, und was wir daraus wohl schlußfolgern können.
Böll on Joyce, Joyce on Böll : a gnomonical reading of Heinrich Böll's "Die schönsten Füße der Welt"
(1998)
It is my contention - but not my whole argument, as we shall soon see - that this shift or new departure can be attributed in part to Böll's introduction to the work of James Joyce, an event that took place at or around the time when Böll began travelling to Ireland in 1954. Indeed, as if in corroboration of this assumption, the earliest mentionings of Joyce that I have found occur in the second and third episodes of Böll's popular travelogue „Irisches Tagebuch“, published in 1957. It is worth noting, however, that neither of these two comments is formulated in a way that would presuppose more than a superficial knowledge of Joyce's works. And later, too, we find only the occasional allusion to or mention of the lrish writer in Böll's literary work. Nor does Joyce or his œuvre figure prominently in Böll's countless essays and interviews on writers and writing. Even in the short article „Über den Roman“ of 1960, which is devoted to the modern novel and would provide the natural occasion for an acknowledgement of this kind, Böll refers neither to „A Portrait of the Artist as a young Man“ nor to „Ulysses“, not to mention „Finnegans Wake“.
Obwohl noch nicht ausreichend geklärt ist, wie belesen Schmidt im Bereich der literarischen Moderne eigentlich gewesen ist, als er um 1950 mit ersten literarischen Veröffentlichungen und um die Mitte der fünfziger Jahre sogar mit seinen ersten prosatheoretischen Entwürfen an die Öffentlichkeit trat, läßt sich seinen Äußerungen doch soviel entnehmen, daß wir seine Kenntnis der außerdeutschen europäischen Moderne wohl eher als sehr bescheiden und lückenhaft ansehen müssen. Die Quellenlage spricht dafür, daß außer Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Hermann Hesse und, im Wortspielerischen, Expressionisten wie August Stramm nur wenige andere moderne Autoren ihm für sein Werk Pate gestanden haben, am wenigsten noch die großen Vertreter der europäischen Moderne. Schmidt, vom Faschismus samt der verabscheuten Wehrmachtszeit zu einem der zahlreichen 'transzendentalen Obdachlosen' der Nachkriegszeit transformiert, siedelte seine private literarische Ahnengalerie stattdessen vorzugsweise im 18. und 19. Jahrhundert an; Vorbilder waren ihm, dem selbst erklärten "Verirrten aus dem 18. Jahrhundert", unter anderem Wieland, Fouqué, Tieck, Poe, Dickens und Stifter.
Arno Schmidt wäre nicht Arno Schmidt, wenn er bei seinen Lesern nicht anecken wollte. Er war ein Meister der Provokation. Nichts liebte er mehr als Leser egal welchen Couleurs vor den Kopf zu stoßen, in seinem Frühwerk vor allem Konservative und Gläubige, in seinem Spätwerk sogar auch seine liberalen und linken Anhänger. In seiner Essayistik und Funkessayistik über deutschsprachige und angelsächsische Autoren war solch gezielte Irritation sein Metier. Paradebeispiele sind seine Funkessays und Aufsätze über Goethe,Stifter, Karl May, Edgar Allan Poe und James Joyce. [...] Rabiat in seiner Kritik an der Gegenwartsgesellschaft suchte Schmidt Zuflucht vor den ungeliebten und ennervierenden Zeitgenossen im intellektuellen Gespräch mit seiner selbsterwählten literarischen Ahnengalerie. Diese Ahnen kamen freilich nicht immer ungeschoren davon: mal waren sie Gegenstand seines Lobes und seiner Verehrung, mal seines Zornes oder Spotts, wie wir gleich auch beim Fall Dante sehen werden.
Mit dem Beitrag "Seinfeld und das Tabu der Masturbation" betrachtet Elisabeth Werner Inszenierungen von Tabus und Tabubrüchen in audiovisuellen Formaten. Die Autorin fokussiert die (De)Thematisierung von Sexualität und Autoerotik vor dem Hintergrund der medialen Bedingungen des Formats Sitcom und des spezifischen kulturellen Zuschnitts der Sitcom "Seinfeld", die zuweilen mit ihrer Figurenkonstellation an überlieferte Narrative der jüdischen Kultur anschließt.
Klaus Werner beschreibt in seinem Beitrag die einzigartige Mehrschichtigkeit und Tiefendimension künstlerisch bearbeiteter 'schwarzer Bücher' in Li Silberbergs Installation "Bibliothek", die als unzugänglicher gläserner Raum entzogener Lektüre mit der Einrichtung von Regalfächern und Schreibplatte zugleich subtil die materielle Bedingtheit des 'Prinzips Bibliothek' ausstellt.
Lexika wie Zedlers Universal-Lexicon gehen von einer scharfen Trennung zwischen Objekt und Subjekt aus, Schreibwerkzeuge werden darin immer auf die Objektseite geschlagen. Sprechende und damit subjektivierte Federn gibt es hingegen schon, seit Federn in Gebrauch sind. Sie tun dies vor allem in literarischen Texten, wo sie als dingliche Objekte Subjektstatus einnehmen und dadurch die Dichotomie von Subjekt und Objekt unterlaufen. Wenn die Feder zum sprechenden Subjekt wird, werden die von ihr beschriebenen Menschen zum Objekt, wobei sich die Feder dann für Benachteiligte und Unterdrückte einsetzt und dadurch diese wiederum zu Subjekten erhebt. Innerhalb der It-Narratives nehmen erzählende Federn eine Sonderstellung ein, weil sie erstens die materielle Vorbedingung des Schreibens sind, weil sie zweitens den Schwellenraum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit besetzen, indem sie paradoxerweise das, was sie sprechen, auch gleichzeitig ins Schriftliche transponieren und dort festschreiben, sowie weil sie drittens poetologisch das hinterfragen, was geschrieben wird und werden soll
Dinge in Texten haben maßgeblich an der Konstruktion imaginärer Welten teil. Sie kommen zu allen Zeiten und in allen literarischen Gattungen vor, in der Heldenepik ebenso wie in Aphorismen, im Mittelalter wie in der Moderne. Dinge treiben Handlungen voran, stören, wenn sie nicht funktionieren, und sie schaffen und zerstören Ordnungen - auch solche der Worte. Im Gegensatz zur Ethnologie oder Museologie hat es die Literaturwissenschaft stets mit Zeichen zu tun - es stellt sich also die Frage, wie das Verhältnis von res und verba analysiert und beschrieben werden kann. Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die sich, angefangen bei der antiken Rhetorik über mittelalterliche Literatur bis hin zum 20. Jahrhundert, mit Dingen in und neben Texten beschäftigen.
Hier soll anhand einiger Beispiele aus der Geschichte der Münchner Hofoper der 1680er Jahre während der Regentschaft von Kurfürst Max Emanuel ein Perspektivwechsel vorgeschlagen werden. Dieser soll dazu dienen, der Anregung des Kulturhistorikers Peter Burke nachzukommen, dass man weniger versuchen solle, herauszufinden, "wie etwas wirklich war", sondern wie etwas die Zeitgenossen interpretiert haben. Einbezogen werden soll dabei eine Praxis des Fremdmachens, die sich in den letzten Jahren in zahlreichen Disziplinen bewährt hat und die oft als >ethnologischer Blick< bezeichnet wird.
Eine Untersuchung der Rezeption der Opera comique in Italien mag auf den ersten Blick wenig ertragreich erscheinen. Während ihre Werke im übrigen Europa die Bühnen beherrschten, konnten sie sich hier nie recht im Repertoire etablieren. Wiederholt wurden Versuche unternommen, dies zu ändern; belegt sind immer wieder Vorstellungsserien einzelner Werke, in der Regel mit Rezitativen und in italienischer Übersetzung. Kurzzeitig gab es sogar lokale Aufführungstraditionen, aber von einer auch nur annähernd flächendeckenden Verbreitung konnte nicht die Rede sein. Eines von vielen gescheiterten Experimenten war das Gastspiel einer französischen Theatertruppe im Teatro dAngennes in Turin - wo eine Tradition französisch- sprachigen Theaters bestand - im Frühjahr 1858, wobei Operas comiques in Originalsprache und mit gesprochenen Dialogen gespielt wurden. Wegen wirtschaftlicher Erfolglosigkeit fand das Unternehmen ein vorzeitiges Ende.
Das Cassandra-Projekt ist eine Anspielung auf die Geschichte jener Figur in der Ilias, die eine düstere Zukunft prophezeite und der niemand glaubte, wodurch es zur Tragödie kam. Das Projekt hat es sich hingegen zum Ziel gesetzt, auf die Botschaften der Kassandras von heute zu hören, um weitere Katastrophen zu vermeiden, was konkret bedeutet: literarische Texte, die in Krisengebieten entstehen, auf ihr Voraussagenpotenzial hin zu analysieren, um mögliche zukünftige Entwicklungen in der Gesellschaft auszuloten. Die so entstehenden Prognosen können dann als Instrumente für anstehende politische Entscheidungen dienen. Der Beitrag verschafft einen Überblick über die Hintergründe, Methoden, praktischen Anwendungsbeispiele, Probleme und noch offenen Desiderate des Projekts.
Elke Kasimir´s paper (in this volume) argues against employing the notion of Givenness in the explanation of accent assignment. I will claim that the arguments against Givenness put forward by Kasimir are inconclusive because they beg the question of the role of Givenness. It is concluded that, more generally, arguments against Givenness as a diagnostic for information structural partitions should not be accepted offhand, since the notion of Givenness of discourse referents is (a) theoretically simple, (b) readily observable and quantifiable, and (c) bears cognitive significance.
Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob Wortschatz mit einer Sprachlernapplikation effektiv erlernt werden kann. Den Ausgangspunkt bildet die Charakteristik der Wortschatzarbeit im traditionellen Fremdsprachenunterricht. Danach wird die Sprachapplikation "duolingo" vorgestellt. Es wird dabei analysiert, wie ihre Autor/innen bei der Vermittlung des Wortschatzes didaktischen Grundsätzen und lernpsychologischen Erkenntnissen folgen. Es werden sowohl Stärken als auch Unzulänglichkeiten gezeigt, die die Qualität des Vokabellernens
beeinflussen.
In this brief excursion into the poetry of Dante and Montale, Rebecca West suggests some approaches to only a few issues that emerge out of the creation of both the primary beloveds of Dante and Montale and of those feminine figures that have been characterized as ostensibly 'antitranscendental' and more secondary in their roles and meanings. As regards Montale's primary feminine figure, Clizia, West argues that she is, to use Teodolinda Barolini's term for Beatrice, a 'hybrid' poetic character, and ultimately exceeds the limits of the poetic beloved as traditionally conceived and read, not only in the courtly tradition upon which she is modelled but well beyond it. In the case of the so-called secondary 'other women' in Dante's and Montale's poetry, West seeks to show that they are much less separable from the primary feminine figures than such binaries as major/minor, transcendent/erotic, soul/body, and traditional/experimental may lead us to believe. Lastly, West considers specifically the wife-figure, in her conspicuous absence from Dante's corpus and in her late appearance in Montale's. For both poets, there are complex intertwinings, interferences, and non-dualistic patterns that form a densely textured poetic weave, in which both the primary and the secondary feminine figures provide "fili rossi" as well as not so easily graspable dangling threads of meaning. These threads have to do with the preoccupation of both poets with the possible integration of immanence and transcendence, embodiment and abstraction, and with the very limits of poetic language. West's topic is also motivated by a feminist-oriented search for modes of deciphering the figure of the feminine beloved in lyric poetry that are not conditioned exclusively by the traditional emphasis on the male poet-creator, but which allow for a shift in focus onto the female figure who is, of course, the creature of the poet's imagination and skill, but who also often takes him into regions in which the excesses (commonly associated with the female) of non-binary thought and the mysteries of alterity - the feminine symbolic sphere, in short - do not so much allow the emergence of neatly squared-off meanings as the evolution of more oblique, circular conduits of potential significance. As a specialist of modern literature, Rebecca West concentrates on Montale more than on Dante, mainly noting the Dantesque aspects of the former's poetry.
This paper describes the addition of Luxembourgish to the language versions of MAIN, the adaption process and the use of MAIN in Luxembourg. A short description of Luxembourg’s multilingual society and trilingual school system as well as an overview of selected morphosyntactic and syntactic features of Luxembourgish introduce the Luxembourgish version of MAIN.
Eine dreifache Bewegung der Emanzipation appelliert im 19. Jahrhundert an eine realistische Darstellung: Die Befreiung und Gleichstellung von Frauen, Jüd:innen und der Arbeiter:innenklasse wird von realistischen Texten teils protegiert, teils bekämpft. Am Beispiel von sowohl vor- als auch nachrevolutionären Romanen und Erzählungen Fanny Lewalds entwickelt der Beitrag ein intersektionales Verständnis von Realismus, das dieser politischen Seite des Begriffs Rechnung trägt. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass realistische Poetiken mit der Verfahrensweise intersektionaler Textbeobachtungen eine Gemeinsamkeit in der Privilegierung der Referenzebene der 'erzählten Welt' besitzen. Wie aber können sich mehrere strukturell divergente Erfahrungswelten innerhalb derselben erzählten Welt artikulieren, ohne in ihrer konfliktuellen Heterogenität nivelliert zu werden? Während "Jenny" (1843) als Versuch über die Phänomene doppelter, aber auch wechselseitiger Diskriminierung subalterner Akteur:innen gelesen werden kann, wirft der Beitrag am Beispiel der Novellen "Der dritte Stand" (1845) und "Auf Rother Erde" (1850) die Frage auf, welche poetologischen Konsequenzen sich aus jener intersektionalen Problematik ergeben, der sich Lewald auch in diesen beiden Novellen systematisch verschrieben hat. Anknüpfend an Überlegungen Susan Lansers geraten dabei u.a. das Geschlecht der Erzählinstanz und die Poetik des Dialogs in den Blick. Wie damit gezeigt werden soll, gehört der nur intersektional fassbare Streit um die Wirklichkeit zu den entscheidenden Voraussetzungen sowie den formalen Problemstellungen des Realismus.
Ausgehend vom Freud'schen Verständnis des Unheimlichen beleuchtet Roman Widholm aus psychoanalytischer Perspektive, wie sich Autismus nicht nur für den Behandelten, sondern auch für den Behandelnden zeigt und welche Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung dabei beobachtet werden können. Gleichzeitig wird der Fokus auf die praktischen Folgen der fast vollständigen Beseitigung der Psychoanalyse aus dem Feld der Therapie und Betreuung von Menschen mit Autismus gerichtet. Das seit Mitte der 1990er Jahre erforschte 'Affective Computing', die technische Emulation menschlicher Gefühlsbewegungen in Computermodellen, wird schließlich zum Anlass genommen, um behavioristische neurowissenschaftliche Ansätze als Techniken zu kritisieren, die vor allem dazu geeignet sind, sich Gefühlen der Angst und des Unheimlichen in der Auseinandersetzung mit Autismus zu entziehen.
Stefan George und Alfred Schuler begegnen der sog. Krise des Historismus, die den Glauben an die Einheit von geschichtlichem und kulturellem Fortschritt erschütterte, mit einer neuen Art des Historismus, die mit einer signifikanten Umcodierung der überlieferten Wissensbestände einhergeht. Vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Stimmungslage des Fin de Siècle knüpft die Idealisierung der Antike hier zwar an deren bildungsbürgerlich tradierte normative Setzung durch Johann Joachim Winkelmann an, das klassische Antikenverständnis wird jedoch einer zeitbedingten Transformation unterzogen und zum vitalistischen Gegenpol einer als dekadent verstandenen Gegenwart erklärt. Unter dem Einfluss von Friedrich Nietzsches "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) wird das Griechische bei George bzw. das Römische bei Schuler als 'verlebendigte Antike' zum gegenwärtigen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Kulturfaktor erhoben, der als produktive Kraft in der deutschen Gegenwart wirken soll.
Magnus Wieland untersucht in seinem Beitrag die Bedeutung von Hüten, die sich als motivischer und biographischer roter Faden durch die Kunst der Avantgarde ziehen. Vielsagend ist die etymologische Anspielung auf die 'Vor-Hüte' der Avantgarde, da sich anhand kopfloser oder fortfliegender Hüte die antibürgerliche Ästhetik der Avantgarde 'in nuce' skizzieren lässt.
This paper reads 'The Detainee's Tale as told to Ali Smith' (2016) as an exemplary demonstration of the work of world literature. Smith's story articulates an ethics of reading that is grounded in the recipient's openness to the singular, unpredictable, and unverifiable text of the other. More specifically, Smith's account enables the very event that it painstakingly stages: the encounter with alterity and newness, which is both the theme of the narrative and the effect of the text on the reader. At the same time, however, the text urges to move from an ethics of literature understood as the responsible reception of the other by an individual reader to a more explicitly convivial and political ethics of commitment beyond the scene of reading.
Das Spiel erscheint bei Wiemer als jenes Element in der Geschichte des Wissens, das die Birfurkation des Wissens in Kulturwissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften auf der anderen Seite unablässig befragt. Der beste Beweis dafür ist die Irritation und Faszination, welche spielende Maschinen, wie etwa im Fall des Computerschachs oder lebendige Automaten wie das Computerspiel "Game of Life", in beiden Wissenskulturen auslösen. Zugleich jedoch weist Wiemer auch darauf hin, dass der Begriff des Spiels mit der Spaltung des Wissens in Kultur- und Naturwissenschaften selbst eine Spaltung erfuhr, ja, dass er, wie er am Beispiel der Spieletheorie von Johan Huizinga verdeutlicht, selbst zur Begründung des Begriffs der Kultur herangezogen wurde, wodurch das "kulturalistische Spielverständnis" doppelt untermauert wurde. In einem Durchgang durch die Philosophiegeschichte des Spiels stellt Wiemer dar, dass im 20. Jahrhundert eine Traditionslinie wiederauflebte, die dem kulturalistischen, auf das Bewusstsein und den Menschen bezogenen Spielverständnis unter Bezugnahme auf Heraklit und vermittelt über Heidegger einen kosmologischen Begriff des Spiels gegenüberstellte. So sieht Eugen Fink das Spiel als kosmisches Gleichnis, wenn es ohne Spieler gedacht wird. Diesen kosmologischen Spielbegriff sucht Wiemer in der Folge für die mögliche Beantwortung der Frage nach der Schwierigkeit fruchtbar zu machen, spielende Maschinen zu denken.
Josef Wiemeyer ist Professor für Sportwissenschaft mit den Schwerpunkten Bewegungs- und Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Technischen Universität Darmstadt. Aktuell forscht er zu ausgewählten Themen des technologiegestützten Lernens und Trainings. Er hat unter anderem zu den Themen Serious Games für Gesundheit, individualisiertes Training mit Exergames, mobile Trainingsapplikationen und Lernen in Mensch- Roboter-Dyaden publiziert.
In morphological systems of the agglutinative type we sometimes encounter a nearly perfect one-to-one relation between form and function. Turkish inflectional morphology is, of course, the standard textbook example. Things seem to be quite different in systems of the flexive type. Declension in Contemporary Standard Russian (henceforth Russian, for short) may be cited as a typical example: We find, among other things, cumulative markers, “synonymous” endings (e.g., dative singular noun forms in -i, -e, or -u), and “homonymous” endings (e.g., -i, genitive, dative, and prepositional singular). True, some endings are more of an agglutinative nature, being bound to a specific case-number combination and applying across declensions, e.g., -am (dative plural, all nouns); and some cross the boundaries of word classes, e.g., -o, which serves as the nominative/accusative singular ending of neuter forms of pronouns (and adjectives) and as the nominative/accusative singular ending of (most) neuter nouns as well. Still, many observers have been struck by the impression that what we face here are rather uneconomic or even, so to speak, unnatural structures. But perhaps flexive systems are not as complicated as they seem. What seems to be uneconomic complexity may be, at least partially, an artifact of uneconomic descriptions.
Ein zentrales Thema in den Arbeiten Klaus Welkes ist die Analyse formal bestimmter Relationen, die semantisch interpretierbar sind (vgl. etwa WELKE 1988, 1992, 1994, 2001, 22005). Wichtige Fragestellungen sind hier insbesondere: Wie ist die Hierarchie logisch-pragmatischer Rollen, wie die syntaktischer Funktionen? Wie hängen die beiden Bereiche zusammen? Wie können wir dies mit Hilfe von Argumentstrukturen erfassen? Der vorliegende Beitrag wird sich mit dem hierfür zentralen Aspekt der Verknüpfung syntaktischer und semantischer Relationen aus einer evolutionären Perspektive befassen. In Übereinstimmung mit WELKE (22005) gehe ich davon aus, „daß es neben einer Syntax formaler Strukturen auch eine Syntax semantischer Strukturen gibt“ (WELKE 22005, 4) und untersuche vor diesem Hintergrund, wie eine Entstehung dieser beiden Domänen und die Verknüpfung der betreffenden Strukturen im Rahmen der Evolution menschlicher Sprache aussehen könnte.
This paper presents an account of semantics as a system that integrates conceptual representations into language. I define the semantic system as an interface level of the conceptual system CS that translates conceptual representations into a format that is accessible by language. The analysis I put forward does not treat the make up of this level as idiosyncratic, but subsumes it under a unified notion of linguistic interfaces. This allows us to understand core aspects of the linguistic-conceptual interface as an instance of a general pattern underlying the correlation of linguistic and non-linguistic structures. By doing so, the model aims to provide a broader perspective onto the distinction between and interaction of conceptual and linguistic processes and the correlation of semantic and syntactic structures.
This volume brings together a cross-section of recent research on the grammar and representation of pronouns, centering around the typology of pronominal paradigms, the generation of syntactic and semantic representations for constructions containing pronouns, and the neurological underpinnings for linguistic distinctions that are relevant for the production and interpretation of these constructions. In this introductory chapter we first give an exposition of our topic (section 2). Taking the interpretation of pronouns as a starting point, we discuss the basic parameters of pronominal representations, and draw a general picture of how morphological, semantic, discourse-pragmatic and syntactic aspects come together. In section 3, we sketch the different domains of research that are concerned with these phenomena, and the particular questions they are interested in, and show how the papers in the present volume fit into the picture. Section 4 gives summaries of the individual papers, and a short synopsis of their main points of convergence.
Privatrecht als Gesellschaftstheorie? : Bemerkungen zur Logik der ordnungspolitischen Rechtslehre
(1974)
Bürgerliches Recht
(1974)
Wirtschaftsrecht
(1974)
Zivilrecht
(1974)
UNFOLD : the strategic importance of reinterpretation for media art mediation and conservation
(2022)
UNFOLD: Mediation by Reinterpretation is a research project and interdisciplinary network initiated by LIMA, Platform for Media Art in Amsterdam, that examines reinterpretation as an emerging practice for artistic production, presentation, and preservation of media works. New elements stretch the boundaries of traditional preservation methods and require insights from both the artist and the curator to decide how pieces can be restaged. This essay investigates how to deal with the changes of digital/media artworks over time, and how to preserve and mediate their performative aspects.
Schon in der „Herzoglichen Liberey“ wurden nach ihrer Gründung im Jahre 1691 Musikalien gesammelt, damals von den weimarischen Herzögen Wilhelm Ernst (1662-1728) und Ernst August (1688-1748). Außer den Notenbeständen der Herzogin Anna Amalia (1739-1807) ist der größte Teil dieser herzoglichen Musikalien am 6. Mai 1775 beim Schloßbrand in der Wilhelmsburg verlorengegangen. Darunter waren Noten von Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt und Adam Drese. Die von Richard Münnich in seinem Aufsatz „Aus der Musikaliensammlung der Weimarer Landesbibliothek, besonders dem Nachlaß der Anna Amalia“ nach dem Brand von 1774 als gerettet mitgeteilten Werke, so Kompositionen von Johann Philipp Krieger, Johann Paul von Westhoff sowie die sechs Konzerte des weimarischen Prinzen Johann Ernst, sind zusammen mit den Sammlungen der Herzoginnen Anna Amalia und Maria Pawlowna (1786-1859) beim Bibliotheksbrand am 2. September 2004 zerstört worden.
Bei der verheerenden Brandkatastrophe in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek sind neben vielen Büchern auch etliche handschriftliche Dokumente, die zumeist im Zusammenhang mit den betroffenen Büchern standen, verlorengegangen. […] Diese Verluste an handschriftlichem Bibliotheksgut sind im Gegensatz zu vielen Verlusten an Büchern unersetzbar. So kann man es als schöne Fügung ansehen, daß im Zuge des Ersatzbeschaffungsprojektes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek auch einiges an handschriftlichem Gut neu in die Sammlungen gekommen ist, […]. Auch die hier publizierten Briefe von Hans Carossa sind nach dem Brand im Zuge eines großzügigen Büchergeschenks in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek gelangt. Sie stammen aus dem Besitz des Freiburger Geographen Dr. Ernst Reiner. Er hat der Weimarer Bibliothek eine Sammlung von über fünfhundert Büchern aus dem Insel-Verlag, darunter auch viele Bändchen der Insel-Bücherei, von der er sich infolge seines Umzuges in ein Seniorenheim trennen mußte, überlassen.
"Mit dem Gesicht nach Westen und dem Rücken zu den anderen", das umschreibt die für die jüngere Generation im östlichen Europa so typische West-Ausrichtung, die aber dem direkten Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze kaum Interesse zollt. Diese Äußerung wurde zum Leitmotiv und Movens des Forschungs- und Ausstellungsprojekts comiXconnection strip – bandă desenată – strip – képregény – ϲрипп, das die extrem unterschiedlich entwickelten Comic-Szenen aufspürt und zueinander in Beziehung setzt. Ein Projekt, das sich im Laufe der Vorbereitung und Umsetzung mit immer neuen Grenzen konfrontiert sah.
In der Redeordnung des Memoriale stehen sich göttliches Wort, eigene und fremde Rede, Medium und Schreiber, Mund und Schrift, Körper und Passionen gegenüber. Unerhörter Anlass für die Abfassung dieses Memoriale ist die conversio der Angela, in der sie sich von ihrem irdischen Leben als Ehefrau und Mutter ab- und der Liebe in Gott zuwendet. Dabei ist das Memoriale, das diese Umkehr zur Darstellung bringt, nicht aus der Aktualität einer drängenden Situation geschrieben und dokumentiert deshalb keine autobiographische Unmittelbarkeit. Wie bei Augustinus ist das Schema der conversio das der Nachträglichkeit: Erst aus dieser Perspektive kann das Ganze überhaupt zur Darstellung gebracht werden. Im Unterschied zur sorgfältig narrativ ausgefeilten, autobiographische Züge tragenden Bekehrung von Augustinus ist das dabei Besondere dieser conversio, dass sie nicht von eigener Hand verfasst ist: Angela diktiert ihre Bekehrung ihrem Beichtvater, woraufhin dieser mit der Niederschrift zugleich das Gehörte ins Lateinische übersetzt. Wenn der Beichtvater das Bekenntnis direkt von ihrem Mund abschreibt, fallen Beichte und Bekenntnis zusammen, damit aber nicht das Subjekt der Rede und der Verfasser. Die von Angela leidenschaftlich erfahrene Liebe zu Gott steht im Zeichen der Autorität nicht nur der Kirche und der Patristik, sondern auch der Schrift. Angelas Rede ist die der Anderen. Das Memoriale wird im Nachzeichnen ihrer conversio aber nicht zum einfachen Ausdruck laienhafter volkssprachlicher Sakralität, sondern ist diskursive Strategie und performative Ökonomie der Sakralisierung. Die Übertragung des Gottesbegehrens Angelas in die Schrift erweist sich als Kontrafaktur und Transformation der Bibel. So sehr diese Konstellation von beichtender Konvertitin und schreibendem Beichtbruder in den historischen Moment der Entdeckung einer weiblichen spirituellen Empfänglichkeit im 13. Jahrhundert passt, so sehr findet sich hierin die Moderne wieder: mit Clemens von Brentano oder Urs von Balthasar, die von den weiblichen Lippen die göttlichen Offenbarungen ablauschen, die ihnen selbst nicht zuteil werden.
Immer häufiger finden verschiedenste Formen von Infografiken Einzug in Comics aller Couleur. Mit Rückgriff auf bildwissenschaftliche Grundbegriffe wird anhand zweier aktueller Beispiele nach einem Minimalkriterium dafür gefragt, was den Unterschied von einem Piktogramm zu einer Comic-Darstellung ausmachen könnte: Angenommen wird eine wechselseitige Bedingtheit von visueller Kontextbildung zur Individuation von Personen und Objekten. Es wird gezeigt, wie diese verschiedenen medialen Semantiken innerhalb des Comic-Vokabulars auf zwei unterschiedliche Weisen interagieren können.
Sebastian Wildes Aufsatz 'Die Wirklichkeit der Katastrophe' beleuchtet diesen Konflikt vom Standpunkt des betroffenen Subjekts aus: Der Schriftsteller Marcel Beyer wurde 2002 nicht nur zum Zeugen, sondern in vielerlei Hinsicht zum 'Opfer' des Elbehochwassers. Wie Kluge nutzt auch Beyer die spezifischen Eigenschaften seines Mediums, um sich kritisch mit der Presseberichterstattung auseinanderzusetzen. Im Essay 'Wasserstandsbericht' setzt Beyer dem scheinbar dokumentarischen Überblick der Bildmedien den tatsächlich betroffenen Körper als 'Rezeptionsapparat' entgegen und macht die Katastrophe somit durch sprachliche Mittel unmittelbar erfahrbar.
Schön ist nicht nur das Spiel mit Buchstaben und Erinnerungssplittern, sondern auch das mit Zahlen. Im Jahr Zweitausendundzehn ist es dreißig Jahre her, dass ich der damals dreißigjährigen Sigrid Weigel zum ersten Mal begegnete. Mit ihr als Dozentin lernte ich - nach meinem Wechsel von der Bonner zur Hamburger Universität im Sommersemester 1980 - eine Form des leidenschaftlichen Studierens kennen, die ich noch mehr ersehnt hatte als das Großstadtleben. Es war wohl eine der glücklichen Konstellationen, in denen Lehrende und Lernende gemeinsam aufbrachen, um neue Fragen an ihr Fach, die Literaturwissenschaft, zu stellen, vergessene Texte (von Frauen) zu entdecken und bekannte (von Männern) anders zu lesen. Getrieben von der Wissbegierde, was es denn mit der Geschlechterdifferenz auf sich hatte, übten wir uns in genauer Lektüre, intensiver Analyse und theoretischer Reflexion.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Tobias Wilke widmet sich in seinem Aufsatz der in der Forschung bislang unbeachtet gebliebenen Beziehung von "Aura" und "Medium". Dem Begriff des technischen Mediums, so Wilke, liegt ein nicht-technisches Konzept von Medialität zugrunde, das sich in enger Korrelation und Konvergenz mit dem Aura-Begriff herausbildet. Die Aura ist die sichtbare Umhüllung eines Objekts und damit ein Phänomen der optischen Wahrnehmung, in der die Konturen des Gegenstandes aufgelöst werden, wie Benjamin am Beispiel von Van Goghs "De sterrennacht" ausführt. Wilke verortet Benjamins Kunstwerk-Aufsatz an einer medienhistorischen Zäsur, die den Übergang von einem spiritistischen zu einem technologischen Verständnis von Medialität markiert.
Der Nutzung von Videos im Hochschulkontext werden verschiedene Potenziale zugesprochen (Dinmore, 2019). Damit aber alle Lernenden Videos nutzen und von diesen profitieren können, müssen diese barrierefrei umgesetzt werden. Ausgehend von dem Projekt „Degree 4.0“ an der Technischen Universität Dortmund, wird in diesem Beitrag die Umsetzung der Barrierefreiheit von (didaktischen) Videos – mit besonderem Schwerpunkt auf Audiodeskription – und weitergehende Herausforderungen für die Arbeit mit (barrierefreien) Videos thematisiert. Besonders bei der Gestaltung von Audiodeskription müssen fachdidaktische Spezifika der Videos im Umsetzungsprozess berücksichtigt werden. Für die barrierefreie Gestaltung der Videos aus verschiedenen, im Projekt beteiligten Fachdidaktiken wurde ein Workflow entwickelt, der in diesem Beitrag vorgestellt wird.
In Stephanie Willekes Beitrag ""Nichts mehr stimmt, und alles ist wahr." Tabubrüche in Herta Müllers "Atemschaukel"" steht die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen im Vordergrund der Betrachtung. Herta Müllers "Atemschaukel" fokussiert das Schicksal in Rumänien lebender Deutscher, die zum Kriegsende in Arbeitslagern interniert werden. Damit wird in gewisser Weise ein Tabu im Sinne des Unausgesprochenen berührt, da das Schicksal der internierten Rumäniendeutschen im Kollektivgedächtnis weitestgehend ausgespart bleibt.
Johann Wolfgang Goethe ist für die Beschäftigung mit Fragen des Archivs nicht nur ein symptomatischer oder beispielhafter, sondern ein beispielgebender Autor. Er besetzt eine wichtige Funktionsstelle in der Koppelung moderner Autorschaft ans Archiv. Genauer gesagt, steht er wie wohl kein anderer Schriftsteller – jedenfalls in der deutschen Literaturgeschichte – für die Selbstinstitutionalisierung von Autorschaft durch eine bestimmte Art der Selbstarchivierung, die man, im Anschluss an den von Steffen Martus geprägten Terminus der Werkpolitik, als Archivpolitik bezeichnen könnte. Vor allem die epochale Erkenntnis des alt gewordenen Goethe, "sich selbst historisch" zu werden, führte zu archivarischen Maßnahmen größeren Stils, die ihrerseits jene Erkenntnis immer weiter beförderten. Das so entstehende Spät- oder Alterswerk ist nicht einfach nur die Summe der relativ spät verfassten Texte dieses Autors, vielmehr liegt seine Spezifik im Altern des Werks selbst. So erklärt sich zum einen die Emphase, mit der Goethe sein Lebenswerk, sein Leben im Werk und sein Leben als Werk, konzipierte, zum anderen die große Aufmerksamkeit, die er auf die Sortierung seiner Schriften, Notizen, Bilder und Objekte, auf die Materialität seiner Produktion insgesamt wendete.
Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Wunsch
(2016)
Wünsche sind gedanklich-sprachliche Repräsentationen von abwesenden Dingen oder Zuständen, deren Anwesenheit für den Wünschenden erstrebenswert – 'wünschenswert, wünschbar' – ist. Dabei ergibt sich eine enge Verbindung von Wünschbarkeit und Zukünftigkeit: Es gehört zum Charakteristikum vieler Wünsche, dass in ihnen das Erwünschte als 'noch nicht' anwesend, aber als in Zukunft erreichbar vorgestellt wird. Ein solches Herbeiwünschen eines zukünftigen Zustands kann auf möglichst vollständige Befriedigung abzielen, etwa wenn das Aussprechen eines Geschenkwunsches – oder auch seine Niederschrift auf einem Wunschzettel – dafür sorgen soll, dass man später genau die gewünschte Gabe erhält. Am theoretisch namhaftesten findet sich diese Reduktion des Wünschens auf den Augenblick seiner Erfüllung in Sigmund Freuds Deutung des Traums als einer „Wunscherfüllung“, die „bequem“ und „vollkommen egoistisch“ gewährt werden könne.
Zeitreisender
(2016)
Mit dem Begriff Zeitreise wird die Vorstellung ausgedrückt, dass man sich durch die Zeit auf eine wie auch immer geartete Weise bewegen kann, indem man von einer Stelle zu einer anderen reist. Eine Zeitreise verbindet also zwei (oder mehr) Orte in der Zeit. Im weiteren Sinn wäre jeder Lebenslauf eine solche Reise vom Zeitort der Geburt bis zum Zeitort des Todes. Im engeren Sinn ist jedoch für Zeitreisen eine zeitliche Diskrepanz zwischen persönlicher Zeit und externer (äußerer, umgebender) Zeit zu veranschlagen: Obwohl ein Zeitreisender Minuten, Stunden oder Jahrtausende in der externen Zeit überbrücken kann, läuft seine persönliche Zeit, seine Lebenszeit kontinuierlich weiter.
Stratege
(2016)
Strategen sind Zukunftsautoritäten von besonderer Ausprägung. Ihr Zukunftswissen ist entschieden 'hierarchisch', insofern es sich auf die Leitung und Führung einer mehr oder weniger großen Gruppe anderer Menschen richtet, und es ist entschieden 'agonal', insofern es sich auf die Übervorteilung eines Gegners richtet. Beide Charakteristika stehen in einer notwendigen Wechselbeziehung miteinander: Die vom Strategen geleitete Menschengruppe wird mit dem Ziel geführt, eine gegnerische Gruppe zu besiegen, die ihrerseits zu demselben Ziel ebenfalls von einem Strategen angeleitet wird. In dieser Zielhaftigkeit liegt die wesentliche Zukünftigkeit strategischen Planens und Handelns; der Stratege will also immer Teleologe sein. Sein Ziel ist aber prinzipiell doppelt: einerseits das anvisierte 'target' einer konkreten strategischen Operation, andererseits der Erfolg, auf den diese Operation – oder die Summe mehrerer Operationen – letztlich hinführen soll. Die doppelte Zukünftigkeit des eher kurzfristigen Vorausplanens und der eher langfristigen Zielvorgabe stellt ein Kernproblem fast jeder Strategie dar.
Weltkulturerbe
(2016)
In der 1972 verabschiedeten 'World Heritage-Konvention' der Unesco gelobt jeder der Unterzeichnerstaaten "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen". So wie in dieser Formel, ist das Konzept des 'Erbes' auch sonst begriffs- und diskursgeschichtlich mit dem der intergenerationellen Übertragung verknüpft. Das gilt für alle drei Aspekte des Erbe-Begriffs, wie er sich – in eben dieser Dreigliedrigkeit – seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat: für die zivilrechtlich kodizifierte Eigentumsübertragung, für die biologische Weitergabe von Eigenschaften (bzw. deren Anlagen) und für die kulturelle Traditionsbildung. Was aber heißt es eigentlich, Praktiken der Weitergabe von 'Kultur' mit der Bezeichnung 'Erbe' zu belegen?
Vom Wünschen
(2016)
Es freut mich, dass ich bei der Gelegenheit meiner Antrittsvorlesung über ein Thema sprechen kann, das es mir schon lange angetan hat: das Wünschen. Ich werde gleich in einem einleitenden Abschnitt skizzieren, wie ich den Umfang und Inhalt des Themas bestimme und welche Fragen sich für mich daran anschließen. Hauptsächlich möchte ich mich dann auf einen Aspekt konzentrieren, der meiner Professur hier am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin besonders entspricht. Das Fachgebiet lautet "Kulturforschung mit Schwerpunkt Wissensgeschichte", und deshalb möchte ich in dieser Antrittsvorlesung vor allem über den Zusammenhang von Wünschen und Wissen sprechen, und somit auch über die Spannungen zwischen beidem. Es soll um die Frage gehen, was man vom Wünschen wissen kann, um die Frage, wie Wünschen das Wissen initiiert oder antreibt, aber auch darum, wie es das Wissen behindern oder sogar verhindern kann.
Im Rahmen einer Verständigung über Freundschaftskonzepte und -praktiken unter den komplexen Bedingungen sowjetischer und postsowjetischer Kulturpolitik - sowie ihrer russisch-imperialen Vorläufer und besonders ihrer georgischen Neben- und Gegengeschichte - scheint der vorliegende Beitrag auf den ersten Blick nicht ganz zum Thema zu gehören. Er behandelt die sehr spezifische Vorstellung von Gastfreundschaft, wie sie sich bei Pierre Klossowski findet, einem französischen Autor mit deutsch-schweizerischem biographischen Hintergrund. Die Verbindung zum Diskussionszusammenhang des hier dokumentierten Symposiums ergibt sich in der Tat nicht auf der Ebene des kulturhistorischen Kontakts, wohl aber auf dem von Klossowskis konzeptueller Reflexion: einer Reflexion, die das Imperativische der Gastfreundschaft, ihre 'Gesetzmäßigkeit', mit einer gewissen hartnäckigen Konsequenz und zugleich auf verspielt-fantastische Weise zuende denkt.
"Die Gesetze der Gastfreundschaft" - "Les lois de l’hospitalité" -, so lautet die Überschrift eines der ersten Abschnitte in Klossowskis 1953 erschienenem Roman "Roberte ce soir". Dieselbe Überschrift, "Les lois de l’hospitalité", wählte Klossowski einige Jahre später auch für den Zyklus, zu dem er den "Roberte"-Roman mit seinen beiden folgenden Romanen, "La révocation de l’Édit de Nantes" (1959) und "Le souffleur" (1960), zusammenfasste. Nicht um den Zyklus als ganzen, sondern nur um den kurzen Text soll es hier gehen, der als eine Art von Traktat in die Anfangspassagen des "Roberte"-Romans eingelassen ist. Dieser Text ist schwierig und sonderbar. Er behandelt Gastfreundschaft als ein Problem zugleich dialektischer und erotischer Natur, kaum jedoch als kulturelle Praxis. Daher versteht sich mein Beitrag als eine Art Zwischenruf, als Intervention von Klossowskis voraussetzungsreichem Denken und Schreiben in die Theoretisierung kultureller Praktiken. In diesem Zusammenhang kann die Beschäftigung mit Klossowski womöglich eine produktive Irritation bewirken.
Stefan Willer analysiert die zahlreichen um 1900 kursierenden Pathologien und Pathographien 'großer Männer', die Goethe oft als privilegiertes Fallbeispiel bemühen. Die diese Schriften kennzeichnende Mixtur aus "biographischem Interesse", "vitalistischer Weltanschauung" und "metaphysischer Überhöhung" betrachtet Willer als typisch für eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts prosperierende 'lebenswissenschaftliche' Goethe-Rezeption, die Goethe allerdings nicht degradiere, sondern die in der Regel sogar zu einer "umso emphatischeren Aufwertung" seiner "künstlerischen Lebensleistung" führe und Goethe auf ihre Art anschlussfähig für das neue Jahrhundert mache. Während insbesondere Schiller vom pathologischen Diskurs als ein "heroischer" (und rein biologisch Kranker) kanonisiert worden sei, schlage dieser Goethe auf die 'nervöse', 'innerliche' und partiell auch 'dekadente' Seite der Modernität. Im Zentrum von Willers Untersuchung steht die Studie "Ueber das Pathologische bei Goethe", die der Psychiater Paul J. Möbius 1898 vorgelegt hat. Neben dem "diagnostisch-lesenden Blick" und der "symptomalen Lektüre", die sowohl Goethe'sche Figuren wie Werther oder Gretchen als auch bedeutende Lebensstationen des Autors pathologisch einordnen, gilt Willers besonderes Interesse der Partizipation dieser Studie an den wichtigsten medizinischen Diskursen ihrer Zeit. Die Untersuchung verrate den Einfluss einer bereits von Cesare Lombroso wissenschaftlich behaupteten Affinität von Genie und Wahnsinn ebenso wie den der Entartungs-Theorie Max Nordaus. Die seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Verbindung zwischen Pathologie und Degenerationsdiskurs appliziere Möbius jedoch allenfalls zaghaft auf Goethe. Stattdessen unterlege er die Goethe'sche Pathologie einer Entwicklung, die sich in Sieben-Jahres-Zyklen manifestiert habe. Willer flankiert seine Möbius-Lektüre systematisch mit anderen Goethe-Pathographien jenseits der Psychiatrie bis in den Nationalsozialismus hinein und er konfrontiert Möbius abschließend mit prominenten psychoanalytischen Goethe-Lektüren. All diesen Bemühungen sei gemeinsam, dass sie Goethe als Patienten betrachteten. Gemeinsam sei ihnen aber auch, dass die Ärzte als von Goethe permanent 'Affizierte' ihrerseits "in die Nähe des Patienten-Status" zu geraten drohten.
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
Musik
(2016)
Die Musik hat ein besonderes Verhältnis zur Zeit – so eng und unauflöslich, dass man sie immer wieder als die 'Zeitkunst' schlechthin bezeichnet hat. Dabei könnte es so scheinen, als sei die Zeitlichkeit, die musikalischen Verläufen selbst inhärent ist, mit der des Produzierens und/oder Rezipierens von Musik 'synchron': Man spielt oder hört ein Musikstück, indem es sich in der Zeit vollzieht, und es vollzieht sich in der Zeit, indem es gespielt und gehört wird. So gesehen wäre die einzig mögliche Zeitform der Musik die unausgesetzt prozessierende Gegenwart.
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Komplikationen von Zeitreisen sind nicht unvertraut. Entfaltet werden sie in einem eigenen Genre von Geschichten. Die erste namhafte Erzählung, in der eine Zeitreise mit Hilfe einer Zeitmaschine unternommen wird, ist schon dem Titel nach einschlägig, ja ikonisch: 'The Time Machine', 1895 verfasst von H.G. Wells. Dabei handelt es sich um einen Urtext der Science Fiction, wofür besonders wichtig ist, dass hier die Reise in eine äußerst ferne Zukunft führt. Bevor ich mich diesem Text ausführlicher zuwende, schicke ich einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen Denkbarkeit und technischen Machbarkeit von Zeitreisen voraus. Im Anschluss an Wells’ klassisch-modernes Modell der Zukunftsreise werde ich dann zwei Romane aus den 1990er Jahren besprechen, in denen Zeitreisen in die Vergangenheit führen: 'Timeline' von Michael Crichton (1999) und 'Making History' von Stephen Fry (1996). In diesen Geschichten zeigt sich eine für das späte zwanzigste – und auch noch für das beginnende einundzwanzigste – Jahrhundert charakteristische, wohl mit Recht als 'postmodern' zu charakterisierende Fixierung auf Vergangenheit und Historizität. Ähnliches gilt für Robert Zemeckis’ Filmtrilogie 'Back to the Future' (1985–1990), die ich abschließend erörtern werde. Hier wird auf virtuos selbstbezügliche Weise ein zugleich spannendes und komisches Hin und Her zwischen den Zeitformen inszeniert und ins bewegte Bild gesetzt.
Leben und Werke der Brüder Wilhelm (1767−1835) und Alexander (1769−1859) von Humboldt vollzogen sich in vielfältigen Kultur- und Wissenstransfers. Beide waren, in jeweils unterschiedlichem Ausmaß, Forschungsreisende, wissenschaftliche Publizisten, Wissenschaftspolitiker, Staats- und Hofbedienstete. In der Vielfalt dieser Funktionen waren sie darauf angewiesen, zwischen fachlicher, politischer und öffentlicher Kommunkation vermitteln zu können, sich also selbst zu übersetzen - in einem zunächst einmal weiten Verständnis von Übersetzung, das neben sprachlichen Übertragungen auch die "Notwendigkeit kultureller Übersetzungsprozesse" meint und auf ein "Immer-schon-Übersetztsein" von Kulturen in ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit verweist. Solche kulturellen Transfers erweisen sich aber bei den Humboldts auf spezifische Weise als sprachgebunden. Daher lässt sich der im weiteren Sinne übersetzende Charakter ihres wissenschaftlichen und politischen Wirkens auf die interlingualen Selbstübersetzungen hin engführen, die untrennbar mit der mehrsprachigen Genese ihres jeweiligen Gesamtwerks verbunden sind. [...] Als besonderer Fall von kosmopolitischer Mehrsprachigkeit ist für beide Humboldts die deutsch-französische Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte betont worden. Für beide besaß die französische Sprache einen zentralen Stellenwert: als von klein auf gesprochene Zweitsprache und als wissenschaftliche lingua franca der Zeit um 1800. Sie war immer dort mit im Spiel, wo sich Wilhelm und Alexander von Humboldt als Selbstübersetzer betätigten. Dabei ging die Übersetzungsrichtung sowohl aus dem Deutschen ins Französische als auch umgekehrt; übersetzt wurden sowohl komplette eigene Texte als auch Abschnitte aus teils publizierten, teils unpublizierten Arbeiten, die in der jeweils anderen Sprache zum Ausgangsmaterial für neue Schriften werden konnten. Auf diese Weise entstanden zweisprachige Textkorpora verschiedenen Zuschnitts, wie im Folgenden an chronologisch angeordneten Beispielen dargelegt werden soll, und zwar sowohl hinsichtlich der jeweiligen wissenschaftlichen Kontexte als auch im mikrologischen Blick auf die Texte selbst. Zwei der Beispiele stammen von Wilhelm von Humboldt: ein deutsch-französisches Konglomerat zur Ästhetik (II.) und ein französisch-deutsches über altamerikanische Sprachen (IV.); die beiden anderen von Alexander von Humboldt: die parallel auf Französisch und Deutsch veröffentlichte Abhandlung zur Geographie der Pflanzen (III.) und die französische Übersetzung der zuerst auf Deutsch publizierten Einleitung zum mehrbändigen Spätwerk, dem Kosmos (V.). Abschließend soll nochmals die pragmatische und theoretische Reichweite der Humboldt'schen Selbstübersetzungen benannt werden (VI.).
Selbstübersetzung - das heißt: Autorinnen und Autoren übertragen ihre eigenen Texte aus einer Sprache in eine andere Sprache, fungieren also als ihre eigenen Übersetzerinnen und Übersetzer. In einer Selbstübersetzung sind demnach Autor und Übersetzer identisch. Aus dieser vermeintlich einfachen Definition ergibt sich eine Reihe von komplexen Forschungsfragen. Sie lassen sich anhand einiger Leitbegriffe formulieren, um das im vorliegenden Band unternommene Gespräch über die Grenzen von Philologien und Disziplinen hinweg ansatzweise zu systematisieren.
Der Beitrag 'Katastrophe als Metapher' von Chrsitoph Willmitzer beleuchtet das lyrische Werk Ewald Christian von Kleists unter dem Gesichtspunkt der metaphorischen Ausgestaltung von Affekten im Rahmen von literarischen Darstellungen von Naturkatastrophen und Kriegen. Willmitzer geht damit dezidiert auf den frühneuzeitlichen Kontext ein, der in Bezug auf das Katastrophale noch nicht von den Deutungs- und Diskursivierungsmustern geprägt ist, die nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 dominant werden.
In this work, I examine a set of languages which appear to require resyllabification postlexically; in less derivational terms, a word's syllabification in isolation differs from its syllabification in a phrase-internal context. Although many people, myself included, have been looking at such cases in isolation over the years, I bring together several examples here to see what features they share and how an Optimality Theory analysis improves upon rule-based derivational approaches.
Im vorliegenden Versuch nehme ich mehrere Schritte: Zunächst spreche ich über das Innenleben staatlicher Archive und zwei Typen von Papierorganismen. Zum einen geht es dabei um die Wahrnehmung der materiellen Gestalt bürokratischer Vorgänge und der spezifischen Zeitlichkeit, die sie verkörpern. Zum anderen um die Angst vor deren Zersetzung durch biologische Organismen. Das wäre der zweite Typ von Papierorganismus. In einem weiteren Schritt geht es mir darum, diese stummen Geschichten aus dem Inneren der Archive als Ausgangspunkt für ein Modell historischer Zeiten zu nehmen, das die Materialität der Archive als solide und konkrete Metapher auffasst, das also die metaphorische Bedeutung aus der Materialität des Geschriebenen bezieht. Ein Modell, das etwas weniger spekulativ, etwas weniger philosophisch ausgerichtet ist, als etwa Reinhart Kosellecks, dafür aber umso mehr dazu anregt, eine Theorie historischer Zeiten und empirische Forschung einander anzunähern. Das Archiv der Bürokratie dient hier freilich lediglich als Modell, um an einer Form der verkörperten Vergangenheit materielle Eigenzeitlichkeit als beweglichen Untergrund der Geschichtsschreibung zu denken. Andere Archive erfordern freilich entsprechend andere Forschungsstrategien.
Beirut und Berlin, die libanesische und die deutsche Hauptstadt, weisen – neben zahlreichen evidenten Unterschieden – eine Reihe von Parallelen auf, die im Zusammenhang mit Krieg und Teilung, Zerstörung und Wiederaufbau ihres Stadtzentrums stehen. Ähnlich wie die Gegend um den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten der deutschen Teilung war das Beiruter Stadtzentrum im Laufe des Bürgerkriegs (1975−1990) zu einer Art Niemandsland geworden. Als Schauplatz heftiger Kämpfe war es bereits zu Beginn des Krieges weitgehend zerstört und in der Folge von Bewohnern wie Geschäftsleuten verlassen worden. [...] Im Anschluss an einen kurzen Exkurs zur Geschichte des Beiruter Stadtzentrums werden im Folgenden einige Ausschnitte aus der Debatte vorgestellt. Auf der einen Seite wird es um die Wiederaufbaupläne gehen, um die mit hohem Aufwand betriebene Medien-Kampagne und das Vorgehen der mit dem Wiederaufbau betrauten Immobilienfirma sowie um den Widerstand, den dies hervorrief. Auf der anderen Seite werden künstlerische Positionen, Einwände und Gegenentwürfe vorgestellt: Am Beispiel zweier in den 1990er Jahren erschienener Romane wird illustriert, wie das Beiruter Stadtzentrum als Schauplatz für Debatten dient, in denen Fragen von Identität, Erinnerung und Verantwortung verhandelt werden.
"Paris ist für mich", schreibt Rilke 1907, "eine unermeßliche Erziehung, dadurch, daß es meinem Blick und meinem Gefühl, die entlegensten, äußersten, die schon nicht mehr nachweisbaren Thatsachen seelischen Erlebens bis zu beispielloser Sichtbarkeit (ja, Weithinsichtbarkeit) verdichtet, hinhält". Diesem in bzw. an Paris erfahrenen Zusammenhang von Blick und Gefühl, Sichtbarkeit und seelischem Erleben, Sehen-Lernen und Innerlichkeit geht Karin Winkelvoss hier noch einmal nach.
Der folgende Artikel soll einen Überblick über ein Phänomen geben, das unter verschiedenen Namen einen Einzug in deutsche Grammatiken und linguistische Fachtexte gehalten hat. Man begegnet ihm als "Attribuierungskomplikation", "schiefes Attribut", "grammatische Illusion" und Ähnlichem. Gemeint sind Daten wie der grüne Bohneneintopf, der vierstöckige Hausbesitzer oder das direkte Objektpronomen, sowie die Absturzursache des TWA-Jumbos und die Kritikpunkte an Lakoff. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Diskussion um (scheinbar) fehlerhafte Attribuierungen von N+N-Komposita wieder zu einem virulenten Forschungsthema wurde (§1) und wie dessen Behandlung in Grammatiken (§2), (populären) Sprachkritiken (§3) und Fachtexten (§4) aussieht. In §5 wird eine abschließende Diskussion gegeben.
This paper presents the results of Open Quotient measurements in EGG signals of young (18 to 30 year old) and elderly (59 to 82 year old) male and female speakers. The paper further presents quantitative results on the relation between the OQ and the perception of a speaker's age. Higgins & Saxman (1991) found a decreased OQEGG with increasing age for females, whereas the OQEGG in sustained vowel material increased for males as the speakers age increased. In Linville (2002), however, the spectral amplitudes in the region of F0 (obtained by LTAS-measurements of read speech material) increased with increasing age independent of gender; this could be interpreted indirectly as an increasing OQ. We measured the OQEGG not only for sustained vowels, but also in vowels taken from isolated words. In order to analyse the relation between breathiness in terms of an increased OQ and the mean perceived age per stimulus a perception test was carried out in which listeners were asked to estimate speaker's age based on sustained /a/-vowel stimuli varying in vocal effort (soft - normal - loud) during production. The results indicated the following: (i) The decreased OQ for elderly females originally found by Higgins & Saxman is not apparent in our data for sustained /a/-vowels. For our female speakers no significant difference between the OQ of young and old speakers was found; for elderly males, however, we also found an increasing OQ with increasing age.(ii) In addition, a statistically significant increased OQEGG occurs for the group of the elderly males for the vowels from the word material. (iii) Our results show a strong positive relation between perceived age and OQ in male voices. Regarding (i) and (ii), at least the male speaker's voice becomes more breathy as age increases. Considering (iii), increased breathiness may contribute to the listener’s perception of increased age.
Die amerikanische Hardcore Punk Szene wird bis heute als eine antirassistische Rebellion gegen das Wiedererstarken konservativer Wertvorstellungen wahrgenommen. Hardcore Punk entwickelte sich in den USA aus der Stilrichtung des Punkrock und hatte seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren. Dabei wurde sowohl der lyrische Inhalt als auch die musikalische Form des ursprünglichen Genres radikalisiert und die subkulturelle Identität maßgeblich über körperbetonte und expressive Bühnenauftritte konstituiert. Die Hardcore Punk Szene inszenierte sich vornehmlich als prekäre und stigmatisierte Gesellschaftsschicht, um von dieser Position aus eine vermeintlich antirassistische Grundhaltung zu propagieren. Die Tatsache, dass diese Szene jedoch fast ausschließlich aus weißen, männlichen und der Mittelschicht zugehörigen Jugendlichen bestand, wirft Fragen hinsichtlich der etablierten, politisch eindeutigen Verortung als subversiver Bewegung auf.
1 rue de Médicis - vom Balkon der im 5. Stock dieser Pariser Adresse gelegenen Wohnung des Schriftstellers und Übersetzers Maurice Betz eröffnete sich der Blick auf den Jardin du Luxembourg, links zwischen den Bäumen erahnte man die Fontaine Médicis, geradeaus blickte man auf den Palais, rechts auf das hintere Portal des Théâtre de l'Odéon. Während der ersten Monate des Jahres 1925 ging Rilke jeden Vormittag aus dem in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Hotel Foyot, 33 rue de Tournon, zu dieser Wohnung, um dort gemeinsam mit Betz an der Übersetzung der "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" zu arbeiten. An diesem Ort entstand ein zentrales Dokument des produktiven Austauschs zwischen den beiden Autoren und ihren Sprachwelten, das die Rilke-Rezeption in Frankreich wesentlich mitbestimmten sollte. [...] Es ist durchaus lohnend, über das bisher in dieser Reihe zu Maurice Betz Gesagte hinaus einen eingehenderen Blick auf sein Leben, seine Tätigkeit und seinen Austausch mit Rilke zu werfen.
In letzter Zeit wird in Bezug auf alte Bücher und Büchersammlungen immer häufiger der Blick auf die Rezeptionsgeschichte geworfen, sei es für Biografien, wenn ermittelt werden soll, welche Bücher die porträtierte Person besessen und genutzt hat, oder sei es für kulturgeschichtliche Arbeiten, wenn gefragt wird, wer zu welcher Zeit welche Lektüre betrieb. Auch die Fragen, welche Informationen über Bücher wann und wohin verbreitet wurden und welche Auswirkungen dies in Politik, Wirtschaft und Kunst hatte, scheinen zunehmend interessanter. Große Datensammlungen zu Rezeption und Provenienzgeschichte sind indes noch selten. Deshalb ist es angebracht, den Blick in Bibliotheken mit großen Altbestandsteilen zu werfen. Beispielhaft soll im Folgenden die "Sammlung Frankfurter Drucke" der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main (UB Ffm) betrachtet werden. Es soll geklärt werden, wie häufig Lese- oder andere Benutzungsspuren in Frankfurter Drucken des 16. Jahrhunderts zu finden sind. Außerdem soll versucht werden, einige der frühen Besitzer dieser Drucke zu identifizieren.
Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike […] Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. […] Im Folgenden möchte ich […] der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab? Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen? Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei?
Die Reflexion der Grenze zwischen Text und Nicht-Text findet zumeist ‚am Rahmen’, nämlich im Paratext, statt. Insbesondere die „Vorredenreflexion“ […] will bei den Lesern das „Fiktivitätsbewußtsein“ […] für den nachfolgenden Text wecken. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie dieses Grenzbewusstsein entsteht. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass Paratexte – vor allem Vorworte – einen Zugang zum Haupttext eröffnen, indem sie sich selbst als Übergangszone in Szene setzen: als Übergangszone, in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden. Die Rede vom Paratext als Übergangszone impliziert neben dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit auch eine Form der Bewegung, durch die diese Übergangszone überhaupt erst konstituiert wird. Es handelt sich […] um eine „Praktik im Raum“ […] durch die der Leser – die Leserin – den Weg aus der realen Lebenswelt in die fiktionale Welt des Textes finden soll. Dieses paratextuelle travelling möchte ich im Rekurs auf Jean Paul beschreiben – ein Schriftsteller, der wie kein anderer eine Vielzahl spielerischer Praktiken im paratextuellen Raum entwickelt hat. Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass Jean Paul mehr Wert auf seine Paratexte als auf seine Texte legt. Zugleich, und dies scheint mir für das Thema Raum und Bewegung in der Literatur interessant zu sein, fällt auf, dass Jean Paul im Rahmen seiner Paratexte ostentativ Raummetaphern bemüht.
Anrufbeantworter und Online-Chat sind zwei telekommunikative Phänomene unseres hoch-technisierten Alltags, die auf eigentümliche Weise zwischen Stimme und Schrift changieren. Der Anrufbeantworter dient – wie die Mailbox des Handys – der Aufzeichnung von gesprochenen, flüchtigen Äußerungen. Aufgrund ihrer Wiederholbarkeit gewinnen diese Äußerungen einen gewissen Schriftcharakter – sie befinden sich sozusagen im Übergang zwischen "medialer Mündlichkeit" und "konzeptioneller Schriftlichkeit". Der Online-Chat stellt das Komplementärphänomen zum Anrufbeantworter dar: Er ist eine Kommunikationsform zwischen vernetzten Computern, die schriftlich erfolgt, aber den Charakter von mündlichen Äußerungen hat, da die Kommunikation synchron verläuft. Der Online-Chat befindet sich so besehen im Übergang zwischen medialer Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit. Die Besonderheit von Anrufbeantworter und Online-Chat liegt aber nicht nur in der spezifischen Art, wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit interferieren, sondern darin, daß diese Interferenz unter dem Vorzeichen der Telekommunikation steht. Wodurch zeichnet sich Telekommunikation aus? Durch den wunderbaren Moment der Verbindung. Dieser Moment wird im folgenden der Bezugspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift sein.
What is abductive inference?
(2002)
Abductive reasoning: constitutes according to Peirce the "first stage" of scientific inquiries (CP 6.469) and of any interpretive processes. "Abduction" is the process of adopting an explanatory hypothesis (CP 5.145) and covers two operations: the selection and the formation of plausible hypotheses. As process of finding premisses, it is the basis of interpretive reconstruction of causes and intentions, as well as of inventive construction of theories.
Chatten online
(2006)
Aus linguistischer Sicht besteht die "kommunikationsgeschichtliche Novität" des Chattens darin, dass Schrift „für die situationsgebundene, direkte und simultane Kommunikation" verwendet wird (Storrer 2001: 462), ohne in einem "systematischen Verhältnis zu einer vorgängigen oder nachträglichen Oralisierung" zu stehen (ebd.). Dabei ist natürlich auch von Interesse, wie die Teilnehmer des Chats miteinander Kontakt herstellen und mit welcher kommunikativen Grundhaltung die Äußerungen im Chat produziert und rezipiert werden (vgl. Beißwenger 2000: 39f.). Unter den Vorzeichen einer dezidiert medialen Fragestellung müssen darüber hinaus die performativen Übertragungs- und Verkörperungsbedingungen des Chats thematisiert werden (vgl. Wirth 2002a: 44).
Im folgenden wird es darum gehen, ein Modell von Hypertextualität zu entfalten, das zwei Ansprüchen genügt: Zum einen soll der mediengeschichtlichen Entwicklung Rechnung getragen werden, dass der Textbegriff in zunehmendem Maße durch Konzepte der Hypertextualität bestimmt wird. Zum anderen sollen die "philologischen Kemkompetenzen" - das genaue Lesen und historische Verstehen von literarischen Texten - weiterhin zentrale Bedeutung haben. Es geht mithin darum, ein Modell von HypertextuaJität zu skizzieren, das alle Möglichkeiten einer philologisch orientierten Lektüre von Texten weiterhin zulässt, darüber hinaus jedoch Perspektiven einer sowohl mediengeschichtlich als auch intermedial ausgerichteten Lektüre eröffnet. Die folgenden Ausführungen sind so besehen als eine Art "theoretische Folgekostenabschätzung" zu verstehen, die die Orientierung am Hypertextmodell mit Blick auf eine medienkulturwissenschaftliche Erweiterung des Faches Gennanistik haben könnte. Dabei werden die folgenden drei Aspekte zu berücksichtigen sein.
Geht man davon aus, die Aufgabe der Philologie sei eine – wie auch immer geartete – »historische Textpflege«, die auf die »Ermittlung und Wiederherstellung von Texten« abzielt, dann steht die Aufgabe der Wiederherstellung in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Lesbarmachen und der Bewahrung eines Texts: In welchem Maße darf man in einen überlieferten Text eingreifen, um ihn lesbar zu machen? In welchem Maße muss man einen Text in seiner überlieferten Form bewahren? Die Formulierung ›in welchem Maße‹ macht deutlich, dass es sich um eine Frage der Angemessenheit handelt, deren Antwort zum einen davon abhängt, mit welchen Schwierigkeiten sich die Aufgabe der Wiederherstellung des Textes konfrontiert sieht, zum anderen von der gerade vorherrschenden ›Methodenpolitik‹, die gleichsam als »stilgemäßer Denkzwang« fungiert. Konjektur und Krux markieren dabei – so haben wir einleitend erklärt – zwei komplementäre Positionen, zwischen denen die Methodenpolitiken der Editionsphilologie changieren. Die Konjektur, gefasst als »plausible Vermutungen zur Verbesserung des Textes«, ist eine inferentielle Intervention, um einen lücken- oder fehlerhaften Text wieder herzustellen mit dem Ziel, ihn lesbar und verstehbar zu machen. Die Krux, gefasst als indizierte Nicht-Intervention, bewahrt den Text in seiner Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit – auch auf die Gefahr hin, dass Lesbarkeit und Verstehbarkeit darunter leiden.
Dilettantische Konjekturen
(2009)
»Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt«, schreibt Max Weber in […] »Wissenschaft als Beruf«, »sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.« […] Anstatt zu fragen, wann eine Erkenntnis als »wissenschaftlich qualifiziert« gelten kann […] beschreibt Weber die Einstellung […] des Wissenschaftlers […]: Ein leidenschaftliches Erkenntnisinteresse für seinen Untersuchungsgegenstand haben – ist das nicht genau die Haltung, die den Enthusiasten, den Liebhaber, den Amateur, sprich, den Dilettanten auszeichnet? […] Inwiefern kann Leidenschaft zum Beruf des Wissenschaftlers qualifizieren? […] »Nun ist es aber Tatsache: daß mit noch so viel von solcher Leidenschaft, so echt und tief sie sein mag, das Resultat sich noch lange nicht erzwingen läßt. Freilich ist sie eine Vorbedingung des Entscheidenden: der ›Eingebung‹«. […] Offenbar verwendet Weber die Formulierung ›Eingebung‹ synonym mit dem Begriff ›Einfall‹, dessen Resultat die ›Konjektur‹ ist. Im Anschluss an die beiden Zitate aus Webers Aufsatz stellt sich in meinen Augen nicht nur die Frage, welche Rolle die Leidenschaft für den berufenen Wissenschaftler spielt, sondern auch inwiefern der Umgang mit Konjekturen und Einfällen zugleich den Unterschied zwischen Fachmann und Dilettant markiert. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.
"Hi!" hat einer gesagt, "ist es okay, wenn wir dich duzen? Willst du lieber in Englisch lesen? Gut, bis hierhin bist du vorgedrungen durch das labyrinthische Netzwerk des WWW. War es Mundpropaganda oder ein Link, bist du wahllos oder zielgerichtet durchs WWW gereist? Egal, jetzt bist du hier, und wir freuen uns, dass du nicht sofort weitergesprungen bist". Wen kümmert's? Gleichgültig wie diese Passage zunächst zu werten ist - als paratextuelles Direkt-Marketing für den Internet-Roman Spielzeuglandoder als dessen erzählerischer Anfang - der geduzte Leser fühlt sich unwillkürlich an das Konzept postmoderner Klassiker erinnert. So notiert der Erfolgsautor Flannery, eine Schlüsselfigur aus Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht. "Bin auf den Gedanken gekommen, einen Roman zu schreiben, der nur aus lauter Romananfängen besteht. Der Held könnte ein Leser sein, der ständig beim Lesen unterbrochen wird. (...) Ich könnte das Ganze in der zweiten Person schreiben: du, Leser ..." (Calvino 1983: 237). Im Kontext der Internet-Literatur wird eben jenes Konzept, das Flannery als Romanhandlung entwirft, zum Strukturmerkmal des hypertextuell organisierten Diskurses. Hypertexte legen es darauf an, den Lesefluß durch untereinander vernetzte Verweise, sogenannte "Links", zu unterbrechen und den Leser in einen "Taumel der Möglichkeiten" zu stürzen. Die zentrale Organisationsidee des Hypertextes ist die Vernetzung der Links mit andern Links. Dieses Netz aus Verweisen hat eine zentrifugale Wirkung. Das Link ist die hypertextuelle Aufforderung an den Leser einen rezeptiven Sprung zwischen verschiedenen Fragmenten oder zwischen verschiedenen Ebenen zu vollziehen. Dabei läßt sich der Hypertext, der explizit als unabschließbarer "Text in Bewegung" konzipiert ist, nicht zuendelesen. Man hat einen Text vor sich, der im Grunde nur aus alternativen Textanfängen besteht.
Auf die Frage, was der Begriff Performanz eigentlich bedeutet, geben Sprachphilosophen und Linguisten einerseits, Theaterwissenschaftler, Rezeptionsästhetiker, Ethnologen oder Medienwissenschaftler andererseits sehr verschiedene Antworten. Performanz kann sich ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im "Akt des Schreibens" oder auf die Konstitution von Imaginationen im "Akt des Lesens" beziehen.
"Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge" (Barthes 1986: 94). Dieses Zitat von Roland Barthes aus Die Lust am Text enthält so etwas wie das Programm des Schreibens und Lesens von Hypertexten. Da ist zunächst das Bild des Netzes, genauer, des "Web", das als ständig im Entstehen begriffenes Gewebe gefaßt wird. Auch der Hypertext ist, zumindest der Theorie nach, "ständig im Entstehen begriffen", ein Netz von Verknüpfungen. Die Spinne, die sich in ihrem eigenen Saft auflöst und sich dergestalt als entsubjektivierte Netzerzeugerin zum Verschwinden bringt impliziert die These vom Tod des Autors - Stichwort: "wen kümmert´s wer spinnt?"
"Nichts komischer als eine Theorie des Komischen - wer zu diesen Worten auch nur andeutungsweise mit dem Kopf genickt hat, ist bereits gerichtet", schreibt Robert Gernhardt in Was gibts denn da zu lachen? Ähnliches gilt natürlich auch für eine performative Theorie des Komischen - allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Auf die Feststellung: "Nichts performativer als eine performative Theorie des Komischen", wird man vermutlich vergeblich auf andeutungsweises Kopfnicken warten. Statt dessen verständnisloses Kopfschütteln: Performativ? Muß das sein? Es muß.
Glaubt man Schleiermacher, so ist es längst ausgemacht, daß sich "das Mißverstehen von selbst ergibt", während "das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden" (Schleiermacher ,1990, S. 92 f.). Dementsprechend lautet die Ausgangsfrage der Sprachphilosophie: Was müssen wir wissen und was müssen wir können, um eine Äußerung angemessen zu verstehen? Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, welche Rolle die Peircesche Auffassung vom Interpretieren als Interpretieren sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen - in Form argumentierenden Schlußfolgerns - für die Sprachphilosophie spielen kann.
Die Frage nach der Praxis des Chattens könnte durch dieses Zitat aus der Minima Moralia eine rasche und endgültige Antwort erhalten: Tatsächlich erscheint der Web-Chat dem naiven Betrachter zunächst als Kommunikation zwischen entfremdeten jungen Menschen, die über räumliche Distanzen hinweg Kontakt suchen und sich, anstatt den Hut zu ziehen, mit dem barbarischen "hallöle" der virtuellen Vertraulichkeit begrüßen. (SPOOKY) Na nu, wer ist denn da da????? (Lt. Riker) hallöle SPOOKY (PaRaNoiA) hi spooky (SPOOKY) Hallo Lt. Riker!! (SPOOKY) Hallo para (zit. nach Beißwenger 2000, S. 51).
"Nur die oberflächlichen Eigenschaften dauern", so Oskar Wilde in seinen 'Sätzen und Lehren zum Gebrauch der Jugend': "Des Menschen tieferes Wesen ist bald entlarvt". Ausgehend von der These, dass der Poetik Jelineks ein "Lob der Oberfläche" eingeschrieben ist, möchte ich im folgenden die Rolle der Mode beleuchten, und zwar nicht nur als Oberflächenphänomen, sondern auch als Übergangsphänomen, das an der Schwelle zwischen Oberfläche und Tiefe in Erscheinung tritt.
Will Literarur "Wirklichkeit" darstellen, so sind die "Neuen Medien" ein Aspekt dieser Wirklichkeit, an dem sich die Gegenwartsliteratur abzuarbeiten hat. Die "Gegenwärtigkeit" der Gegenwartsliteratur beweist sich jedoch nicht nur daran, dass sie das Gegenwartsphänomen "Neue Medien" in ihren Darstellungsanspruch integriert, sondern, wie sie die "Neuen Medien" als Rahmenbedingung des Schreibens mit dem Akt literarischen Schreibens zu einer "Schreib-Szene" koppelt.
Stellt man die Frage nach den enzyklopädischen Weltentwürfen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so führt kein Weg am Phänomen des Hypertextes vorbei - hypertextuelle Netzstrukturen, das wissen gerade auch die Lexikologen, erweisen sich für die Darstellung komplexer Wissenszusammenhänge als besonders geeignet. So haben wir heute im Rahmen von Daten-CDs und des World Wide Web die Möglichkeit, auf Enzyklopädien zuzugreifen, die offline wie online als Hypertexte organisiert sind - etwa die Encyclopaedia Britannica.
Züchtung und Aufpfropfung sind Praktiken der Hybridisierung, die nicht nur der Kreuzung und Vermischung dienen, sondern darüber hinaus auch noch dispositive Funktion haben: Der Grundgedanke der Züchtung ist die von Menschen geplante Auslese, um die Genkombination zu verändern. Dabei werden bestimmte Eigenschaften verstärkt, andere werden "herausgemendelt". Das Verfahren der Aufpfropfung impliziert nun eine Beschleunigung dieses Hybridisierungsvorgangs. Die Aufpfropfung ist eine Kultivierungstechnik, die der künstlichen - nicht-sexuellen - Fortpflanzung dient - eine Technik, die seit alters her bekannt ist und im 18. Jahrhundert zu neuer Blüte gelangt, nämlich als Wissensfigur für einen aufgeklärten Umgang mit der Natur.
Die Schnittstelle zwischen Riss und Sprung : vom herausgerissenen Manuskript zum Hypertext-Link
(2005)
Ich möchte im Folgenden versuchen, den Begriff der Schnittstelle mit dem Begriff der Hypertextualität zu koppeln. Meine Zielrichtung wird dabei eine medien- und literaturgeschichtliche zugleich sein. Das heisst: ich möchte im Horizont heutiger, elektronischer Hypertextualität die Frage aufwerfen, in welcher Form die literarischen Quasi-Hypertexte von einst das Problem der Schnittstelle thematisiert und verkörpert haben.
Diskursive Dummheit
(2001)
"Das, und nur das ist der Inhalt unserer Kultur", schreibt Karl Kraus, "die Rapidität, mit der uns die Dummheit in ihren Wirbel zieht."! In diesem Satz steckt mehr, als der hinlänglich bekannte "typisch Kraussche" Kulturpessimismus -er setzt Dummheit und Kultur in ein Verhältnis, das durch die Geschwindigkeit ausgezeichnet ist, mit der die Dummheit von der Kultur Besitz ergreift. Mit anderen Worten: Nicht die Dummheit als solche ist für Kraus das Besondere unserer Kultur, sondern die sich selbst beschleunigende "Ökonomie der Dummheit". Diese Dynamik hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs verlangsamt, sondern verstärkt. Nie wurde in so kurzer Zeit soviel Dummheit verbreitet wie heute.
Intermedialität
(2007)
Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen
(2007)
Der Dilettant ist, so heißt es in den von Schiller und Goethe 1799 gemeinsam verfaßten Fragmenten Über den Dilettantismus, ein „Liebhaber der Künste, der nicht allein betrachten und genießen sondern auch an ihrer Ausübung Teil nehmen will“. Damit ist ein Kernsatz des ‚klassischen Dilettantismus-Konzepts’ angesprochen – ein Konzept, das auf die Differenzierung zwischen ‚Künstler’, ‚Liebhaber’ und ‚Kenner’ abzielt. Auf die Frage, warum die Auseinandersetzung mit dem Dilettanten ausgerechnet um 1800 virulent wird, kann man mit Hans-Rudolf Vaget antworten, weil die Auseinandersetzung mit den Dilettanten immer dann stattfindet, wenn die Kunst Autonomie für sich reklamiert. Dies ist im Klassizismus um 1800 der Fall, aber auch im Ästhetizismus um 1900, wo der fin-de-siècle-Dilettant indes nicht allein durch seine Einstellung zur Kunst, sondern vor allem durch seine Einstellung zum Leben bzw. zur Kultur bestimmt wird. In diesem Sinne bezeichnet Paul Bourget den Dilettantismus als eine bestimmte Geisteshaltung, eine psychologische „disposition de l’esprit“, deren Resultat die Schwächung des Willens sei.