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Es fällt auf, dass eine ganze Reihe von Bekehrungsgeschichten in der frühen koranischen Rezeptionsgeschichte die Dichter und ausgewiesen rhetorisch Versierte zu Protagonisten haben. Kaum eindringlicher konnte die überlegene "Höherentwicklung" des Koran gegenüber der bloßen Poesie vorgeführt werden als durch die plötzliche, widerstandslose conversio derjenigen, auf deren Leistung sich die völkische Gemeinschaft der Araber begründete und denen man, da sie die Kunstsprache der Poesie ('arabīya) in Vollendung beherrschten, gewaltige magische Kräfte zurechnete.
Macht man sich diese aus Perspektive des christlichen Abendlandes überaus erstaunliche ästhethische Qualität und klangbasierte Wirkmacht des islamischen Offenbarungsmediums deutlich, tritt die Differenz zum Wesen der christlichen Offenbarung und zu ihren Basisbegründungen für Wahrheit und Wahrhaftigkeit erst so recht deutlich hervor. Und es stellt sich sehr schnell die für die christliche Verkündung sich nicht unmittelbar aufdrängende Frage nach ihrem Verhältnis zur poetisch-ästhetischen Rede und überhaupt nach dem Zusammenhang zwischen ihrem medialen und sakralen Status.
Im vorliegenden Beitrag soll auf einige Unentscheidbarkeiten und Paradoxien in den religiösen Bezügen bei Jean Paul hingewiesen werden. Sie ergeben sich aus zwei Umständen. Erstens ist in seinen Texten die Grenze zwischen der Bibel im engeren Sinne und weitergefasstem christlichem Gedankengut fließend. Wie die Exzerpthefte aus den Jahren 1778 bis 1781 belegen, rezipiert Jean Paul die Bibel auch auf dem Umweg über theologische Schriften, insbesondere Bibelkommentare. Um eine biblisch inspirierte Metapher in seinem Werk zu deuten, reicht es daher nicht aus, nur die ihr zugrunde liegenden biblischen Prätexte zu identifizieren. Auch der philosophisch-theologische Kontext ihrer Entstehung und Wirkung sowie die Zusammenhänge im Text müssen berücksichtigt werden. Zweitens rezipiert Jean Paul biblische Texte durch das Medium der Literatur: populäre Bücher, Erbauungsliteratur, die Schriften der Pietisten sowie klassische Werke der Weltliteratur (z. B. Miltons Paradise Lost oder Klopstocks Messias). Betrachtet man seine Bibelbezüge genauer, so findet man eine Reihe von Bezügen auf andere literarische Texte, die ihrerseits die Bibel verarbeiten: ein sich vielfach überlagerndes Netz intertextueller und intermedialer Verweise.
Schließlich wird im vorliegenden Beitrag auch nach neuen Bedeutungsdimensionen gefragt, die sich aus dem besonderen Status des Buches "Bibel" im literarischen Kontext ergeben. Auch wenn Jean Paul sich allein aus poetischen Gründen für die Bibel interessiert, so treibt er doch stets ein Spiel mit ihrem Ausnahmecharakter als sakraler Text und als Buch der Bücher. Wie fruchtbar wird Jean Pauls originelles und provokantes Spiel mit der Bibel für die Poetologie? Dass es sich um mehr als ein Spiel handelt, verrät der Dichter an mehreren Orten selbst. So schreibt er im letzten Teil seiner berühmten Vorschule der Ästhetik: "Das Spielen der Poesie kann ihr und uns nur ein Werkzeug, niemals Endzweck sein. [...] Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt. Jedes Spiel ist bloß die sanfte Dämmerung, die von einem überwundenen Ernst zu seinem höhern führt. [...] Es wechsle lange fort und ab, aber endlich erscheint der höchste, der ewige Ernst."
Wenige Themen haben die Germanistik in jüngster Zeit so beschäftigt wie das Verhältnis von Bibel und Literatur. Für die Auseinandersetzung mit den Texten des deutschen Barock – so könnte man meinen – bietet diese Diskussion wenig Innovationspotential, ist auf deren religiöse Verankerung doch stets verwiesen worden: "Barockdichtung", so fasst es Erich Trunz zusammen, "gehört zu einer noch fraglos christlichen Welt: sie weiß sich zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht, denkt den Himmel über sich und die Hölle unter sich. Das gibt ihr große Themen." Aber die in den letzten Jahren zum Thema erschienenen Untersuchungen fragen weniger nach den 'großen Themen', sondern verschieben die Perspektive: Sie problematisieren die Konstituierung des literaturwissenschaftlichen Gegenstandbereichs entlang der Differenzlinie 'ästhetisch vs. religiös', fragen nach der literarischen Faktur biblischer Texte, aber auch danach, wie das Verhältnis von Bibel und Literatur theoretisch gefasst, mit welchem Modell dieser komplexe Austausch umschrieben werden kann.
Vor diesem Hintergrund nun soll ein – dieser verschobenen Perspektive verpflichteter – Blick auf die Sonn- und Feiertagssonette des Andreas Gryphius geworfen werden. Die vorgegebene Kürze des Beitrages fordert dabei eine Fokussierung: Untersucht wird zunächst, wie über literarische Autorschaft vor der Folie des biblischen Textes in einem der Gründungstexte der deutschsprachigen Perikopenlyrik und in zwei programmatischen Texten Gryphius' reflektiert wird. Anschließend soll der Versuch unternommen werden, in konkreter Auseinandersetzung mit dem Sonett vom Sontag des schlummernden Helffers einige Facetten des Bezuges der Gryphius’schen Gedichte auf den biblischen Text und dessen Auslegungstraditionen zu skizzieren.
Einen einzelnen Satz aus der Bibel übersetzen: Dies ist die Aufgabe, an der die Protagonistin von Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan, die Simultandolmetscherin Nadja, scheitert. Der Satz, der auf Italienisch zitiert wird und ins Deutsche übersetzt werden soll, hat es offenbar in sich. Er lautet: "Il miracolo, come sempre, è il risultato della fede e d’una fede audace" – das Wunder ist, wie immer, das Ergebnis des Glaubens und eines kühnen Glaubens. Mit genau diesen Worten übersetzt Nadja den Satz; sie erkennt aber zugleich, dass sie ihn nicht wirklich übersetzen kann. Diese Paradoxie einer Übersetzung des Unübersetzbaren geht mit einer zweiten, intertextuellen Paradoxie einher. Nadja findet nämlich den Satz in einem Buch, das als "Il Vangelo" (das Evangelium) und "bloß die Bibel" bezeichnet wird. Doch der Satz lässt sich dort nicht nachweisen. Die Bachmann-Forschung, einschließlich der Kritischen Ausgabe zum Todesarten-Projekt, bezieht dazu keine Stellung und schenkt so dem Verweis auf die Bibel stillschweigend Glauben. Nur wenige Simultan-Interpretationen fällen das Urteil: Dies ist kein Bibelvers.
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive haben Aleida und Jan Assmann den Prozess der Kanonisierung, die "Stillstellung des Traditionsstroms", seine Fixierung und Bannung zunächst in die Schrift, sodann in die Wörtlichkeit, verschiedentlich als Indiz und Kriterium für einen sich abzeichnenden Übergang von rituellen zu textuellen Prinzipien kultureller Kohärenz erklärt. Dabei ist entscheidend, dass sich aus der doppelten, einerseits die Überlieferung bewahrenden und andererseits die "normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft " verkörpernden Funktion kanonischer Texte eine Spannung ergibt, die als Grundlage für die Etablierung von Auslegungskulturen gelten kann. In dem Maße, in dem das, was nicht vergessen werden darf, das zeitlos Geltende auf die Forderung nach Aktualisierung des Erinnerten für eine stetig sich verändernde Gegenwart trifft, bedürfen kanonische Texte der Interpretation, welche zwischen beidem zu vermitteln vermag. Zugleich gilt aber, dass aufgrund des für die Kanonbildung charakteristischen Vorgangs der "Schließung" von Text, der Abgrenzung des "Kanonischen" vom "Apokryphen", des "Primären" vom "Sekundären ", "alle kommentierenden Eingriffe und Zusätze" in den Bereich jenseits der Kanongrenzen verbannt sind, in den "Metatext: den Kommentar". Der in allen Einzelheiten festgeschriebene und zu bewahrende, zugleich aber vielfach mündlich und schriftlich kommentierte Text der hebräischen Bibel ist für dieses Verhältnis von Statik der kanonischen Schrift und Dynamik der kommentierenden Auslegung ebenso Zeugnis wie das im christlich-patristischen Kontext beobachtbare Wuchern vielsinniger Exegese und Kommentierung bei gleichzeitigem fortgesetztem Bemühen um den Bibeltext in seinem Wortlaut. In beiden Fällen zeigen aber die kontroversen Diskussionen um die Grenzen des Kanons auch, dass dessen Festlegung und Unterscheidung vom Kommentar ein Problem darstellt. Führt man etwa die äußerst komplexe und vieldiskutierte Frage nach dem Gewicht der schriftlichen Gestalt bzw. der mündlichen Überlieferung des Kanons im Judentum ins Feld oder bedenkt man die patristischen Nöte hinsichtlich der Übersetzungsproblematik, dann nimmt sich die skizzierte assmannsche Unterscheidung allzu schematisch aus. In historischen Zusammenhängen, in denen der kanonische Status heiliger Schrift für die Konsolidierung und Aufrechterhaltung der konnektiven Struktur einer Gesellschaft relevant ist, werden zwar kanonische Autorität und der Anspruch auf Ausrichtung an ihrer Maßgeblichkeit sowie die Behauptung der Wahrung von Kanongrenzen in den Folgetexten kontinuierlich rhetorisch reproduziert. Allerdings sind die Strategien auf der Ebene der Textgestaltung den expliziten Ansprüchen zuweilen in einer Weise gegenläufig, welche neben der Unantastbarkeit gerade die Verhandelbarkeit von Kanonizität auf den unterschiedlichsten Stufen ihres Festgeschriebenseins und in verschiedenen historischen Situationen implizieren und die damit auch den Status der Folgetexte zumindest zu einem verhandelbaren machen.
Wie kaum ein anderes Projekt hat die BigS in den vergangenen sechs Jahren nicht nur in der akademisch-theologischen Landschaft, sondern auch in vielen Kirchengemeinden, bei Kirchenleitungen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt. Dabei hat sich an ihr vor allem die Frage entzündet, ob sie als Übersetzung im eigentlichen Sinn oder bestenfalls als interpretierender Kommentar des biblischen Textes zu begreifen sei. Das damit eröffnete Spannungsfeld soll im Folgenden näher beleuchtet werden, ohne dass dieses mit Blick auf den notwendigerweise geringen Umfang des vorliegenden Beitrags umfassend ausgeleuchtet werden könnte. Die vorliegenden Überlegungen zielen vielmehr darauf, zu verdeutlichen, dass jede Übersetzung immer schon Interpretation und dass Texttreue daher nicht mit Wörtlichkeit gleichzusetzen ist.
Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, die inhaltlichen und poetologischen Implikationen der "Messiashoffnung der Annäherung" im dritten Roman von Brochs Schlafwandler-Trilogie mithilfe von Hermann Cohens philosophischer Interpretation des jüdischen Messianismus zu erhellen. Cohens Interpretation des jüdischen Messianismus ist im Zusammenhang seiner philosophischen Bibel-Exegese zu sehen. Die Hebräische Bibel wertet Cohen explizit als Literatur, als "Poesie", deren Urform das nationale Epos sei. In dieser epischen Urform macht Cohen einen historischen Entwicklungsprozess hin zur Vergeistigung, zur Selbstreflexion im Autokommentar, aus. Einen ähnlichen Prozess der Vergeistigung nimmt Cohen auch in der Figuration des Messias bei den Propheten wahr, welche er als "Dichterdenker" als "Epiker[] der weltgeschichtlichen Zukunft", auffasst. Bei den Propheten wandle sich der Messias von einer politisch-nationalen Amtsperson zum Symbol einer sittlichen, geschichtsphilosophischen Idee.
In einem berühmten Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909 hat Max Weber von sich gesagt, er sei "religiös unmusikalisch", eine Wendung, die auf dezente Weise den modernen Agnostizimus zu einer Sache der Veranlagung macht, einer fehlenden Disposition, die nicht zu besitzen, kaum jemanden mit Genugtuung erfüllen dürfte. Unschwer erinnert sich der Leser Webers des unverhohlenen Pathos, mit dem der Soziologe in einigen der viel zitierten Passagen seines Werks, am eindringlichsten vielleicht am Ende der beiden Vorträge über Wissenschaft und Politik als Beruf (1917/1919), die erhabene Größe jener religiösen Erfahrung in Erinnerung ruft, die ihm selbst – und den meisten von uns – abgeht. Die folgenden Überlegungen wenden sich einem anderen Theoretiker oder vielmehr Kritiker der Säkularisierung zu, Hans Blumenberg, und dem, was man seine unerwartete religiöse Musikalität nennen könnte. Sie kommt zum Ausdruck in einem Buch, das den Titel "Matthäuspassion" trägt und in dem es sowohl um das gleichnamige Evangelium geht als auch um seine Aufnahme und Transformation in Johann Sebastian Bachs Passionsoratorium. Ich möchte mit einer kurzen Charakterisierung der augenscheinlichen Widersprüche dieses Buchs beginnen, um dann zu umreißen, was Blumenberg den "Tenor" seiner Theologie nennt. Den Sinn dieses Tenors versuche ich im Anschluss zu erläutern, indem ich Blumenbergs eigenwillige Relektüre der Matthäuspassion weniger als Provokation jener theologischen Ansätze auffasse, gegen die er in dem Buch fortlaufend polemisiert, sondern vielmehr indem ich seine Geschichte von der "Weltverstrickung Gottes" in Bezug setze zum theologischen Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus, der so entscheidend für Blumenbergs Interpretation der Legitimität der Neuzeit sein sollte. Abschließend soll ein Blick geworfen werden auf die Besonderheiten von Bachs Matthäuspassion, die Blumenberg meines Erachtens übersieht und die seiner eigenen Betrachtungsweise teils widersprechen, diese aber auch teils erklären.
Beinahe auf die Seite genau in der Mitte seines Aufsatzes Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Dichtung (1766) kommt Gotthold Ephraim Lessing auf den literarischen Stil der Evangelien zu sprechen. In einer höchst verdichteten Passage vergleicht er die Beschreibung der Leiden Christi mit John Miltons Paradise Lost (1667). Die Art und Weise wie Lessing die beiden bedeutenden Textkorpora ins Verhältnis setzt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen lässt sich die Passage vor dem Hintergrund von Lessings grundsätzlicher Einstellung zu biblischen Texten lesen, wie er sie ausdrücklicher in seinen theologisch orientierten Schriften formuliert. Bedenkt man jedoch den Kontext der Gegenüberstellung innerhalb des Laokoon, d. h. innerhalb einer in erster Linie poetologischen Debatte, so eröffnet sich eine erweiterte Sichtweise. Über den Status der Heiligen Schrift in der christlichen Glaubenspraxis hinaus, ergeben sich Hinweise darauf, wie Lessing das Verhältnis zwischen Poesie und den verschiedenen biblischen Texten einschätzte. Zudem ließe sich aus der genannten Passage auf Lessings Verständnis von der literarischen Verarbeitung biblischer Stoffe sowie letztlich auch darauf schließen, welche Funktion Lessing literarischen Werken in der Glaubensvermittlung zuschreibt.
"Und Gott chillte"? : Überlegungen zu neueren Bibelprojekten aus literaturwissenschaftlicher Sicht
(2012)
Der Graben zwischen den Generationen ist nicht nur durch mangelndes Verständnis, sondern auch durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch die Verweigerung zur Kommunikation unüberwindbar geworden. Dies ist nicht das Ergebnis der jüngsten Shell Jugendstudie, sondern das Szenario, das Birgit Vanderbeke in ihrem 2005 erschienenen Roman Sweet Sixteen entwirft.1 Der Protagonist, ein in die Jahre gekommener Trendforscher, versucht das Verschwinden der Jugendlichen zu ergründen, da es sich um eine neue Subkultur handeln könnte. Bei seiner Recherche stößt er auf eine Internetseite, die von einer Jugendkirche namens "Jesus Freaks" betrieben wird. [...]
Vorbild für die Jesus Freaks in Vanderbekes fiktionalem Text ist die gleichnamige Bewegung, die zu Beginn der 1990er Jahre in Hamburg gegründet wurde. Erklärtes Ziel war und ist es, den christlichen Glauben für Jugendliche – besonders solche am Rand der Gesellschaft – wieder attraktiv und ansprechend zu gestalten. Die jungen Gruppen kehrten sich radikal von der traditionellen, kirchlichen Praxis und Spiritualität ab. Wie in Vanderbekes Roman ging es nicht um eine Reformation bestehender Verhältnisse, sondern darum, eigene religiöse Formen zu finden. Dieses Bestreben umfasste konsequenterweise die kanonischen Texte der Bibel, deren Wortlaut (in der Luther- oder Elberfelder-Übersetzung) als antiquiert und alltagsfern galt. Martin Dreyer, der 1965 geborene Gründer der Jesus Freaks, startete 2004 das Volxbibel-Projekt, dessen sprachlicher Duktus im oben angeführten Zitat ironisch aufgegriffen wird. Anders als bei kommunikativen Übersetzungen der letzten fünfzig Jahre (bspw. Hoffnung für alle oder Gute Nachricht) ging es ihm nicht nur um einen zeitgemäßen und allgemeinverständlichen Sprachstil. Die Volxbibel sollte von Jugendlichen für Jugendliche ›übersetzt‹ werden, was durch ein Open-Source-Modell im Internet verwirklicht wurde.
Im Folgenden geht es um 'Bibel als Litteratur' (von lettera, Druckletter) und 'Literatur als biblischer Text', also um wechselseitige Beziehungen von Letternsatz, Bibeldruck und schöner Literatur. Zugunsten dieser Fokussierung auf ihre typographische Umsetzung bzw. Drucklegung werden sonst zentrale stilistische, rhetorische, textsorten- oder gattungsspezifische Parallelen zwischen biblischen und literarischen Texten vernachlässigt. Unter biblischen Texten sollen nicht nur Vollbibeln, sondern auch Teilausgaben verstanden werden, solange sie auf biblischem Material der jüdisch-christlichen Tradition gründen; literarische Texte seien einfach alle anderen.
Die Armenbibel bedient sich einer typologischen Interpretations- und Aufbautechnik. Dabei handelt es sich, in der bekannten Definition Friedrich Ohlys, um "eine bibelexegetische Methode. Sie besteht in der Zusammenschau zweier Geschehnisse, Einrichtungen, Personen oder Dinge, deren je eines aus dem Alten und dem Neuen Testament gegriffen und zu einem Ereignispaar derart verbunden wird, dass durch die Zuordnung zu einem spiegelnden Sichbeleuchten ein Sinnzusammenhang zwischen den beiden an den Tag gebracht wird." In der Typologie werden also Handlungen, Personen, Dinge oder Ereignisse des Neuen Testaments mit ähnlichen Erscheinungen im Alten Testament systematisch in Beziehung gesetzt – Beziehungen, die aber nach mittelalterlichem Verständnis nicht willkürlich in die Bibel hineininterpretiert sind, sondern zeigen und beweisen, dass Gott in den realen Personen und Ereignissen des Alten Testaments das Neue Testament bereits realiter angekündigt hat. Typologie findet ihrem Selbstverständnis nach, was von Gott bereits angelegt ist in der Zeit, aber nicht offensichtlich erkennbar. Bezugspunkt aller Typologie ist Christus, der als Mittler zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Gott und Mensch im Zentrum von Typologie steht. Das konkrete tertium comparationis eines solchen Bezugs erscheint dabei fast immer als ausgesprochen oberflächliche Ähnlichkeit. Typologie hebt diese Ähnlichkeiten aus ihrer banalen und zufälligen Immanenz heraus, indem sie sie an den Willen Gottes bindet und damit in die Transzendenz verlängert. Typologie ist deshalb auch nicht einfach eine Technik, die einen vorhandenen Text interpretiert, sondern mindestens ebenso eine Technik, einen Text durch aufeinander bezogene Ähnlichkeiten überhaupt erst herzustellen.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
In der folgenden Untersuchung sollen exemplarisch an der Darstellung der biblischen Figur Batsebas die Vorteile einer wechselseitigen Lektüre des Bibeltextes und seiner literarischen Rezeptionen aufgezeigt werden. Romane, die biblische Stoffe aufnehmen – sei es in aktualisierender, kritisierender oder glorifizierender Art – zeigen aus kulturwissenschaftlicher Sicht den noch immer hohen Stellenwert der Bibel. Noch immer geht von biblischen Inhalten, Motiven oder Figuren eine literarische Faszination aus, die in unterschiedlichsten literarischen Rezeptionen ihren Niederschlag findet.
Für eine Beschäftigung mit literarischen Rezeptionen der Erzählung von 'David, Batseba und Urija' ist es meines Erachtens allerdings notwendig, zunächst einmal den Bibeltext zu lesen. Angesicht der vielen Zugänge zur Bibel und der verschiedenen Leseweisen biblischer Texte stellt sich die Frage: Wie kann die Bibel angemessen gelesen werden? Neben der historisch-kritischen Bibelauslegung stehen neuere Ansätze zur Verfügung – so auch die narrative Analyse, die als Grundlage für die folgende exegetische Untersuchung dient. Im Anschluss an diese werden mögliche Rezeptionsanschlüsse benannt, die nachfolgend exemplarisch an drei neueren Romanen verdeutlicht werden. Für die Untersuchung wurden der Roman "Batseba. Aus dem Schatten ins Licht" von James R. Shott, Stefan Heyms "König David Bericht" sowie der Roman "Bathseba" von Torgny Lindgren ausgewählt.
Bereits ein kursorischer Überblick über die Publizistik der letzten zwei Jahrzehnte lässt keinen Zweifel aufkommen: Das öffentliche Interesse an der Religion wächst. Und so streitbar die gesellschaftliche Gesamtdiagnose einer 'Wiederkehr der Religion' auch sein mag, so offenkundig ist die Wiederentdeckung der Religion im wissenschaftlichen Diskurs, in dem zahlreiche Beiträge von Autoren wie Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Richard Rorty, Charles Taylor oder Hilary Putnam beredtes Zeugnis vom jüngsten Aufstieg des Religiösen zu einem der prominentesten Themen theoretischer Debatten ablegen. Diese Konjunktur hat inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht, in der Kult und Opfer, religiöse Sprache und sakrale Praktiken, Märtyrer, Heilige und Propheten wieder zu wichtigen Themen geworden sind, die nicht zuletzt durch die ihnen zugeschriebene 'Andersheit' gegenüber dem Normalbetrieb der Wissenschaft Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit rückt auch ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel, ihre Übersetzung, Rezeption, Kritik und ihr Gebrauch, ihre Stellung in der Textkultur der Gegenwart und Vergangenheit, ihre vielfältigen Beziehungen zu literarischen Texten. Offensichtlich handelt es sich um einen Phänomenbereich, der ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen reicht, und zwar in historischer nicht weniger als in systematischer Hinsicht. Schließlich hat sich die Literatur in Europa unter ständigem Bezug auf und in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Bibel als 'Buch der Bücher' und 'Heiliger Schrift' herausgebildet, hat diese als Vorbild und Orientierung, als Instrument zur Autorisierung des eigenen Geltungsanspruchs, als Buch gewordene Konkurrentin und als Vorläufermodell der Dichtung gleichermaßen in Gebrauch genommen. Und ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird.
Dieser Band führt das Modell der 'Sakramentalen Repräsentation' ein als Werkzeug zur Beschreibung und Untersuchung frühneuzeitlicher Phänomene der Übertragung von sakramentalen Geltungs- und Bedeutungsmustern auf allgemeine kulturelle Phänomene. 'Sakramentale Repräsentation' meint dabei weder die Repräsentation sakramentaler Rituale oder Gegenstände, noch impliziert sie eine bestimmte Definition des Sakraments, etwa in Absetzung von 'sakramentaler Präsenz'. Vielmehr fragen wir, wie in Repräsentationen, Bedeutungsstiftungen und Deutungen der Vormoderne sakramentale Muster herangezogen werden, um einer Sache Geltung, Legitimation, Durchsetzungskraft oder auch so etwas wie poetische oder bildliche Wirksamkeit zu verschaffen.
Der vorliegende Beitrag untersucht die möglichen Auswirkungen der Globalisierung und der Beilegung des Ost-West-Konflikts nach dem "Mauerfall" auf die phantastische Gegenwartsliteratur, insbesondere hinsichtlich der traditionellen Gut-Böse-Dichotomie. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit ein merklicher Komplexitätsanstieg in der Konzeptualisierung der unterschiedlichen Kulturen der Weltgesellschaft seine Spuren in aktuellen Entwicklungstendenzen des phantastischen Genres hinterlassen hat. [...]
So geht es im Folgenden um eine literaturwissenschaftliche Betrachtung der neueren und neuesten literarischen Phantastik, die seit der oben skizzierten Umbruchszeit vielfältige Ausprägungen und Weiterentwicklungen erfahren hat. Während der Prototyp der phantastischen Literatur im 20. Jh., für den J.R.R. Tolkien exemplarisch genannt sei, auf einer deutlichen Dichotomisierung des Guten und des Bösen beruht, sind in den jüngsten phantastischen Romanwerken markante Abweichungen von dem genannten Schema zu beobachten. Die Vermutung liegt nahe, solche neueren Entwicklungstendenzen zu einer Auflösung der traditionellen Gut-Böse-Opposition innerhalb des phantastischen Genres mit den oben skizzierten geopolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen in Verbindung zu bringen. Die angenommene signifikante Verschiebung im Genrekonzept des Phantastischen soll im Folgenden exemplarisch anhand der Metropolen-Romane von Christoph Marzi, einem produktiven Vertreter der deutschsprachigen phantastischen Literatur, nachvollzogen werden. Anschließend werden die Erkenntnisse mit weiteren Texten der zeitgenössischen Phantastik in Verbindung gebracht, um so die Frage beantworten zu können, ob und inwieweit die gewonnenen Ergebnisse verallgemeinerungsfähig sind und eine deutliche gattungsrelevante Veränderung des Umgangs mit der Relation von "Gut" und "Böse" in der neueren Phantastik zu beobachten ist.
Der Beitrag untersucht anhand der Romane "Wie der Soldat das Grammofon repariert" (2006) von Saša Stanišić und "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" (2010) von Jan Faktor die erzählerische Darstellung der jüngsten Geschichte in "Mitteleuropa". Beide Romane dokumentieren wesentliche Phasen vor und nach der Öffnung des "Eisernen Vorhangs": kritische Jahre und Phasen der sozialistischen Tschechoslowakei sowie den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens. Außer der Berücksichtigung der erzählerischen Mittel wird – zumal die Autoren nicht in der Muttersprache, sondern auf Deutsch schreiben – die bedeutende Funktion des literarischen Erzählens für ein funktionierendes "Mitteleuropa" betont.
Schriftsteller im Spagat : zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von Autoren polnischer Herkunft
(2012)
Im Beitrag wird das Schaffen von drei Autoren polnischer Herkunft – Artur Becker, Dariusz Muszer und Leszek Oświęcimski – skizzenhaft präsentiert, die in den späten 1980er Jahren nach Deutschland migrierten. In ihren Romanen und Erzählungen thematisieren sie die Unmöglichkeit der Rückkehr (Becker), die Erfahrung totaler Fremdheit (Muszer) und Dekonstruktion der nationalen Stereotype (Oświęcimski). Der geschärfte Blick auf das Fremde und das Eigene aus der Perspektive der Migranten im (mentalen, kulturellen, künstlerischen) Spagat zwischen Polen und Deutschland sowie ihre erzählerischen Strategien bilden den Gegenstand des Beitrags.
Im vorliegenden Aufsatz geht es um die Frage, inwiefern sich Kategorien postkolonialer Theoriebildung und der Ansatz einer Universalisierung der Holocausterinnerung auf die deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur übertragen lassen und welche Probleme mit diesem Theorietransfer und einem Verlust historischer Spezifizierung vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Geschichte verbunden sind. In einem zweiten Schritt steht die Selbstpositionierung deutsch-jüdischer Autoren im Verhältnis zur Transkulturalität im Vordergrund. Skizziert werden die Position von Vladimir Vertlib, die er in seinen Chamisso-Poetikvorlesungen entfaltet, sowie die literarischen Ansätze von Maxim Biller und Doron Rabinovici.
Melinda Nadj Abonji hat als erste Schweizer Schriftstellerin sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis gewonnen. Der Paradigmenwechsel in Bezug auf einen Umbruch in der bisherigen nationalkulturellen "Meistererzählung", der sich auch in der Schweiz schon länger angekündigt hat, ist damit deutlich eingetreten – und dies, während sich das Land in den letzten Jahren immer mehr vom restlichen Europa abschottet und seine Identität vermehrt in rückwärtsgewandten Kulturwerten sucht. Ausgehend von einer Analyse der narrativen Dramaturgie und des wiederkehrenden Erinnerungsmotivs wird die Verhandlung hybrider Kulturformen in dem Roman untersucht und das mnemografische Feld von "Tauben fliegen auf" – eine Art "dritter Ort" (Bhabha) – beschrieben. Untersucht wird, in welchem Spannungsverhältnis sich Erinnerung und Rekonstruktion zur Konstituierung neuer kultureller und sprachlicher Räume befinden und wie Abgrenzungen und Gegenüberstellungen vollzogen werden, um "Eigenes" oder "Fremdes" zu erkennen oder zu relativieren.
Das Wort "Heimat" ist facettenreich, voller Konnotationen, vor allem aber oft von Missbrauch gezeichnet oder mit Fontane gesprochen: ein "zu weites Feld". Dennoch wird es immer wieder problematisiert und in der Literatur thematisiert. In der heutigen einerseits immer stärker globalisierten, andererseits aber auseinander strebenden und partikularisierenden Welt gewinnt es wieder an Bedeutung, wird jedoch unterschiedlich verstanden, aufgefasst und ausgelegt. Autoren und Autorinnen, die ihre "engste" oder ursprüngliche Heimat verlassen mussten, behandeln das Thema besonders sensibel und zeigen oft eine Auffassung, die man neuerdings mit dem Wort transkulturell bezeichnen kann. Im Beitrag wird anhand der jüngsten Werke von Erica Pedretti und Ilma Rakusa ein Versuch unternommen, paradigmatisch aufzuzeigen, wie sie diesen schillernden Begriff einzufangen versuchen und ihn doch nicht festlegen. Beide Autorinnen haben ein sehr feines Gespür für das Verständnis von Pluralität nicht nur der historischen, sondern vor allem der heutigen Lebenswelten, und ihre Werke haben einen starken Gegenwartsbezug.
In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, welche Bedeutung der Herkunft von Autorinnen und Autoren, die in die deutsche Sprache eingewandert sind, im literaturwissenschaftlichen Diskurs, in Rezensionen ihrer Bücher und in biographischen Darstellungen beigemessen wird. Ich nehme dabei sowohl auf ihre Selbstpositionierungen in Essays und Interviews als auch auf die biographischen Darstellungen im Diskurs über sie und ihre Literatur Bezug. Wie wird der Zusammenhang zwischen den jeweiligen Lebensgeschichten und den Texten wahrgenommen und dargestellt? Welche Bedeutung hat ihre Migrationsbiographie für ihre Position im deutschsprachigen literarischen Feld? Letztlich stellt sich dabei die Frage nach den Möglichkeiten, einen transkulturellen bzw. transnationalen literarischen Raum zu schaffen, für den Mehrfachzugehörigkeiten konstitutiv sind und in dem die Herkunft von AutorInnen keine bestimmende Rolle spielt.
Desafios à tradução do texto satírico : alguns exemplos de "Dritte Walpurgisnacht" de Karl Kraus
(2012)
Último texto de fôlego de Kraus, "Dritte Walpurgisnacht" ("Terceira noite de Valpúrgis") foi a reação do satirista à tomada do poder por Hitler. Do ponto de vista tradutório, oferece grande variedade de problemas, visto que o autor faz um uso exuberante de citações, trocadilhos, aliterações, neologismos e variações de ditos, provérbios, máximas e lugarescomuns. Este artigo apresenta alguns desses problemas e discute possibilidades para sua solução, não sem antes definir uma abordagem teórica.
Dramáticas passagens
(2012)
Rezension zu Krausz, Luis S. Passagens. Literatura judaico-alemã entre gueto e metrópole. São Paulo: EDUSP/FAPESP, 2012. 459p.
Rezension zu Tavares, P. H. M. B. Versões de Freud: breve panorama crítico das traduções de sua obra. Rio de Janeiro, 7Letras, 2011.
"O crime do professor de Matemática", de Clarice Lispector, aborda a necessidade inconsciente de punição advinda do sentimento de culpa, que constitui elemento inexorável da psique humana. O espelhamento do homem em seu animal o conduz à aproximação de uma possível consciência deste transtorno, fato que culmina no irremissível abandono do cão. Com base nos ensaios "O estranho" e "O mal–estar na civilização", de Sigmund Freud, almeja–se entender a origem da dolente identificação entre estes dois personagens narrada no conto, bem como o corolário da cultura, responsável pela tristeza humana com a qual o professor irremediavelmente se coaduna.
O objetivo do texto é fazer uma leitura de elementos conceituais presentes na concepção freudiana sobre a poesia e a literatura, apontando aspectos problemáticos, como também os que se mostram pertinentes para análise do fenômeno estético. Inicialmente, passamos brevemente em revista pontos significativos de comentários críticos às reflexes estéticas freudianas da tradição, passando então a comentar o texto "Der Dichter und das Phantasieren" (1908), em que nos serviremos da comparação com temas e conceitos presents na "Poética" de Aristóteles e na "Kritik der Urteilskraft" de Kant. Na última parte, contrapomos alguns conceitos presentes neste primeiro texto ao artigo "Das Unheimliche" (1919), em que propomos uma leitura que faz contrastar o papel e importância conferidos à dimensão estética em ambos os textos. Toda a trajetória está orientada para demonstrar a necessidade de conceber o estético a partir do entrelaçamento, da identidade e da diferença, entre o âmbito psíquico inconsciente e suas formas de atualização refratadas pela dimensão imagético-imaginária.
Este artigo sobre as relações ambivalentes entre Musil e Freud procede em três etapas. Na primeira, analisamos as intuições psicanalíticas de Musil no seu primeiro romance, "O jovem Törless". Os 'insights' psicológicos do romancista acompanham e antecipam as descobertas clínicas do pai da Psicanálise. A segunda se debruça sobre os trabalhos seminais (Corino, Henninger, entre outros) que veem as reservas de Musil diante de Freud como resistências sintomáticas e evidenciam a determinação inconsciente de sua obra. A terceira expõe outras razões (estéticas e teóricas) para a reserva do artista. Estas não excluem, mas se adicionam às resistências sintomáticas. Musil dispõe de um referencial científico e matemático, filosófico e estético diferente da Psicanálise; ele se manifesta no projeto sui generis das novelas "Uniões" (a segunda obra de Musil após o "Törless").
O objetivo deste texto é analisar a experiência do estranho no romance "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", de Rainer Maria Rilke, através de novas perspectivas de interpretação apoiadas, por exemplo, nas teorias psicanalíticas de Sigmund Freud. Vivendo em uma cidade estrangeira (Paris), com a qual ainda não se identifica, o protagonista do romance, Malte Laurids Brigge, descobre um mundo interior novo através de seu choque com experiências do estranho nesse milieu. A revelação de recordações de sua infância e a projeção de seu ego em leituras de narrativas alheias são seus métodos para buscar e afirmar sua identidade.
Este artigo tem por objetivo investigar a correlação de pensamento entre três importantes nomes da segunda metade do século XIX – Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud e Hugo von Hofmannsthal – que se debruçaram sobre as crises da identidade masculina frente ao retorno do matriarcado. Tendo a Viena fin-de-siècle como cenário, o feminino é apresentado aqui por intermédio de Electra, que no texto homônimo de Hofmannsthal representa não só o fortalecimento como a própria destruição da mulher.
A relação pai-filho é uma das pedras angulares da pesquisa psicanalítica. Este artigo examina tal relação, assim como se apresenta no romance "Zipper und sein Vater" (1928, "Zipper e seu pai"), de Joseph Roth, em um contexto histórico e psicossocial relevante. Traçando um paralelo entre a figural paternal do Imperador Austro-Húngaro, Franz Joseph, e o pai de Arnold Zipper, e valendo-se da experiência pessoal do narrador (e do próprio Roth), o artigo apresenta uma análise da importância da figura e as consequências devastadoras de sua ausência.
O presente artigo objetiva uma discussão sobre o vocabulário fundamental da Metapsicologia freudiana, para além da concepção de um simples e estanque agrupado de termos técnicos. Levando-se também em consideração o fato de que Freud foi um escritor brilhante e um perspicaz explorador dos recursos oferecidos pela língua alemã, é nossa intenção demonstrar certas distorções de seu estilo e vocabulário sofridas após ter passado por traduces internacionalmente influentes para as línguas inglesa e francesa. Logo, com a recente entrada da obra freudiana para o domínio público, esta finalmente passou a ser traduzida diretamente para o português, tornando-se atualmente um desafio fundamental aos tradutores brasileiros de Freud recuperar a vivacidade de suas palavras sem deixar de levar em consideração a acuidade de suas proposições.
Rezension zu: Gumbrecht, Hans Ulrich. Stimmungen Lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. Munique, Carl Hanser Verlag 2011
Este trabalho examina os "Escritos sobre a Música e os Músicos", do compositor alemão Robert Schumann, em especial as resenhas escritas entre 1834 e 1836, com vistas a identificar ecos das principais ideias sobre linguagem e tradução desenvolvidas na Alemanha entre o final do séc. XVIII e o início do séc. XIX. Os eixos escolhidos para construir essa ideia são os eixos do sujeito e do tempo perpassados pela noção de movimento. Do primeiro, destacase a ancoragem vertical, personalíssima, operada no interior do sujeito que transita de um sistema sígnico para outro, que traduz seus pensamentos, ou ainda que empreende a passage de uma língua para outra. Do segundo, tem-se em conta a configuração desse mergulho num produto que desmantela as barreiras do tempo e, de um só golpe, contemporiza o passado e inclui o futuro.
O artigo apresenta uma reflexão teórica, a ser desenvolvida em futuras pesquisas, sobre os aspectos cognitivos da literatura. Considera-se que o texto literário possui uma função cognitiva específica, diversa do pensamento conceitual e abstrato, e oferece ao leitor modelos de ação humana e de percepção do mundo.
Herausforderungen meistern, Krisen überwinden : über Ratgeberliteratur aus narratologischer Sicht
(2012)
Ratgebende Texte sind eine feste Größe im Buchmarkt. Ausweislich des Branchenmonitors des Börsenvereins des deutschen Buchhandels zählte im Jahr 2010 jedes siebte in Deutschland verkaufte Buch zum Marktsegment Ratgeber – im ersten Halbjahr 2011 sogar fast jedes sechste. Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen werden soll, auf welche Art und Weise in diesen weit verbreiteten Texten Ratschläge an den Leser gebracht werden, welche Erzählstrukturen und -strategien auszumachen sind und welche Bedeutung ihnen zukommt, dann ist zunächst festzuhalten, dass Ratgeber aus mehreren Textsorten zusammengesetzt und zumeist nicht dominant erzählerisch angelegt sind – 'erzählerisch' in dem Sinne, dass ein Geschehen vergegenwärtigt wird. Vielmehr werden erzählende mit informativen, argumentativen, essayistischen und beschreibenden Passagen kombiniert. Ratgeberliteratur wird hier als Sammelbezeichnung für die als gedruckte Bücher vorliegenden Ratgeber (gegenüber Ratgebertexten in anderen Medien wie Zeitschriften, Filmen oder Internetforen) verstanden. Der Terminus Ratgeberliteratur zielt also auf eine mediale Spezifikation.
Die Grenze verstanden nicht nur als ein vorübergehender Ort, als physisches Territorium des Übergangs, der Annäherung und Mischung, sondern als ein Ort der Differenz oder „différance“ im Sinne von Derrida, gilt mit besonderer Bedeutung für die schweizerische Schriftstellerin und Fotojournalistin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Tatsächlich überschreitet die Autorin in ihrem nomadischen Unterwegssein reich an Alkohol und Drogen nicht nur geographische Grenzen, sondern auch psychische, in einer Sehnsucht sich in dem Anderen (wieder) zu entdecken; sie überschreitet auch kulturelle Grenzen, indem sie Foto-Berichte durchführt, allein oder begleitet von Freundinnen (besonders Fotografinnen), sowohl im Nahen Osten als auch in den USA und in Europa – ungewöhnliche Reisen, nach /in einer nur femininischen Konstellation. Diese Reisen führen nicht nur zu ihrem literarischen Schreiben tout court,sondern auch zu journalistischen Texten, besonders Foto-Berichten, wo man einen scharfen Ton von politischer und sozialer Kritik finden kann. In diesem Zusammenhang zeigt sich vor allem Europa zwischen den Kriegen als der Ausgangspunkt für die Reisetexte Schwarzenbachs.
Seit seinen Anfängen in den siebziger Jahren durchlief das Kino deutschtürkischer Filmemacher mehrere Entwicklungsphasen, beginnend mit der Phase des Problemfilms und der bevorzugten Darstellung von Opferfiguren in der Fremde. Im Laufe seiner Entwicklung zeigt sich in den neunziger Jahren eine Variante zu dieser Orientierung in Form der komischen Verarbeitung interkultureller Begegnungen. Diese Phase des deutsch-türkischen Kinos steht in enger Verbindung mit der jetzigen Phase der Fusion verschiedener transkultureller Themen und Settings. Kreiste die Handlung in Filmen der ersten Phase überwiegend um das Thema der Migration, so rückt es im Laufe der Zeit entweder in den Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt, oder wird in einigen Fällen nicht mehr berücksichtigt. [...] Das Thema der Homoerotik kommt generell nur in einigen wenigen deutschtürkischen Werken vor. Fatih Akins "Auf der anderen Seite", der 2007 in den Kinos lief, mag das bekannteste Beispiel sein. Darin werden im Rahmen einer lesbischen Liebesgeschichte die Schicksale einer deutschen und einer türkischen Frau verbunden: Im Film geht es um Tod, Liebe sowie um Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Ländern, Generationen, aber auch zwischen Leben und Tod bzw. Jenseits und Diesseits. Das zweite Beispiel stammt vom Schriftsteller und Essayisten Zafer Senoçak. Sein Roman "Der Erottomane. Ein Findlingbuch" ist 1999 erschienen – im gleichen Jahr, in dem Kutlug Atamans "Lola und Bilidikid" im Panorama-Programm der Berlinale lief – und erzählt die Geschichte vom Deutsch-Türken Robert, dessen Tagebuch nach seiner Ermordung gefunden wird, wodurch Schilderungen über seine sadomasochistische und homosexuelle Vergangenheit publik werden. In "Novels of Turkish-German Settlement" konstatiert Tom Cheesman, dass die Aufnahme erotischer Motive die Verlagerung der Diskussion über nationale, ethnische und historische auf sexuelle Kategorien ermöglicht: „Here, [in "Der Erottomane"] as in "Der Mann im Unterhemd", Senoçak uses erotic and pornographic motifs in order to shift the public discourse about identity away from questions of ethnicity, nationhood, and historical memory, toward questions of sexuality.“
Die Fortschritte der Neurowissenschaften in den letzten hundert Jahren ließen auch andere Wissensbereiche nicht unberührt und haben dazu geführt, dass traditionelle Vorstellungen von Identität mehreren Revisionen unterzogen werden mussten. Die Rede vom Gehirn als Grundlage der Individualität hat eine tiefgreifende Blickwinkelverschiebung zur Folge, die sich sodann auch in der philosophischen und literarischen Auseinandersetzung mit der Frage der neurobiologischen Grundlage von Individualität niederschlägt. Mit Blick auf den übergeordneten Titel der Veranstaltung Grenzen überschreiten in der Germanistik liegt hier gar eine zweifache Grenzübertretung vor: zunächst wird die Grenze zwischen zwei verschiedenen Disziplinen, der Literatur und der Neurobiologie, die ganz unterschiedliche Diskurse und damit Sprech- und Arbeitsweisen einschließen, überschritten. Zum zweiten erfolgt eine Grenzüberschreitung von traditionellen Identitätskonzepten, wenn in der Äußerung Ich bin mein Gehirn reduktionistisch konstatiert wird, Identität sei nicht mehr als die Summe einer Verschaltung von Neuronen und ihrer Aktivitäten im menschlichen Gehirn.
Im Kontext der Literatur und Publizistik Österreichs des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ist das Werk des Schriftsteller und Essayisten Robert Müllers zutiefst herausragend, obwohl immer noch nicht zureichend gewürdigt. Seine Essays und kritische Schriften werden langsam von der Kritik entdeckt, aber weder die Originalität seiner reflexiven Methoden, noch die Einzigartigkeit seiner Ideen sind bisher richtig anerkannt worden – eine Tatsache, die, wie ich glaube, das Verständnis des entsprechenden kulturellen Kontextes beeinträchtigt, denn Robert Müller ist genauso singulär wie ein Mann seiner Zeit. Der kritischen Anerkennung Müllers fehlt meiner Ansicht nach das Verständnis der tiefen Einheit seines Werkes, einschließlich der fiktionalen Erzählungen und Romane, die die Kritik bisher immer geleugnet hat, und das Erfassen der Kontinuität und Kohärenz eines breiten Lebens- Schreib-, und Denkprojektes, das sowohl die Lebenshaltung, wie ein ästhetisches, philosophisches, epistemologisches, und nicht zuletzt politisches Programm umfasst. Es ist äußerst schwer, in einem kleinen Beitrag die komplexe Vielseitigkeit und Artikulationen der Werke und Gedanken Müllers zu beschreiben, die am besten im Ganzen als ein äußerst verwickeltes Labyrinth von Beziehungen, die oft mit schwer zu verstehenden Methoden hergestellt werden, verbildlicht werden können. Ich werde trotzdem versuchen, einige Hauptlinien seines Programms zu nennen und dadurch Müller, besonders als Essayisten, in seiner Epoche zu situieren.
"Draw a mark!" (Spencer-Brown 1994, 69), "zeichne" oder "ziehe eine Mark!", wie das deutsche Wort für "Grenze" hieß, bevor im Mittelalter sich ein Wortgrenzen-Übergang bildete und das altslawische bzw. polnische Wort "granica" die Mark ersetzte (vgl. u.a. Breysach et al. 2003). "Draw a mark!", und schon ist der Raum nicht mehr unbegrenzt, grenzenlos. Mit dem ersten Strich, der ersten Linie entstehen zwei Seiten, die Markierung zeichnet eine Unterscheidung. Kulturen entstehen, der Raum wird immer stärker gekerbt – bis der Mensch sich in den Kerbungen verfangen hat und ein Unbehagen in der Kultur erfährt. Aber so weit sind wir noch nicht. Treffen wir auch hier zunächst eine Unterscheidung, und zwar diejenige zwischen fest und flüssig. Im Agricola setzt Tacitus das Wort "limes" dem Wort "ripa" entgegen: Landgrenze, "die aber durch einen Weg gekennzeichnet wurde", versus Flussgrenze (Waldherr 2009, 19f.). Im "Zehntland" Baden-Württemberg meint diese Unterscheidung den UNESCO-Limes auf der einen (nördlichen) Seite des Landes und den "ripa" Rhein auf der anderen (westlichen). Um genau diese flüssige, fließende Grenzschneise zwischen Vogesen und Schwarzwald, den Rhein, soll es im Folgenden gehen. Jahrhundertelang und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hart umkämpft, waren die Verstetigung und Befriedung seiner Übergänge eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit der Entstehung einer Europäischen Union mit einer grenzfreien "Schengen"-Zone.
"Teil der Lösung" ist der jüngste Roman von Ulrich Peltzer, der 1956 in Krefeld, Nordrhein-Westfalen, geboren wurde und seit den 70er Jahren in Berlin lebt, wo er zwischen 1975 und 1982 Philosophie und Psychologie studierte und seither als freier Schriftsteller arbeitet. Sein Werk wurde mit mehreren Preisen, unter ihnen der Berliner Literaturpreis (1996, 2008), der Anna-Seghers-Preis (1997), der Niederrheinische Literaturpreis (2001) und der Heinrich-Böll-Preis (2011), ausgezeichnet. Peltzers Werke beschäftigen sich oft mit dem urbanen Raum, besonders mit Berlin, und der Roman "Teil der Lösung", der im Jahr 2007 erschien und von mehreren Rezensenten für einen der wichtigsten der Saison gehalten wurde, ist keine Ausnahme (vgl. Auer 2009). In diesem Roman, dessen Handlung im Berlin des beginnenden 21. Jahrhunderts spielt, werden unter anderen Themen die Antiglobalisierungsbewegung, der Streit gegen die Verbreitung der Überwachungsformen im Alltag und der Terrorismus diskutiert. Zu all diesen komplexen Motiven finden wir im Roman verschiedene Perspektiven, die sich gegenseitig bestätigen, ergänzen oder revidieren und den Leser von der Komplexität der behandelten Thematik überzeugen. Auch die für den Titel gewählte Anspielung auf den berühmten Satz von Holger Meins, der 1974 behauptete: "Entweder bist du Teil des Problems oder Teil der Lösung" (vgl. z.B. Merkel 2007), lädt zu einer erneuten Lektüre dieser Stellungnahme im Lichte von neuen politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen ein.
Im Rahmen dieser Arbeit werde ich über die fiktive Konstruktion von „Adoleszenz“ im modernen deutschen und portugiesischen Jugendroman anhand der Analyse der Bücher "Crazy" von Benjamin Lebert und "Rafa e as férias de Verão" von Fátima Pombo reflektieren. Es handelt sich um zwei Jugendromane, deren Hauptfiguren zwei Jungen sind, die in der ersten Person ihre intimsten individuellen Erfahrungen in der Interaktion mit sich selbst, mit den anderen und mit ihrer Umwelt erzählen. So machen die beiden Erzählungen uns nicht nur mit einigen stereotypen Verhaltensweisen Jugendlicher, sondern auch mit bestimmten Eigenschaften bekannt, die jeden der beiden Helden individualisieren und die uns zwei Persönlichkeiten in einem Entwicklungsprozess auf der Suche nach der eigenen Identität zeigen. Anhand einer vergleichenden Analyse einiger Darstellungsformen von Adoleszenz in den zwei obengenannten Büchern werde ich hier darüber reflektieren, wie diese zu der Konstruktion einer Adoleszenzidentität beitragen und inwiefern die Identitätskonstruktion von „Adoleszenz“ in Werken aus verschiedenen kulturellen Welten ähnlich oder unterschiedlich sind.
Es ist ein allgemein verbreiteter Gedanke, dass die Zukunft von der Jugend abhängt, dass die jungen Generationen die Verantwortung für den morgigen Tag tragen, und dass es in ihren Händen liegt, eine neue, bessere Welt zu schaffen. Von jungen Menschen wird heutzutage die Bereitschaft zur Suche von Alternativen zu allem bereits Etablierten erwartet sowie Innovation und stetige Geistesregeneration, um mit Schwierigkeiten umzugehen und auf neue Ideen zu kommen. Missachtung alles Konventionellen, Selbstbestimmung, intellektuelle Widerspenstigkeit und die Fähigkeit, als Antriebskraft für Veränderung zu wirken, das sind Eigenschaften, die der Jugend zugeschrieben werden und die ihren Ethos am besten ausdrücken. Im Rahmen der Thematik „Übergänge. Grenzen überschreiten in der Germanistik“ des Internationalen Kongresses Junger Germanisten, schien es mir angemessen und ebenso sehr aktuell, einen Vortrag zu halten, der in erster Linie dieses Bild der Jugend und die mit ihr assoziierte transformatorische Wirkung beleuchten könnte. Aus diesem Grunde stellte sich mir der politische, soziale und kulturelle Hintergrund der Jugendrevolte der Wilden 68er als passend zur Verwirklichung dieses Beitrags dar. [...] 1968 ist das historische Zeitfenster in "Heißer Sommer", der 1974 veröffentlichte Roman des deutschen Autors Uwe Timm und in "Sem Tecto, entre Ruínas" [Ohne Dach, zwischen Ruinen] des portugiesischen Romanschriftstellers Augusto Abelaira, aus dem Jahr 1979. Die erzählte Welt beider Romane, in denen historische Fakten und Fiktion sich vermischen, rekonstruiert den soziopolitischen Kontext der Krise und der Aufruhr der 68er. Durch die in beiden Romanen repräsentierte junge Generation offenbart sich eine weltweite Euphorie, die grenzüberschreitend in Diktaturen sowie in demokratischen Ländern zu spüren ist. Denn selbst die Studenten aus westlichen Demokratien fanden das von den Regierungen verbreitete Bild von Frieden und Wohlstand in ihren Ländern nicht vor.