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August von Platen notiert 1816 nach der Lektüre von John Miltons Paradise Lost (1667) in das Memorandum meines Lebens, dass ihm Milton "[a]m glücklichsten […] in seinen eigenen Erfindungen [erscheint], […] weniger interessant ist es mir, wo er nur die Bibel nacherzählt." Die in Platens Tagebucheintrag zu lesende Kritik an Miltons Epos ist rein-ästhetischer Natur. Die Differenz zwischen 'eigenen Erfindungen' und der Nacherzählung der Bibel betrifft die Heilige Poesie selbst aber freilich tiefgreifender. Hier führt das Spannungsverhältnis zwischen Poiesis und Nacherzählung zu einem komplexen Legitimationsbedürfnis, ob und wieweit das mythische Wort Gottes, von dem die Heilige Schrift zeugt, in der Heiligen Poesie ausgeführt werden darf.
Meiner These zufolge ist das in 'Paradise Lost' zu findende Sujet des Sündenfalls für die Problemstellung der Heiligen Poesie im Allgemeinen exemplarisch. Es fällt auf, dass sich das an der Heiligen Poesie abzulesende Spannungsverhältnis zwischen dem autoritativen Wort Gottes und der poetischen Freiheit strukturanalog im Sündenfall der Genesis widerspiegelt. Denn so, wie die anthropologischen Überlegungen der Genesis und ihre im 18. Jahrhundert frequente Bearbeitung in der Aufklärungsphilosophie den Menschen zwischen Gehorsam und Freiheit situieren, so verortet sich offenbar auch die Heilige Poesie zwischen den Fronten der religiösen Heteronomie und der poetischen Autonomie.
Beinahe auf die Seite genau in der Mitte seines Aufsatzes Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Dichtung (1766) kommt Gotthold Ephraim Lessing auf den literarischen Stil der Evangelien zu sprechen. In einer höchst verdichteten Passage vergleicht er die Beschreibung der Leiden Christi mit John Miltons Paradise Lost (1667). Die Art und Weise wie Lessing die beiden bedeutenden Textkorpora ins Verhältnis setzt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen lässt sich die Passage vor dem Hintergrund von Lessings grundsätzlicher Einstellung zu biblischen Texten lesen, wie er sie ausdrücklicher in seinen theologisch orientierten Schriften formuliert. Bedenkt man jedoch den Kontext der Gegenüberstellung innerhalb des Laokoon, d. h. innerhalb einer in erster Linie poetologischen Debatte, so eröffnet sich eine erweiterte Sichtweise. Über den Status der Heiligen Schrift in der christlichen Glaubenspraxis hinaus, ergeben sich Hinweise darauf, wie Lessing das Verhältnis zwischen Poesie und den verschiedenen biblischen Texten einschätzte. Zudem ließe sich aus der genannten Passage auf Lessings Verständnis von der literarischen Verarbeitung biblischer Stoffe sowie letztlich auch darauf schließen, welche Funktion Lessing literarischen Werken in der Glaubensvermittlung zuschreibt.