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In einem Brief vom 8. Juli 1891 schreibt der junge Hugo von Hofmannsthal an den acht Jahre älteren Richard Beer-Hofmann von seinen Lektüren in Bad Fusch. Darunter findet sich eine ganze Bandbreite internationaler literarischer und philosophischer Werke: von "Gogol" über "Andersen, Immermann, Maupassant" bis hin zu "Schopenhauer". Während die rezeptionsästhetische Aufnahme und Verarbeitung der erstgenannten Autoren bei den Schriftstellern der Wiener Moderne generell eine eher marginale Rolle spielt, ist die frühe Beschäftigung Hofmannsthals mit Schopenhauer freilich keine Einzelerscheinung. Ganz im Gegenteil gehört der Philosoph in der intellektuellen und literarischen Welt des Fin de Siècle zur Allgemeinbildung und ist bereits seit dem literarischen Realismus von vielen Schriftstellern (z.B. Hebbel, Raabe und Fontane) breit rezipiert, zentrale Aspekte seiner Philosophie sind auf vielfältige Weise poetisch produktiv verarbeitet worden.
Robespierre gehört zu den historischen Figuren, die nicht so leicht ad acta gelegt werden können. Das wurde mir wieder bewusst, als ich jüngst auf zwei 2016 bzw. 2017 in Paris erschienene Bücher aufmerksam wurde. Zuerst sprang mir in einer Straßburger Buchhandlung das Buch: "Gertrud Kolmar. Robespierre [Poésies]" in die Augen. Die Herausgeberin und Übersetzerin Sibylle Muller präsentiert dort zweisprachig den 46 Gedichte umfassenden Gedichtzyklus "Robespierre" von Gertrud Kolmar sowie, nur in französischer Übersetzung, Kolmars Essay "Das Bildnis Robespierres". Entstanden sind diese Texte in den Jahren 1933 und 1934, also im zeitlichen Umkreis der Machtergreifung Hitlers. Sibylle Muller verweist in ihrem Nachwort knapp auf das 2016 erschienene Buch des Historikers Jean-Clément Martin - ein renommierter Spezialist für die Geschichte der Französischen Revolution: "Robespierre. La fabrication d'un monstre." Sie erwähnt diesen Historiker deswegen, weil er wie schon Gertrud Kolmar den üblichen Bildern von Robespierre ihre suggestive Dominanz nehmen möchte. Aufschlussreich könnte es sein, dieser möglichen Konvergenz von so unterschiedlichen Texten einmal nachzugehen. Ich möchte also ein Rendezvous zwischen zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, einer bescheidenen deutsch-jüdischen Lyrikerin und einem renommierten französischen Professor der Geschichte, arrangieren. Was Getrud Kolmar betrifft, will ich mich dabei im Wesentlichen auf ihren Essay über Robespierre beschränken und ihren Gedichtzyklus nur kurz ins Auge fassen. Ihr Drama "Cécile Renault" soll ganz bei Seite gelassen werden.
Die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns haben seit jeher bildende Künstler fasziniert, mit über 3000 Illustrationen von Künstlern des In- und Auslandes zählt er zu "den meist illustrierten Autoren der Weltliteratur". Dennoch sind diese Illustrationen bislang kaum aus medienkomparatistischer Sicht untersucht worden. Wie wird die Hoffmann'sche Erzählweise in das bildliche Medium übersetzt? Dieser Frage, die vorliegender Aufsatz sich stellt, ist noch kaum einer nachgegangen. [...] Wer die Illustration als 'Ideenklau' versteht, ignoriert, dass das Bild, als anderes Medium, den Inhalt des Textes verändert, transformiert. Aus diesem Grund wird dieser Aufsatz Klees "Hoffmanneske Märchenscene" und Hoffmanns "Goldenen Topf" aus medienkomparatistischer Sicht vergleichen. Im Gegensatz zu Jürgen Glaesemer, der 1986 schreibt: "Bis heute blieb der Inhalt der Hoffmannesken Szene weitgehend ungeklärt", haben zuvor bereits Jürgen Walter und Elke Riemer den Bezug des Bildes zu Hoffmanns Märchen aus der neueren Zeit erkannt. Bevor Klees Farblithographie kontextualisiert und die Beziehung zwischen Text und Bild unter die Lupe genommen wird, skizziert Pauline Preisler zunächst das Phantastische dieser Erzählung. Denn, wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dieser Aspekt relevant für den Medienwechsel.
Es sprechen viele Argumente dafür, biografische wie werkspezifische, aber auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte, Hofmannsthal im Zusammenhang einer Problematik des Scheiterns zu berücksichtigen. Zum einen hat sich bereits zu seinen Lebzeiten die Frage gestellt, ob sich der Autor nicht nach seinem so vielfach euphorisch wahrgenommenen Frühwerk selbst überlebt habe. Zum anderen finden sich auch bei Hofmannsthal, was kein Kennzeichen nur dieses Autors ist, in den Texten aller Schaffensphasen Figuren, die durch ihr Scheitern Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen. Und zuletzt stellt die Rezeptionsgeschichte seines Werkes die Frage nach der Konkurrenz, nämlich inwiefern Hofmannsthal als ein maßgeblicher Autor der klassischen Moderne seine Reputation hat verteidigen können? Ist er im Anspruch gescheitert, als einer der maßgeblichen Autoren seiner Zeit im Gedächtnis zu bleiben? Insofern wäre Hofmannsthal als ein vielleicht auch unfreiwilliger Experte und als ein raffinierter Regisseur des Scheiterns zu beschreiben, der eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts teilt.
Uma análise de O tambor de Günter Grass : recursos ficcionais para debater sua própria história
(2018)
Busca-se neste artigo analisar os recursos ficcionais utilizados pelo escritor Günter Grass em sua obra literária mais famosa, O tambor, na qual o autor recria, através do protagonista, Oskar Matzerath, sua própria história. Para tanto, o artigo coteja a obra de ficção O tambor com a autobiografia do autor alemão, juntamente com os percalços de sua trajetória pessoal.
Eine zuverlässige Identitätskontrolle ist zu dieser Zeit noch nicht möglich. Man muss dem 33-jährigen plantation-owner glauben, der sich unter selbst gewählter Identität als "CMSealsfield" beim Gouverneur von Louisiana vorstellt, einen Wohnsitz in Louisiana angibt, Leumundszeugnisse präsentiert, sein Vorleben samt Taufnamen Carolus Magnus Postl verschweigt und diese nur in der Unterschrift des "safe conduct pass" (US-Schutzzusage) andeutet. Die administrierenden Herren, Gouverneur Henry Johnson (Louisiana, USA), Albin Eusèbe Michel de Grilleau, Kanzler des französischen Konsulats, und C. N. Morant, Kapitän des amerikanischen Vollschiffs "American", können nicht ahnen, dass sie dem Reisenden im Juni 1826 zu einer amerikanischen Identität mit dem anglophonen Namen Charles Sealsfield (1793-1864) verhelfen und ihn in die nationale 'machinery of identification and integration' einbeziehen. Indem Johnson den Status als 'US-resident' legitimiert, vermittelt er dem politischen Österreichflüchtling und Priester durch Identitätswechsel von Postl zu Sealsfield eine provisorisch gesicherte Existenz.
Dieser Akt ist mit weitreichenden Konsequenzen für Sealsfield verbunden. Er absolviert als 'Amerikaner' Sealsfield die Karriere eines deutschsprachigen 'amerikanischen' Autors von Amerika-Romanen (1833-47) und reüssiert 1844/45 als englischsprachiger 'amerikanischer' Autor unter der Fehlschreibung Seatsfield kurzfristig zum Protagonisten der amerikanischen Nationalliteratur, nachdem 'The Boston Daily Advertiser' am 20. März 1844 in Folge von Theodor Mundts (1808-1861) Urteil aus dem Jahr 18422 ihn als "The Greatest American Author" einer nationalen democratical American literature apostrophiert hat.
Mit Baltasar Gracián vertrauten Walter Benjamin-Lesern fällt sofort auf, dass der letzte und abschließende Abschnitt von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels einen unverkennbar Gracián’schen Titel trägt: "Ponderación mysteriosa". Als fremdartiges und rätselhaftes Bruchstück stehen die spanischen Vokabeln im deutschen Text. Lange Zeit wurden sie übersehen oder in Benjamins Reflexionen subsumiert. Bernd Witte deutet in seinem Kommentar zum Trauerspielbuch die Figur der 'ponderación misteriosa' als "Sinnbild für Benjamins eschatologische Zuversicht: 'Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe niederstürzt, wird von Allegorien eingeholt und wird am Himmel, wird in Gott durch 'Ponderación mysteriosa' festgehalten'". Für Witte verdichtet diese Figur den theologischen Gehalt des Trauerspielbuches, zugleich zeigt sie aber auch die "Fragwürdigkeit seines literarischen Anspruches". Mit diesem Urteil sieht Witte nicht nur Benjamins Theorie des Trauerspiels und der Allegorie als wenig bedeutsam an, sondern erschwert zudem den Zugang zu einem der produktivsten Momente der Rezeptionsgeschichte von Graciáns 'ponderación misteriosa' im 20. Jahrhundert.
Die Germanistikabteilung der Philologischen Fakultät in Kronstadt/Braşov veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens [GGR] (Zweigstelle Kronstadt) und mit dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt zwischen dem 30. März und 01. April 2017 ihre XX. Internationale Tagung zum Thema Luthers Reformation und deren Wirkung auf Sprache, Literatur und Kultur.
Modern Kuramların Postmodern Yansımaları: Okur Odaklı Edebiyat Kuramlarında Okurun Konumlandırılışı
(2017)
20. yüzyılın ikinci yarısından itibaren edebiyat alanında önemli bir paradigma değişikliğinin gerçekleştiği söylenebilir. Bu değişiklik genel olarak edebiyat kuram ve eleştirilerinin o güne kadar ihmal ettiği ancak en başından itibaren edebiyatın en önemli parçası olan okurun yeni bir yönüyle keşfedilmesi ve yeniden tanımlanmasıyla gerçekleşir. Yazar ve onun yazdığı metin karşısında o güne kadar edilgen bir rol biçilen okur, dönemin koşullarının da elverişli olması nedeniyle aşama aşama etken bir role büründürülür. 1970'li yıllardan itibaren ise okurun bu özelliğini ele alan bir dizi yeni bakış açısı ve yaklaşım ortaya çıkar. Özellikle Almanya, Amerika ve Fransa'da ortaya çıkan bu yaklaşımların her birisi beslendikleri felsefi geleneğin etkisi altında farklı bir okur modeli geliştirirler. Bu çalışmada bu farklı okur modellerinden üç tanesi incelenerek okur kavramı ile neyi veya kimi kastettikleri üzerinde durulmuştur. Bu üç farklı yaklaşımın ele alınmasındaki amaç ise, günümüzde edebiyat metnini anlamlandırmada etken bir rol üstlenen okuru tanımlamak üzere kullanılan "postmodern okur" modeline katkılarının olupc olmadığını sorgulamaktır.
Anders als Schiller taugt Goethe, nicht zum literarischen Stichwortgeber der Befreiungskriege. Zu offensichtlich ist seine Bewunderung für Napoleon, zu gering seine Bereitschaft, sich im hohen Alter noch patriotisch zu erhitzen. Schiller konnte sich aufgrund seines unerwarteten Todes im Jahr 1805 nicht mehr selbst zur erwachenden Nationalbegeisterung äußern. Zwar soll ihm der korsische "Eroberer" und "Unterdrücker", den er an keiner Stelle seines Werkes explizit nennt, "durchaus zuwider" gewesen sein, doch ist seine Funktionalisierung für patriotische Zwecke ein postumes Rezeptionsphänomen. Gerade Schillers späte historische Dramen laden zu identifikatorischen Lektüren ein. Das von Christian Jakob Zahn vertonte Reiterlied aus Wallensteins Lager, das die Überwindung der Todesangst zur erhabenen, ich-steigernden Freiheitserfahrung verklärt, erfreut sich bei Soldaten und Theaterbesuchern über Generationen hinweg großer Beliebtheit [...] Die Schiller zugeschriebenen Merkmale bleiben über einen langen Zeitraum stabil und verbinden sich mit den verschiedensten ideologischpolitischen Gehalten. Das Bild des Dichters speist sich dabei sowohl aus der Sphäre weltlichen Heldentums wie der religiösen Verheißung. [...] Die Kanonisierung Schillers zum Nationalhelden wird durch die territoriale Streuung und fragmentierte Überlieferung seiner Lebenszeugnisse kaum gebremst. Vielmehr entsteht das Bedürfnis zur Pflege des materiellen Erbes erst aus der Dynamik der Kultgeschichte. [...] Die Erhebung Schillers zum Garanten militärischer und moralischer Überlegenheit nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offen chauvinistische Züge an. Kritik an den Klassikern erscheint in diesem Zusammenhang als Hochverrat, der das Heil der Nation gefährdet.
Zeitgenossen und Nachfolger Wagners griffen die von ihm selbst akzeptierte Inszenierungsstrategie als nationaler Kulturheros auf. Wagners "außerordentliche Verflechtung mit der deutschen Geschichte" war von ihm selbst beabsichtigt und vom Ehrgeiz bestimmt, "mit seinem Werk an der Nationwerdung der Deutschen im 19. Jahrhundert mitzuwirken. Dies ist ihm in einem Ausmaß gelungen, wie es bei keiner anderen Gestalt der deutschen Kulturgeschichte seit Luther festzustellen ist." Das Wagnersche Werk wie seine Selbstinszenierungen wurzeln sowohl in der europäischen Moderne als auch im spezifisch deutschen kulturell-politischen Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Beide Bereiche verraten allerdings eine gewisse interne Brüchigkeit, wie sie schon Adorno als Wagners Grundmerkmal diagnostiziert hatte. Er konstatierte eine den Wagnerschen künstlerisch-theatralischen und politisch-selbstrepräsentativen Gesten inhärente Tendenz zur Selbstde(kon)struktion. Nachfolgend wird diese Brüchigkeit analysiert, die sich in die Produktionsbedingungen seiner als heroische Kulturtaten konstruierten Werke eingeschrieben hat.
Vom Schriftexegeten, Kirchenlehrer und wahren Propheten respektive Apostel im 16. und 17. Jahrhundert, der mit Gotteshilfe Übermenschliches geleistet habe, über den Befreier der Vernunft und des Gewissens in der Aufklärung bis hin zum Nationalhelden, Heroen der deutschen Kultur und Vorbild bürgerlicher Lebensführung im 19. Jahrhundert - dies sind nur wenige Haupttransformationen, denen Luther im Laufe der Geschichte unterworfen wurde und an deren Vollzug sowie Tradierung die bildende Kunst entscheidend beteiligt war. Die Tatsache, dass sich jede Epoche, ja jede Generation "ihren eigenen Luther schuf", wurde zusammen mit der Heterogenität dieser zeitgebundenen Konstrukte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als ein gravierendes Forschungsproblem erkannt, das den deutschen Theologen und Kirchenhistoriker Heinrich Böhmer 1906 dazu veranlasste, ernüchtert festzustellen, dass es "so viele Luthers gibt, als es Lutherbücher gibt". In seiner herausragenden Studie zu Lucas Cranachs Bildnissen des Reformators von 1984 zeigte jedoch der Kunsthistoriker Martin Warnke, dass es bereits zu Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tod des Wittenberger Theologen 1546 vor allem so viele Luthers gab, als es Lutherbilder gab. Cranach, der Hofmaler des sächsischen Kurfürsten, schuf mit den auffällig in ihrer Ikonografie variierenden und für die breite Öffentlichkeit bestimmten druckgraphischen Portraits ein wirkmächtiges "Image" des Reformators, das zum fundamentalen Bestandteil der protestantischen Publikationspolitik wurde und dabei zugleich gerade durch seine Mannigfaltigkeit eine mediale Angriffsfläche für das katholische Lager bot. Die Werke Cranachs, in denen das offizielle Bildnis des Theologen gleichsam generiert und autorisiert wurde, weisen differenzierte künstlerische Strategien der Sakralisierung und Heroisierung auf, welche von der Mehrzahl der etwa fünfhundert zeitgenössischen (Rollen-)Portraits Luthers kontinuierlich rezipiert und innovativ uminterpretiert wurden. Sie feiern den Wittenberger Bibelprofessor nicht nur als omnipräsenten und omnipotenten Gottesmann, sondern verklären ihn zur universellen Verkörperung der Reformation, zum personalisierten Sinnbild der neuen Theologie. Der Genese, den Facetten sowie der zeitgenössischen Rezeption dieses Phänomens in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts möchte der vorliegende Text anhand der exemplarischen Analyse ausgewählter Bildnisse des Reformators nachgehen.
Der junge Lukács und Goethe
(2017)
Ulisse Dogà wendet sich dem Stellenwert Goethes im Frühwerk von Georg Lukács zu und widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, die ein konsequentes Interesse von Lukács an Goethe erst mit der marxistischen Phase seines Denkens einsetzen lässt. Entgegen dieser 'paulinischen' Bekehrungsfigur weist er Goethe als problematischen und ambivalenten, durchaus aber zentralen Referenzautor bereits in Lukács' Schriften zum Drama, in der Aufsatzsammlung "Die Seele und die Formen" (1909) und in der bekannten "Theorie des Romans" (1920) aus. Anhand seiner Goethe-Lektüren zeige sich auch die verborgene Kontinuität von Lukács' Denken. Eine Identität von Subjekt und Objekt, die beim marxistischen Lukács die proletarische Revolution herzustellen habe, bilde nämlich schon im Frühwerk den Hintergrund, vor dem Goethe analysiert und beurteilt werde. Seine Überlegungen zu Goethe lasse Lukács systematisch in eine geschichtsphilosophische Reflexion formästhetischer Fragen ein. Betrachte er das Goethe'sche Drama als 'unfertig', da es "das Verhältnis von Held und Schicksal ungeklärt" lasse und die Diskrepanz zwischen Individuum und Geschichte die dramatische Form in lyrische und epische Bestandteile zerlege, so habe Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als einen Kompromiss zwischen dem Idealismus des "Don Quichotte" und der Desillusionsromantik der "Éducation sentimentale" angelegt. Mittels der Ironie komme es hier zu einer schwierigen Versöhnung von Ich und Welt, die die zerrissene Form des Dramas im Roman heile und die Lukács sogar einen zeitweiligen Ausweg aus seiner Negation der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt habe. Dies verrate auch sein Interesse an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er insgesamt als gelungene Lösung und als Überwindungsversuch insbesondere kantischer Dualismen betrachte. Dauerhaft befriedigen konnten Goethes vermeintliche Apotheosen von organischer Einheit und Erfüllung Lukács in Dogàs Augen gleichwohl nicht. Da diese dem Bereich der Kunst verhaftet geblieben seien, habe die Ästhetik "den Stab der Utopie" schließlich an die (marxistische) Politik übergeben müssen.
Der Beitrag Alexander Honolds beschäftigt sich mit der Funktionalisierung Goethes im Rahmen der literarischen Produktion um 1900. Am Beispiel Thomas Manns und partiell auch Hugo von Hofmannsthals führt er vor, inwiefern eine "Goethe-Imago" in ihren nach der Jahrhundertwende entstandenen Werken eine permanente poetologische Reflexion und eine narrative Entfaltung der "Instanz des Autors als solcher" in Gang gesetzt habe. Dabei sei es die seit dem späten 19. Jahrhundert kurrente Diskursfigur des 'Nationaldichters' und die Behauptung einer von Goethe einmalig vollzogenen Einheit von Leben und Werk, die seine Attraktivität auch für Thomas Mann fundierten. Dieser unternehme aber keineswegs den Versuch, solche Vorstellungen zu aktualisieren. Im Gegenteil müsse seine Orientierung an Goethe im Kontext "krisenhafter Begründungsversuche einer kanonfähigen, legitimierten Autorschaft" gesehen werden, die Goethe auf eine "Habitus-stiftende Funktion" festlegten. Nicht nur die seine frühen Novellen durchziehende Polarität von Leben und Kunst, auch und v. a. die Polarität von Dichtung und Literatur habe Mann wesentlich über die Rückbesinnung auf Goethe entworfen und sie konsequent in die Absicht einer "Modernisierung des Dichterbildes zur Schriftstellerinstanz" integriert. Honold weist dies vornehmlich am "Tod in Venedig" (1911) nach. Mit und neben motivischen Anspielungen wie der 'italienischen' Reise und der späten Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow seien es v. a. Figurationen der Autorschaft, welche die Novelle in Anlehnung an Goethe konsequent ausspiele. Sei Goethe in Italien etwa immer wieder auf die Diskrepanz zwischen antiker und moderner Kunst aufmerksam geworden, so setze die Mann'sche Erzählinstanz ihren Autor-Protagonisten wie sich selbst zeitweilig einer "antikisierenden Infektion" aus. Diesen "gespielten Verlust der erzählerischen Contenance" betrachtet Honold als Ausdruck einer Goethe-Imago, mit der sich "die moderne Autorschaft ihrem Souveränitätsproblem stellt".
Inwiefern Goethe prominenten geisteswissenschaftlichen Strömungen und Schulen des frühen 20. Jahrhunderts über massive methodische Bedrängnisse hinweghelfen konnte oder wenigstens sollte, zeigt der Beitrag von Harun Maye, der die Figur des 'Dämonischen' bei Friedrich Gundolf und Oswald Spengler unter die Lupe nimmt. Zwar erfülle das Dämonische als "Mittlerfigur zwischen Immanenz und Transzendenz" bereits bei Goethe selbst die Funktion, historische und biographische Entwicklungsprozesse zu "plausibilisieren". Von Geistesgeschichte und Kulturmorphologie werde das Dämonische als rhetorischer wie epistemologischer "Joker" allerdings dann zum Einsatz gebracht, "wenn ein geschichtlicher oder begrifflicher Übergang, der kausal kaum zu bewältigen ist, dennoch hergestellt werden muss." In Gundolfs Goethe-Monographie (1916) weist Maye dies im Umfeld der zentralen Konzeption der 'Gestalt' an den Brüchen zwischen organologischer und geometrischer Metaphorik nach, die das Dämonische gleichsam kitte, indem es äußere Zufälle in der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge als 'Schicksal' erscheinen lasse. Auf diese Art werde das Dämonische indes weniger als ein Prinzip der dargestellten Geschichte denn als ein Prinzip der geistesgeschichtlichen Darstellung selbst erkennbar. Auch Spengler setze das Dämonische in "Der Untergang des Abendlandes" (1918−1922) genau dort ein, wo kausallogische Probleme seiner Geschichtsmorphologie aufbrechen. Dies zeige bereits die Uneinheitlichkeit seines Kulturbegriffs, die darin zum Ausdruck komme, dass Spengler 'Kultur' einerseits als organischen Prozess, er sie andererseits - v. a. im Kontext des entscheidenden Übergangs von 'Kultur' in 'Zivilisation' - aber auch als eine Phase innerhalb dieses Prozesses ausweise. So sehr folglich auch Spengler auf das Dämonische angewiesen bleibe, um eigene "Theorieprobleme" lösen zu können, so wenig lasse sich doch übersehen, dass das Dämonische exakt jene Paradoxien und Zirkelschlüsse offenlege, über die es ursprünglich hinwegtäuschen sollte. Es sei nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen dem 'Geist' und den 'Geistern' kausallogischer Brüche, die das Dämonische im geisteswissenschaftlichen Diskurs um 1900 sowohl zementiere als auch zum Einsturz bringe.
Vorbild, Beispiel und Ideal : zur Bedeutung Goethes für Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens
(2017)
Johannes Steizinger untersucht unter drei Leitaspekten die Bedeutung Goethes für die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys. Goethe stelle das Vorbild für Diltheys Weltanschauung dar; er diene ihm als Beispiel für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft; und schließlich steige die vielfach beschworene Synthese von Goethes Leben und Werk für Dilthey zum Ideal von Dichtung als einer "Steigerungsform des Lebens" selbst auf. Goethe bilde folglich nicht nur einen zentralen Gegenstand in der Entwicklung von Diltheys Ästhetik und Poetik, wie sie etwa in den unterschiedlichen Fassungen von "Ueber die Einbildungskraft der Dichter" (ab 1877) greifbar wird. Darüber hinaus beanspruche er Goethe konsequent als Lehrmeister in wesentlichen methodologischen Fragen, ja er verpflichte ihn geradezu auf eine Beglaubigungsinstanz der eigenen Philosophie, wenn er in seiner Baseler Antrittsvorlesung programmatisch festhält: "So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun." Die methodische Bedeutung Goethes für Dilthey zeige sich in erster Linie an Phänomenen wie der Selbsterforschung und dem Selbstzeugnis. Es sei in letzter Instanz der eigene Lebensbegriff, den Dilthey bereits bei Goethe systematisch vorgeprägt sieht. So lasse sich "die Relativität alles Geschichtlichen" mit Goethe als Grundtendenz an das 'Leben' selbst zurückspielen und depotenzieren; so lasse sich mit Goethe das Denken als "Ausdruck des Lebens" und nicht als dessen Widerpart begreifen; und so sei das genetische Naturverständnis Goethes wegweisend für Diltheys typologische Weltanschauungslehre. Der zentrale Stellenwert der Einbildungskraft und die 'schöpferische' Opposition, die sie zu den "pragmatischen Erfordernissen der Erfahrungswelt" unterhalte, erlaube es Dilthey sogar, die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Rekurs auf Goethe vorzunehmen. Die Hoffnung auf eine für Goethe symptomatische Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen 'Erlebnis' und 'Ausdruck' - wie sie im Kompositum des 'Erlebnisausdrucks' manifest werde - untersucht Steizinger im Sinne Diltheys abschließend als "Ausgangspunkt jeder erkenntnistheoretischen Reflexion".
Daniel Weidner kann am Beispiel der Goethe-Studie Georg Simmels (1913) nachweisen, dass der epistemologische Rückgriff auf Goethe die Geistes- und Kulturwissenschaften auch produktiv herauszufordern vermag. Anders als Dilthey und anders v. a. als Gundolf oder Spengler versuche Simmel theoretische Probleme oder Begründungsnöte des eigenen Diskurses anhand Goethes nämlich nicht zu verschleiern oder stillzustellen, vielmehr werfe er solche Probleme in seiner lebensphilosophisch wie kulturtheoretisch interessierten Monographie überhaupt erst systematisch auf. Zwar entstehe die große Faszination Goethes auch für Simmel zunächst durchaus aus einem klassischen Einheitsbegehren. Das Versprechen einer Vereinigung 'absolut' scheinender Gegensätze in der Figur Goethes führe Simmel aber nicht in die Sackgasse einer Monumentalisierung, sondern in eine "Art heiße Zone", in der "verschiedene Oppositionen und Begrifflichkeiten" verdichtet, reflektiert und permanent neu justiert werden müssten. Weidner zeigt dies v. a. anhand der drei für die zeitgenössische Kulturwissenschaft zentralen Konzepte von 'Individuum', 'Wert' und 'Leben'. Am Beispiel der Wert-Kategorie etwa stoße Simmel immer wieder auf das Problem, dass Werte zwar relativ seien, dass sie aber immer auch dazu neigten, sich in neue Endzwecke zu verwandeln. Und die Relation von Leben und Kunst gebe in Simmels Umkehrungen und in einer an Goethe selbst zurückgespielten Dialektik den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Relationen als solcher frei. Es sei in letzter Instanz die Einsicht in die "Übergängigkeit zwischen verschiedenen Werten oder Wertgebieten", die Simmel als Goethes größte Leistung herausstelle. Zu fragen wäre, ob die von Simmel am Beispiel Goethes kategorisch aufgeworfenen Probleme der Letztbegründung, der Relationalität sowie der konsequenten Reflexion des Verhältnisses von Phänomen und Theorie sich nicht auch für die heutige Kulturwissenschaft nach wie vor stellen.
Dorothee Gelhard untersucht primär die methodische Bedeutung, die Goethe im Œuvre Ernst Cassirers zukommt. Genau wie Dilthey ist Cassirer das Beispiel eines Autors, der zeit seines Lebens sowohl über Goethe - nicht weniger als 23 seiner Arbeiten führen dessen Namen im Titel - als auch mit Goethe philosophiert hat. Goethe unterhalte für Cassirer den Status eines "Befreiers" aus jeder nationalistischen Enge und er verkörpere das Prinzip einer Einheit von Theorie und Praxis sowie von Leben und Werk. In erster Linie sei jedoch Cassirers Formbegriff, wie er in seinem von 1923 bis 1929 erschienenen Hauptwerk "Philosophie der symbolischen Formen" entwickelt wurde, unter dem direkten Rückgriff auf Goethe erfolgt. Genau wie dieser begreife Cassirer die Form nämlich nicht als ein feststehendes statisches, sondern als ein dynamisches historisches Phänomen. Auch übertrage er hier zentrale Parameter aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften auf die Bereiche des Mythos, der Sprache, der Kunst, der Religion und der Wissenschaft. Dies habe v. a. Konsequenzen für den Entwurf der spezifischen Prozesshaftigkeit dieser Größen, den Cassirer wiederum maßgeblich Goethe verdanke. Mit Goethe teile er die Überzeugung, dass erst ihre zeitliche und geschichtliche Veränderbarkeit eine Identität der Form zu gewährleisten vermag.
Nicolas Berg wirft einen Blick auf die intensive und facettenreiche Goethe-Verehrung deutsch-jüdischer Milieus um 1900. Mit Goethe habe sich im deutschen Judentum grundsätzlich die Hoffnung auf eine Anverwandlung "universeller Werte der Kultur" verbunden, und die Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk sei aus diesem Grund weder mit bloßer "Klassikerbeflissenheit" noch mit gängigem "Kulturnationalismus" zu verwechseln. Dies erkenne man nicht zuletzt daran, dass jüdische Spielarten der Goethe-Aneignung eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe keineswegs ausgeschlossen hätten. Berg erinnert an die Fülle philologischer, philosophischer wie populärwissenschaftlicher Goethe-Arbeiten von jüdischen Autoren. Von besonderer Attraktivität sei dabei oft der Goethe'sche Bildungsgedanke gewesen, da dieser die Überwindung "beruflicher Barrieren" wenigstens im Imaginären zugelassen habe. Das Bedürfnis nach einem Ausweis deutsch-jüdischer Affinitäten zeige sich darüber hinaus an der Behauptung einer inneren Verwandtschaft v. a. zwischen Spinoza und Goethe, die spätestens um 1900 zum Topos aufsteige. Der Blick auf die gesellschaftspolitischen Realitäten der Zeit drohe freilich, die gesamte Konstellation als traurige "Phantasmagorie" offenzulegen.
Claude Haas untersucht anhand der einflussreichen Goethe-Monographie Friedrich Gundolfs (1916) die wichtigsten Eigenarten und Funktionen eines dezidiert heroischen Goethe-Kults seit 1900, die in verdeckter Form jahrzehntelang fortwirkten. Haas' Ausgangspunkt bildet eine seinerzeit ungemein kontrovers diskutierte Rede, die Karl Jaspers 1947 im Rahmen der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt hielt. Diese entwarf das Idealbild einer Goethe-Aneignung, die den Klassiker ganz auf den privaten Bereich und auf die betont bescheidenen Zwecke der "Erholung" und der "Ermunterung" festzulegen versuchte. Während Jaspers seine Überlegungen als endgültigen Bruch mit einem vermeintlich gemeinschaftlich orientierten "Goethe-Kultus" ausweist, macht Haas geltend, dass ein heroischer Goethe-Kult Gundolf'scher Prägung auf der Ebene seiner Adressierung immer schon zutiefst privatistisch orientiert gewesen sei. Dies lasse sich an der Grundtendenz von Gundolfs Studie ablesen, die über die Darstellung von Goethes Leben und Werk immanent stets auch Regeln und Ziele des eigenen Goethe-Kults abhandle. Dabei richte sich Gundolf jedoch nicht nur an den Einzelnen, sondern an den mithilfe Goethes überhaupt erst "Zu-Vereinzelnden". Indem Gundolf das 'Erlebnis' Goethes einerseits gegen die bürgerliche Moderne in Stellung bringe, indem sein Goethe-Kult andererseits aber sozial wie politisch folgenlos bleiben müsse, stellten Freizeit, Unterhaltung und 'Erholung' seinen heimlichen Fluchtpunkt dar. Unter der Hand führe bereits Gundolf den idealen Goethe-Anhänger in ein Refugium, in dem er sich mit Goethe zerstreue. Haas weist dies abschließend an dem von Gundolf konstatierten Verfall von Goethes Spätwerk nach. Gundolfs Verriss von Faust II als Unterhaltungsliteratur führt er darauf zurück, dass der Autor sich hier mit den uneingestandenen Aporien und Paradoxien seines eigenen Goethe-Kults konfrontiert gesehen habe.
Stefan Willer analysiert die zahlreichen um 1900 kursierenden Pathologien und Pathographien 'großer Männer', die Goethe oft als privilegiertes Fallbeispiel bemühen. Die diese Schriften kennzeichnende Mixtur aus "biographischem Interesse", "vitalistischer Weltanschauung" und "metaphysischer Überhöhung" betrachtet Willer als typisch für eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts prosperierende 'lebenswissenschaftliche' Goethe-Rezeption, die Goethe allerdings nicht degradiere, sondern die in der Regel sogar zu einer "umso emphatischeren Aufwertung" seiner "künstlerischen Lebensleistung" führe und Goethe auf ihre Art anschlussfähig für das neue Jahrhundert mache. Während insbesondere Schiller vom pathologischen Diskurs als ein "heroischer" (und rein biologisch Kranker) kanonisiert worden sei, schlage dieser Goethe auf die 'nervöse', 'innerliche' und partiell auch 'dekadente' Seite der Modernität. Im Zentrum von Willers Untersuchung steht die Studie "Ueber das Pathologische bei Goethe", die der Psychiater Paul J. Möbius 1898 vorgelegt hat. Neben dem "diagnostisch-lesenden Blick" und der "symptomalen Lektüre", die sowohl Goethe'sche Figuren wie Werther oder Gretchen als auch bedeutende Lebensstationen des Autors pathologisch einordnen, gilt Willers besonderes Interesse der Partizipation dieser Studie an den wichtigsten medizinischen Diskursen ihrer Zeit. Die Untersuchung verrate den Einfluss einer bereits von Cesare Lombroso wissenschaftlich behaupteten Affinität von Genie und Wahnsinn ebenso wie den der Entartungs-Theorie Max Nordaus. Die seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Verbindung zwischen Pathologie und Degenerationsdiskurs appliziere Möbius jedoch allenfalls zaghaft auf Goethe. Stattdessen unterlege er die Goethe'sche Pathologie einer Entwicklung, die sich in Sieben-Jahres-Zyklen manifestiert habe. Willer flankiert seine Möbius-Lektüre systematisch mit anderen Goethe-Pathographien jenseits der Psychiatrie bis in den Nationalsozialismus hinein und er konfrontiert Möbius abschließend mit prominenten psychoanalytischen Goethe-Lektüren. All diesen Bemühungen sei gemeinsam, dass sie Goethe als Patienten betrachteten. Gemeinsam sei ihnen aber auch, dass die Ärzte als von Goethe permanent 'Affizierte' ihrerseits "in die Nähe des Patienten-Status" zu geraten drohten.
Jürgen Oelkers wirft einen dezidiert kritischen Blick auf den Stellenwert Goethes innerhalb der Pädagogik der Lebensreformbewegung. Am Beispiel insbesondere Paul Geheebs, dem Gründer der Odenwaldschule, und am Beispiel auch seines späteren Nachfolgers Gerold Becker führt Oelkers vor, dass die emphatische Berufung auf Goethe kaum mehr als eine "bildungsbürgerliche Leerformel" und eine Marketingstrategie des betreffenden Privatschul- und Internatswesens dargestellt habe. Die an Goethe vermeintlich anschließende Beschwörung einer "pädagogischen Provinz" habe sich als bloße Metapher schnell "verselbständigt". Auch seien die Abschottung gegen die Zivilisation und die gesellschaftsemanzipatorischen Versprechen der Pädagogik eines Geheeb oder Wyneken eher Rousseau, Pestalozzi und Fichte als dem notorisch ich-zentrierten Goethe verpflichtet, der seinerseits vor den "großspurigen Verheißungen" der berüchtigten Pestalozzi'schen Methode bereits gewarnt hatte. Aber auch diese Filiationen lässt Oelkers eher für das Selbstverständnis als für die erzieherische Praxis von Jugend- und Lebensreformbewegung gelten, die er aufgrund ihrer pädagogischen Misserfolge und aufgrund unzähliger Fälle sexuellen Missbrauchs vollständig diskreditiert sieht. Anhand der Todesanzeige Gerold Beckers legt er abschließend offen, dass ein Gedicht-Zitat aus den "Zahmen Xenien" hier die Funktion erfülle, Beckers - wie im Übrigen auch Hartmut von Hentigs - Verleugnung eigenen schuldvollen Verhaltens wiederum mithilfe Goethes zu legitimieren.
Alexander Schwieren untersucht die Bedeutung Goethes für die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Gerontologie. Zwar habe deren eigentlicher Gründungsvater Hans Thomae seine Disziplin ab den 1960er Jahren auf eine Wissenschaftsanmutung verpflichtet, die auf literarische und künstlerische Bezugnahmen zusehends verzichten musste, doch wirke die zentrale Rolle, die v. a. Goethes Alterswerk in der Vorgeschichte der Gerontologie gespielt habe, bis heute nach. So lasse sich in den Schriften Eduard Sprangers - vermittelt wesentlich über Dilthey - der Versuch beobachten, den späten Goethe unter entwicklungspsychologischem (und nicht etwa unter biologischem) Gesichtspunkt als einen Autor auszuweisen, der an seiner eigenen Vollendung im Alter gescheitert sei. Spranger weist dies an den Perspektiv- und Standortwechseln insbesondere von Wilhelm Meisters Wanderjahre nach, die in den Augen Schwierens wichtige Erkenntnisse der Narratologie vorwegnehmen, die Spranger selbst jedoch konsequent als entwicklungsbedingte Kompositionsschwäche begreift. Georg Simmels bekannte Gegenposition, die kategorische ästhetische Aufwertung des Goethe'schen Alterswerks, festige ebenfalls einen Diskurs, der das Alter als Entwicklungsstadium eigenen Rechts betrachte. Die Divergenz zwischen biologischer und psychologischer 'Lebenskurve', wie sie etwa in Charlotte Bühlers Unterscheidung zwischen 'Verenden' und 'Vollenden' manifest werde und wie sie auch Erich Rothackers Überlegungen zum Alter grundiere, habe die Gerontologie anfangs bewusst, später oft unbewusst oder gar uneingestanden unter dem Rückgriff auf ihre Lektüre des späten Goethe formuliert. V. a. die Vorstellung, dass das Alter ›scheitern‹ könne und dass es eine genuine 'Aufgabe' darstelle, wäre Schwieren zufolge ohne die gerontologische Beschäftigung mit Goethes Spätwerk in den 1920er und 30er Jahren kaum denkbar gewesen.
Am 28. August 1902 trifft Rainer Maria Rilke in Paris ein. Anlass der Reise war der Auftrag des Kunsthistorikers Richard Muther, eine Monographie über Auguste Rodin, den bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart, zu schreiben. Am 1. September ist Rilke nach einer zweitägigen tour de force durch die wichtigsten Pariser Museen und Kirchen zum ersten Mal bei Rodin. Regelmäßige Besuche in Meudon und in Rodins Stadtatelier bestimmen von da an das ganze erste Jahr, das Rilke in Paris verbringt. In der ihm eigenen pathetischen Selbststilisierung hat Rilke sogleich begonnen, die Begegnung mit Rodin als eine einzige anhaltende religiöse Erweckung zu beschreiben. Rodin ist, wie die Briefe verkünden, der Kunst-Gott der Zeit, seine "Hände" sind die Schöpfer-Hände der biblischen Genesis, und der junge deutsche Dichter will sein "Apostel" werden, der das "Evangelium" dieser Kunst von Paris aus nach Osten tragen wird. Die Umkehr nach der Erleuchtung soll, wie es sich für einen Apostel gehört, ein totaler Neubeginn sein: "Ich will jeden Rückweg gehen bis zu jenem Anfang hin und alles, was ich gemacht habe, soll nichts gewesen sein, geringer denn das Fegen einer Schwelle, zu der der nächste Gast wieder die Spur des Weges trägt."
Mit "Stirners Einzigem" ist das Buch 'Der Einzige und sein Eigentum' von Max Stirner gemeint, das gegen Ende des Vormärz erschien. Das Buch war ein Skandalon, ein paradoxes Skandalon allerdings, weil es ideengeschichtlich dort am eingreifendsten wirksam wurde, wo die Reaktion verborgen und indirekt blieb, bei Marx und Nietzsche. Ich habe den diffusen Status des 'Einzigen', der sich daraus ergab und den er, obwohl kein Mangel an Sekundärliteratur herrscht, im Grunde bis heute behielt, in einer Wirkungsgeschichte dargestellt und diese mit einem sprechenden Neologismus eine Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte genannt.
Auf die Repulsionsgeschichte des Einzigen gemünzt ist das "Vade retro!" im Titel, denn eine Reihe durchaus bedeutender Denker sahen in Stirners Ideen tatsächlich den Inbegriff des Bösen, Teuflischen bzw. "aufgeklärterweise" den Einbruch des Tierischen, Unmenschlichen, Barbarischen, Zerstörerischen in die kulturelle Welt. Einige waren dabei so entschieden, dass sie ihre philosophische Position wesentlich - wenngleich undeklariert - in Abwehr von Stirners Ideen entwickelten.
Ich werde - nach einer biografischen Skizze zu Leben und Werk Stirners - diese Repulsionsgeschichte in ihren markanteren Stationen wie in einem Parcours durchlaufen, um zu zeigen, dass diese Bezeichnung adäquat ist. Die mit ihr verwobene Dezeptionsgeschichte, also die das Inhaltliche betreffenden Täuschungen, Selbsttäuschungen und Verdrängungen der Abwehrenden, können hier nur beiläufig zur Sprache kommen.
Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) gilt unumstritten als der "Vater der Anarchie". Auf ihn geht die positive Umdeutung des Begriffs "Anarchismus" zurück. Sein Einfluss und seine Bedeutung für die Entstehung des sog. wissenschaftlichen Sozialismus und auf die anarchistische Bewegung in Deutschland sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Er hat darüber hinaus, mehr noch als seine Vorläufer Claude-Henri Saint-Simon und Charles Fourier, größeren Einfluss auf den deutschen Diskurs über Sozialismus gehabt. Der Historiker Max Nettlau erklärte über seine deutsche Rezeption:
Proudhon wurde in Deutschland sehr beachtet, wo damals die radikale Philosophie um Arnold Ruge und Ludwig Feuerbach sich nach einer folgerichtigen Weiterentwicklung auf allen Gebieten sehnte, also dem die Theologie negierenden philosophischen Radikalismus, den den Staat negierenden politischen Radikalismus und die bestehenden Eigentumsverhältnisse negierenden ökonomischen Radikalismus zur Seite zu setzen bereit war.
Als Zeitraum für die Untersuchung seiner Rezeption in Deutschland bietet sich das Vierteljahrhundert von 1840, dem Erscheinungsjahr von Proudhons Studie „Qu’est-ce que la propriété?“, bis zum Jahr 1865, in dem er starb, an.
Nach Charles de Gaulle sind die Zehn Gebote deshalb so knapp und einleuchtend, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande kamen. Analoges scheint cum grano salis auch für vorliegenden Tagungsband im Blick auf Kirchengeschichtsschreibung zu gelten: Als einziger Ordinarius dieser Zunft war Thomas K. Kuhn 2015 beim Symposion in Gera vertreten, welches vom Forschungsprojekt "Thüringen im Jahrhundert der Reformation" an der Schiller-Universität Jena in Kooperation mit dem Institut "Deutsche Presseforschung" der Universität Bremen ausgerichtet wurde. Sein Beitrag "Reformierte Aufklärung. Die Reformation bei Georg Joachim Zollikhofer" behandelt den Schweizer Prediger an der Leipziger Hugenottengemeinde. Dieser war nicht an reformatorischer Hagiographie noch an dogmatischer Fixierung reformatorischer Lehrinhalte interessiert, sondern begriff Reformation als emanzipatorischen Initialprozeß. Über Fragen nach Rechtsbindung, Befreiung von kirchlichen und staatlichen Hierarchien und Vernunftgebrauch bei Prüfung von Schrift und Bekenntnis kam es zu Spannungen mit der lutherischen Spätorthodoxie, aber auch zum überkonfessionellen Dialog mit Aufklärern wie Basedow, Campe, Garve, Gedike, Resewitz, Semler, Spalding und Weiße, ja, sogar zum Wunsch und zur Denkbarkeit einer protestantischen Union, wie sie erst nach dem Reformationsjubiläum von 1817 in Preußen realisiert wurde.
"Reformation als Aufklärung" - so eine Kapitelüberschrift Kuhns – war kein reformiertes Spezifikum Zollikhofers, sondern zieht sich als roter Faden durch den Tagungsband.
Mit der Goethe-Rezeption Max Kommerells beschäftigt sich der Beitrag von Eva Geulen. Ausgehend von Walter Benjamins bekannter Kritik an "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik" (1928) fragt sie nach einem "Doppelzug des Theorie- und Gegenwartsverzichts" von Kommerells literaturwissenschaftlicher Arbeit, wie er sich in herausragender Weise in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Goethe kondensiert. Dabei rückt Geulen weniger den zentralen Stellenwert Goethes im Führer-Buch oder die bis heute viel zitierten Studien über Goethes Lyrik, Faust II oder Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Blick, sondern widmet sich stattdessen zwei Reden Kommerells, die die Bedeutung Goethes für die Jugend seiner Zeit eruieren: "Jugend ohne Goethe" (1931) und "Goethe und die europäische Jugend" (1943). Zwar zeichneten sich diese Arbeiten durch für Kommerell eigentlich untypische zeitkritische Bezüge aus. So rechne die erste Rede mit Jugendbewegung und Präfaschismus ab; und so lese sich die zweite streckenweise bereits wie ein Vorschlag zur 'Völkerverständigung' der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die besondere Pointe von Kommerells Goethe-Aneignung erblickt Geulen allerdings darin, dass die Reden das Motiv des einsamen Goethe mobilisieren und dass sie eine "absolute Aktualität und Gegenwärtigkeit" Goethes "mit seiner absoluten Entrückung im Knotenpunkt der Einsamkeit" verschränken. Aktuell und gegenwärtig sei Goethe für Kommerell just aus dem Grund, dass er sich bereits von seiner eigenen Gegenwart nicht habe vereinnahmen lassen. Dieses "Widerspiel von Entrückung und Vergegenwärtigung" lasse Goethes Aktualität mit seiner Unzeitgemäßheit durchgängig koinzidieren. Und nicht zuletzt dies bewahre sowohl Kommerell als auch Goethe vor dem Altmodisch-Werden: "Kann er nicht gegenwärtig sein, so wird er auch nie vergangen sein." Im Hinblick auf Kommerells "beharrliche Entrückungsstrategie" Goethes wirft Geulen auch die Frage nach Chancen und Grenzen des gegenwärtigen Interesses an Kommerell auf.
Hinter dem kritischen und kommerziellen Erfolg literarischer Texte stehen nicht selten Autor(inn)en, verstanden als mächtige Akteure des literarischen Feldes sowie als Marken, die beim Publikum bestimmte Erwartungen erwecken und zur Gestaltung von entsprechenden Wertungsstrategien beitragen. Derartige Wertungen überschreiten nicht immer nationale Grenzen. Am Beispiel der polnischen Rezeption der deutschsprachigen Literatur kann bewiesen werden, dass die Macht der genannten Akteure kulturgeographisch begrenzt ist und dass sie im Kulturtransfer stereotypisiert werden. So lassen sich einzelne Rezeptionsfälle in Figuren ausdrücken: Metapher (Allgegenwart) - Günter Grass, Metonymie (Repräsentation) - Elfriede Jelinek, Litotes (Abwesenheit) - Daniel Kehlmann und Wolf Haas im polnischen Feld.
Der Familien- oder Generationenroman durchlief seit seiner deutschsprachigen Prägung durch Thomas Mann zwei Schübe oder "[B]oom[s]": Auf die Welle der sogenannten 'Väterliteratur' oder 'Väterbücher' der 1970er und 80er-Jahre folgte ungefähr ab Ende der 90er-Jahre eine abermalige Konjunktur der Gattung im Umfeld neu aufgeflammter Debatten über 'Vergangenheitsbewältigung', die 'Enkelperspektive' auf den Nationalsozialismus und über 'Germans as victims'. Vergegenwärtigt man sich die ungebrochene Popularität dieser aktuellen Erscheinungsform des Generationenromans, so erstaunt der prominent auf dem Buchcover platzierte Untertitel von Christoph Geisers 2013 erschienenem Roman 'Schöne Bescherung': Dieser sei 'kein Familienroman', heißt es dort. Gesetzt wird diese peritextuelle Lektüreanweisung noch dazu ausgerechnet von einem Autor, der mit seinen frühen Texten Grünsee (1978) und Brachland (1980) die vielleicht wichtigsten Familienromane der jüngeren schweizer Literatur schuf.
Statt den Untertitel zu 'Schöne Bescherung' vor diesem Hintergrund zu problematisieren, buchte ihn das Feuilleton tendenziell als nicht weiter erläuterungsbedürftig ab und taxierte den Roman gar als Schlussstein einer veritablen "Familientrilogie". Schöne Bescherung will aber eben - anders als die formalästhetisch konventionelleren frühen Romane Geisers - explizit und dezidiert 'kein Familienroman' (mehr) sein. Der Text stellt sich also keineswegs in ein Verhältnis der Kontinuität zu Brachland, dem nächstälteren Roman der angeblichen "Familientrilogie". Vielmehr kommuniziert er noch vor seinem Incipit, eben durch den trotzigen Untertitel, einen kuriosen gattungsbezogenen Abgrenzungswillen. Dieser soll im Folgenden ernstgenommen werden.
Ein rascher Blick in die einschlägigen Tertiärdarstellungen bestätigt: Kaum ein Autor von Rang, der sich nicht im Laufe seines Schreiblebens mit Kafka beschäftigt, kaum ein (Leit-)Gedanke, der nicht mit und an dem Prager Klassiker auf literarische Weise reflektiert ist - mit enorm vielgestaltigen Resultaten. Da wird Kafka, in einer für das Ende der 1990er Jahre erstaunlich anachronistisch anmutenden Geste, als notwendig unbestimmbares Originalgenie erkannt und verdrängt zugleich, ein andermal wiederum recht rigoros der eigenen Weltsicht vereinnahmt oder gar selbstbewusst vervollkommnet, dann wieder doppelsinnig getötet, zuletzt im Gestus theatralischer Bewältigungsarbeit beerdigt - und dergleichen mehr. Es scheint weniger, als lähme Kafka die Schriftsteller, wie Imre Kertész vermerkt, sondern als treibe er im Gegenteil zu emsigen, ja fieberhaft anmutenden Bezugnahmen an, die kaum unter einem gemeinsamen Nenner zu vereinen sind - nimmt man die verhandelten Themen, Motive und Topoi ins Visier. Überblickt man die Rezeptionen hingegen in ihrer generellen Fragestellung und zugrundeliegenden Motivation, können durchaus übergeordnete Strukturen festgestellt werden, wobei meiner Ansicht nach diejenige These besonders erfolgversprechend ist, nach welcher die so vielgestaltigen Bezüge zu Leben und Werk hintergründig stets das Originelle verhandeln: So bestimmt die schon frühzeitig einsetzende, vor allem vom Freund Max Brod geförderte und weiterhin außer Frage stehende Behauptung geradezu genialisch anmutender Originalität Kafkas den Rezeptionsdiskurs nachhaltig.
In der Diskussion über Walter Benjamins Georg-Simmel-Rezeption werden vornehmlich das Passagenwerk und die Baudelaire-Arbeiten des späten Benjamin herangezogen. Hier werden Ansätze zu einer Theorie der Moderne und zum dem Schock der Großstadt ausgelieferten Passanten oder Flaneur entworfen, für die Simmels Philosophie des Geldes oder weitere seiner Aufsätze zur Moderne und zur Großstadt Pate gestanden haben. Auf die frühe Rezeption Simmels durch Benjamin wird dagegen eher selten oder nur flüchtig hingewiesen. Das gleiche gilt für die Diskussion nicht nur der vielen Gegensätze sondern auch über die mögliche Verwandtschaft zwischen Benjamin und Heidegger, zwei Denkern, die "sich nicht gesucht haben" und die alles trennt. Es wird - wenn überhaupt - versucht, in den Schriften zum Kunstwerk oder zur Aura oder zur Gewalt Parallelen zu entdecken, die in den meisten Fällen irreführend sind. Aus den wenigen Äußerungen Benjamins zu Heidegger lässt sich zwar nicht folgern, dass er Sein und Zeit vollständig gelesen hätte, aber drei Jahre nach dem Erscheinen des Hauptwerks seines Konkurrenten trug er sich noch mit dem Gedanken, »in einer engen kritischen Lesegemeinschaft [...] den Heidegger zu zertrümmern« (B 2,514), was ihm zeit seines Lebens nicht gelungen ist. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich auf die frühe Rezeption von Simmel und Heidegger durch Benjamin zurückkommen und zu zeigen versuchen, wie sich das Denken Benjamins zum Problem der Zeit und zum für ihn verwandten Problem des Trauerspiels und der Tragödie in Abhebung zu den zeitgleichen Studien Simmels und des jungen Heidegger zur historischen Zeit formt. Ich möchte herausarbeiten, wie Benjamin die Problematik dieser beiden Denker verschiebt und in Richtung von Ästhetik und Religionsphilosophie bewegt und sie so in die Weite öffnet, indem er ihr eine tragische und messianische Dimension hinzufügt.
Edições publicadas entre 2011 e 2014 no Brasil e em Portugal dos romances Os sonâmbulos e A morte de Virgílio, de Hermann Broch, mais que indícios de um interesse crescente ou uma acolhida tardia, incentivam pensar que episódios vêm compondo a história de sua presença em língua portuguesa. O artigo apresenta um levantamento inédito da recepção lusófona das obras ficcional e teórica de Hermann Broch desde o fim da década de 1950 até o presente e fornece um quadro se não conclusivo ao menos organizador dos principais momentos - inclusões na historiografia literária, traduções, aproveitamentos teóricos e artísticos - que dão forma a essa história apenas começada. O objetivo é expandir o mapa de suas leituras e dispor referências a discussões futuras que resolvam avançar com a pesquisa do autor e sua obra.
Rilke und Twombly
(2016)
"… die ehernen Blöcke männlichen Schaffens umkreisen" - Elfriede Jelinek queert Lessing und Goethe
(2016)
Der Beitrag verschränkt kommunikations-, informations-, kulturwissenschaftliche sowie philosophische Ansätze zur Störung mit gender- und queer theory, um Elfriede Jelineks 'Gattung' des Sekundärdramas analytisch zu beschreiben. Jelinek verfasst ihre Sekundärdramen zu kanonisierten Dramen des deutschsprachigen Raums und stellt über ihr typisches, intertextuelles Verfahren Bezug zu den Stücken her, fordert gleichzeitig aber auch die Kombination der Sekundärdramen mit ihren Bezugstexten im Moment der Inszenierung und geht damit über ihr bisheriges Verfahren hinaus. Ausgehend von der Feststellung, dass Jelineks Sekundärdramen in den Umsetzungen am Theater meist als weibliche Gegenschreibung interpretiert werden, will der vorliegende Beitrag zeigen, dass die Sekundärdramen vielmehr an einer Auflösung der Kategorien von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit' arbeiten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Thematisierung des Inzests, der mit Judith Butler als vorhandene Ordnungen und Relationen verschiebendes Element gelesen werden kann.
Am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete seit 1976 eine von Peter Weber geleitete Arbeitsgruppe an einem "Kunstperiode" genannten Projekt, dessen Ergebnisse 1982 in einem Sammelband der vom ZIL im Akademie-Verlag herausgegebenen Reihe Literatur und Gesellschaft publiziert wurden. Den einzelnen Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts der ProjektmitarbeiterInnen - zu Beziehungen von Ökonomie, Staatskritik und Kunstidee in der Rezeption von Adam Smith (Anneliese Klingenberg), zur frühen geschichtsphilosophischen Konzeption von Friedrich Schlegel (Gerda Heinrich), zu Goethes Theatralischer Sendung und Lehrjahren (Hans-Ulrich Kühl) und zu Problemen der Jean-Paul-Interpretation (Dorothea Böck) - war eine "Einleitung: 'Kunstperiode' als literarhistorischer Begriff" des Projektleiters vorangestellt, die in den Mittelpunkt einer vergleichsweise breiten Diskussion in der Fachöffentlichkeit geriet. Sie wurde nicht nur dadurch ausgelöst, dass Weber, der am Band 7 1789 bis 1830 der offiziellen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart "[v]erantwortlich für den Teil 1789 bis 1794" mitgeschrieben hatte, für "die deutsche Literaturentwicklung zwischen ausgehender Aufklärung und Vormärz", für die "kein eigentlicher Periodenbegriff gebräuchlich" sei, einen Periodisierungsvorschlag machte: Kunstperiode, sondern auch durch dessen methodologische Begründung. Insbesondere diese erwies Weber als Vertreter einer der beiden Richtungen, in die sich die DDR-Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren differenziert und auch polarisiert hatte mit "zwei verschieden akzentuierte[n] Literaturbegriffe[n]", die Wolfgang Thierse und Dieter Kliche in einer in den Weimarer Beiträgen 1985 publizierten, zunächst internen Auftragsarbeit zur Entwicklung der "Positionen und Methoden" der "DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren" konstatierten: "ein historisch-funktionaler und ein an 'Dichtung' orientierter, denen jeweils unterschiedliche methodische Konsequenzen für die Literaturgeschichtsschreibung immanent sind". In diesem Papier erscheint der "Band 'Kunstperiode'" nach Arbeiten von Rainer Rosenberg zum Vormärz und zur literarischen Kultur der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert
Das Rilke Projekt polarisiert: Einem beachtlichen Publikumserfolg steht eine Philologie gegenüber, die das Projekt weitgehend ignoriert. [...] Das Rilke-Projekt ist ein popmusikalisches Phänomen, dessen ästhetische Grundidee darin besteht, seinen Autor als Cover aus dem literarischen Kanon auf das ihm fremde Gebiet der Unterhaltungskultur zu überführen.
Dave Eggers' in seinem Roman 'The Circle' entfaltete Zukunftsvision erzählt vom Aufstieg des Konzerns Circle, eines Konglomerats aus Apple, Twitter, Facebook, PayPal und Google, des Erfolgreichsten sowie Umstrittensten also, was die momentane Debatte über Big Data, Datenschutz und Privatsphäre hergibt. Kein Wunder, dass der Roman, so rasch zum Bestseller avancierend wie ins todbringende Pantheon möglicher Schullektüre aufrückend, als 1984 fürs Internetzeitalter stürmisch begrüßt und als verstörend-düstere Prophetie gefeiert wird. Indes die Kritik auch deutliche Mängel diagnostiziert; so moniert man zumeist eine völlig unrealistische Naivität des Romanpersonals, allen voran der Hauptprotagonistin Mae Holland, die sich im Verlauf der Handlung immer vehementer mit der Konzernphilosophie identifiziert und am Ende bereitwillig in den Circle eingeht; bei weitem zu bereitwillig, wie einige Interpreten meinen: "Mae, The Circle's protagonist, is mealymouthed and naive. Other Circle employees wander about the page in raptures, gleeful about their Elysian employment. One has a hard time imagining why they'd be hired in the first place – their vision and intelligence is sorely limited." – "Der Roman malt schwarz und weiß, ganz bewusst", erklärt hingegen Adrian Daub, einen zornigen Autor deutend, der mit groben Effekten größte Wirkung zu erreichen suche, weshalb der Roman auch "absolut unironisch" gemeint sei und die Naivität der Helden damit allein notgedrungen brachiales Kriegswerkzeug eines im Grunde couragierten Kampfes sei, der eben nur noch mit harten Bandagen geführt werden könne. Diese in der grundsätzlichen Anlage sicherlich zutreffenden Interpretationen unterschlagen jedoch eine weitere höchst spannende, da äußerst strittige Lesart, nach welcher der Roman mit der produktiven Rezeption dystopischer Literatur hintergründig auch einen anthropologischen Umbruch verhandelt.
Franz Kafka hat als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft auf abstrakter Ebene immer wieder mit Odradeks zu tun, womit die Verunfallten gemeint sind, welche die Grenzen jeder Statistik sprengen und nicht mehr auf herkömmliche Weise in ein Muster übersetzt werden können. Kafkas Behörde, der AUVA, ist es darum zu tun, diesen Ausfall aus dem Sinngefüge nachträglich einzureihen und zudem vorausgreifend in verhütender Manier zu verhindern - womit zu Kafkas Zeit ein gesellschaftspolitisches Programm formuliert wird, welches zwar schon länger im Diskurs pendelt, sich nun aber in der Alltagswelt zu etablieren beginnt: "Die AUVA war in Habsburg das Prunkstück [...] eines Staates, in dem Krankheit und Unfall als gesellschaftsbildend gelten, weil sie, einmal als soziale Übel erkannt, zur Solidarität zwingen; eines Staates, [...] der 'Vorsorge' betreibt und seinem immer drohenden Ruin zuvorkommt, indem er präventiv tätig wird und zur Prävention verpflichtet; und der schließlich sämtliche Individuen versichert, um sich ihrer zugleich zu versichern - der sie also allesamt in ein statistisches Feld der Normen und Abweichungen integriert." Ein schwieriges Unterfangen, denn wie ist ein Unfall, der als ein solcher per se im toten Winkel stattfindet oder diesen gar erst etabliert, mit statistischen Mitteln überhaupt zu beschreiben, wie einzuordnen - dies die Fragen, die ein soeben erst entstehender Versicherungsdiskurs sich stellt und die Kafka dann am heimischen Schreibtisch in Form seiner Schreibprojekte immer wieder künstlerisch dekliniert, um sie ins Allgemeine zu heben. Hat Kafka doch begriffen, dass die Tagesarbeit im Amt eine statistische Denkart zu entfalten beginnt, die bald schon jeden Bereich menschlichen Lebens zutiefst prägen sollte und sich spätestens Mitte des letzten Jahrhunderts vom Staat abkoppelt und zunehmend verselbständigt; seitdem werden die Verfahren vor allem zur ökonomisch begründeten Sondierung potentieller Konsumenten genutzt, ist es in einer Marktwirtschaft doch zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden, den Menschen als Kunden so gut wie möglich zu kennen und hierzu eine Art "Kunden-Genom" zu extrapolieren. Bis sich infolge des "computational turn" die faktisch gegebene Möglichkeit etabliert, Statistiken zu entwickeln, die eigentlich keine mehr sind: "Because in the era of big data, more isn't just more. More is different."
Der romantische Liedzyklus ist keiner, denn sein Held kehrt nicht zurück. Ausfahrt, Abenteuer und Wiederkunft, das ist das Modell, das das zyklische Denken der musikalischen Klassik strukturiert. Da geht es als Exposition, Durchführung und Coda in die Logik der Komposition ein. Wenn der romantische Held sich hingegen in die Welt begibt, neugierig, sehnsüchtig oder ausgetrieben aus dem nicht länger Erträglichen, so riegelt er das Heimische ab und treibt von nun an im Anderswo. Adornos Charakterisierung der romantischen Musik als Triumph der Variation über das Thema transponiert dieses Narrativ ins Strukturelle der Form, der nun im Sonatenhauptsatz das finale Glied amputiert wird. Noch bevor die Expressionisten sich des O-Mensch-Pathos von Nietzsches vielleicht bekanntestem Gedicht bemächtigten, hatte es schon ein Komponist für sich entdeckt. Im langsamen 4. Satz von Mahlers 3. Symphonie sträubt sich der misterioso vorzutragende Text gegen den vom Kinderchor gesungenen des darauffolgenden Satzes und produziert einen der Mahler'schen Brüche, die für den Hörer entweder eine neurotische Entgleisung oder eine lustvolle Reibungsfläche darstellen. Die Lektion der Mitternacht, die Dunkel über Tageslicht stellt und damit zum Ewigkeitsbezug führt, scheint nicht allzu weit entfernt von den Hymnen des Novalis, und in der Reihung Dunkel-Lust-Ewigkeit sind auch Tristan und Isolde nicht allzu fern.
Pascal Dusapin, geboren 1955, hat in Paris bei Xenakis studiert und ist anfänglich fasziniert von dessen, letztlich wohl von Edgar Varèse ausgehenden, Operationen mit Klangmassen, die er aber spätestens in den 1990er Jahren für deutlich filigranere Strukturen, die oftmals von Mikrotonalität geprägt sind, aufgibt. In seinen Kompositionen, die auf Textvorlagen zurückgreifen, lässt Dusapin sich wiederholt von der deutschen literarischen Tradition inspirieren. Eines seiner drei jeweils als Requiem bezeichneten Chorwerke aus den Jahren 1992-97 vertont acht mittelhochdeutsche Gedichte von Meister Eckhardt, wobei die sparsame Expansivität des Klangmaterials der intensiven Gottsuche des Mystikers nicht völlig gerecht zu werden scheint.
Man liest Übersetzungen im Allgemeinen als transparente Stellvertreter eines fremdsprachlichen Ausgangstextes, ohne sich des Prozesses des Übersetzens, bzw. der Übersetztheit des Textes bewusst zu sein. Was aber geschieht beim Übersetzen? Übersetzen ist immer Interpretation, so die brasilianische Translationswissenschaftlerin Rosemary Arrojo. Anhand zweier Erzählungen, "Liebe" und "Die Dame und das Ungeheuer oder die allzu große Wunde", der Autorin Clarice Lispector, ins Deutsche übersetzt von Curt Meyer-Clason und Sarita Brandt, wird nach Übersetzungsstrategien und den sich daraus ergebenden Interpretationen, nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Übersetzer und der Übersetzung gefragt, die aus den Zieltexten erkennbar sind, stellt man sie den Ausgangstexten gegenüber.
Louise Dittmar gehört zu den wenigen Autorinnen ihrer Zeit, die sich auf das für Frauen eher ungewöhnliche Gebiet der Philosophie wagten. Ungewöhnlich nicht deshalb, weil sie philosophische Schriften rezipierte, denn das war durchaus kein Einzelphänomen. Gerade in den 1840er Jahren setzten sich viele Vormärzautorinnen mit den modernen Strömungen und deren Studien auseinander, insbesondere mit frühsozialistischem und junghegelianischem Gedankengut. Das Ungewöhnliche war vielmehr, dass Louise Dittmar Werke publizierte, in denen sie Ludwig Feuerbachs Philosophie "systematically and seriously" zu entfalten versuchte, aber ebenso ihre eigenen Erkenntnisse selbstständig (fort-)entwickelte.
Klemens Renoldner, curador da exposição Precisamos de uma coragem bem diferente! -Stefan Zweig - despedida da Europa, aborda, em entrevista, as relações entre entre textos e contextos no âmbito da obra do escritor austríaco Stefan Zweig (1881-1942). Com isso, traz à tona diferentes contextos de recepção e vertentes interpretativas da obra zweigiana, contribuindo assim à relativização de tradicionais clichês em torno da vida e da obra do autor. Além disso, a conversa trata da cooperação entre o Stefan Zweig Centre, em Salzburgo, e a Casa Stefan Zweig, em Petrópolis (Rio de Janeiro), e apresenta projetos realizados e futuros.
El presente artículo se propone analizar la interpretación benjaminiana de Kafka tomando como eje central el problema de la tradición y su resignificación política en el contexto de producción tardío. Son relevantes en este sentido, los conceptos de hagadá y halajá con los que Benjamin estructura sus análisis. El objetivo es entonces rastrear los elementos que en la elaboración de una teoría política permiten recuperar al narrador checo para la revisión de un concepto de lo humano.
Der Kurator der Ausstellung Wir brauchen einen ganz anderen Mut! Stefan Zweig - Abschied von Europa, Klemens Renoldner, spricht im Interview über Text-Kontext-Beziehungen in Hinblick auf das Werk des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig (1881-1942). Dabei kommen u.a. unterschiedliche Rezeptionskontexte und Interpretationsansätze ans Licht, die dazu beitragen, traditionelle Klischees rund um das Leben und das Werk des Autors zu relativieren. Außerdem wird auf die Zusammenarbeit des Stefan Zweig Centres in Salzburg und der Casa Stefan Zweig in Petrópolis (Rio de Janeiro) hingewiesen und abgeschlossene, sowie zukünftige Projekte vorgestellt.
Stefan George und Alfred Schuler begegnen der sog. Krise des Historismus, die den Glauben an die Einheit von geschichtlichem und kulturellem Fortschritt erschütterte, mit einer neuen Art des Historismus, die mit einer signifikanten Umcodierung der überlieferten Wissensbestände einhergeht. Vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Stimmungslage des Fin de Siècle knüpft die Idealisierung der Antike hier zwar an deren bildungsbürgerlich tradierte normative Setzung durch Johann Joachim Winkelmann an, das klassische Antikenverständnis wird jedoch einer zeitbedingten Transformation unterzogen und zum vitalistischen Gegenpol einer als dekadent verstandenen Gegenwart erklärt. Unter dem Einfluss von Friedrich Nietzsches "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) wird das Griechische bei George bzw. das Römische bei Schuler als 'verlebendigte Antike' zum gegenwärtigen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Kulturfaktor erhoben, der als produktive Kraft in der deutschen Gegenwart wirken soll.
Die großen Dichter der Römer haben in der abendländischen - und nicht zuletzt in der deutschen - Literatur des 20. Jahrhunderts ein äußerst produktives Nachleben genossen. In seinem 'Tod des Vergil' (1945) befasst sich Hermann Broch einfühlsam mit Leben und Werk des Dichters der Äneis. In Christoph Ransmayrs 'Die letzte Welt' (1988) tritt Ovid als Person nie in Erscheinung, aber die Forschungen des Romanhelden enthüllen das problematische Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Leben Ovids während seines Exils im fernen Tomis und in den Erzählungen seiner Metamorphosen. Günter Grass' Roman örtlich betäubt (1969) bietet unter anderem eine einsichtsvolle Analyse der Bedeutung Senecas als Seismograph für jeweils drei Generationen von Deutschen der Bundesrepublik. Und Lukrez?
Titus Lucretius Carus (circa 94-54 v.Chr.), der in der Geschichte der lateinischen Literatur als epischer Dichter neben, ja manchmal sogar über Vergil gestellt wird und vor allem als wichtigster Befürworter des Epikureismus im Rom des ersten Jahrhunderts v.Chr. galt, spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle. Wenn auch die atomistischen und vermeintlich antireligiösen Lehren seines 'De Rerum Natura' während des christlichen Mittelalters abgelehnt wurden, schätzten ihn sogar seine Gegner als einen großen Sprachkünstler. Nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wurde er zunehmend als Philosoph und Naturwissenschaftler geschätzt. Aber nachdem sein Einfluss im 19. Jahrhundert bei vielen Dichtern noch hochstand, wurde sein Name danach immer seltener erwähnt. Seit der wichtigen Vortragsreihe George Santayanas über Lucretius, Dante und Goethe - Three Philosophical Poets (1910) - haben sich zwar immer wieder akademische Philosophen mit seinem Denken befasst; aber die einzige ausführliche Studie über Lukrez und die Moderne kann nur wenige literarische Beispiele heranziehen: neben den Italienern Italo Calvino und Primo Levi und dem Österreicher Raoul Schrott, die im Vorübergehen erwähnt werden, werden nur einige anglo-amerikanische Dichter zitiert, die sich aber nie ausführlich mit Lukrez oder seinem Werk beschäftigen. In einer wichtigen deutschen Forschung zur Antikerezeption wird nach Goethe nur noch Heinrich Mann erwähnt, in dessen Roman 'Die Vollendung des Königs Henri Quatre' (1938) Zitate aus mehreren lateinischen Dichtern, einschließlich Lukrez, vorkommen.
Warum dieses Schweigen?
L'hypothèse de ce travail est que [...] écrivains vont trouver, dans le Berlin d'après la chute du Mur, une incarnation des paradoxes du XXe siècle, et présenter cette capitale comme la ville de la "postmodernité" qu'ils pourront tour à tour haïr ou aimer, comme le rappelle le titre du texte de Serge Mouraret 'Berlin carnet d'amour et de haine'.
Il conviendra donc d'analyser les représentations de Berlin afin de mettre au jour la mythologie insulaire qu'elles ont façonnée. Le motif de l'île a l'avantage de concentrer une dimension mythique, des caractéristiques formelles et une symbolique forte. Nous tenterons de répondre à la question suivante: pourquoi, bien que Berlin réunifiée ne puisse plus, depuis la chute du Mur, être à proprement parler qualifiée d'île, ce motif persiste t-il comme clef de lecture de la ville?
Was lässt sich also vorerst über eine mögliche Rilke-Rezeption bei Thomas Bernhard sagen? Am ehesten kann man das Verhältnis der beiden Autoren darstellen, indem man Rilkes "Auftritte" in Bernhards Werk mit dem Dasein der verstorbenen Christine Brahe in Urnekloster vergleicht. Wäre er leibhaftig dort, er würde sich selbst sicherlich nicht in einem Spiegel erkennen, zu unterschiedlich sind Formen und Inhalte. Auch fehlt das Rilke-Portrait jedenfalls in Bernhards selbst gewählter Ahnengalerie. Es gibt allerdings einzelne Momente in den Texten, bei denen man vermeint, Rilke durch eine an sich "stets verschlossene Türe" in Bernhards Werk hineinschreiten zu sehen, gemessenen Schrittes geht er an den Figuren vorbei und verschwindet fast durchsichtig, fast unbemerkt wieder. Nur ein Geist, in dieser Welt gestorben und nicht mehr verlässlich zuhaus, ein Nachhall von einem vergangenen Zustand, dadurch aber dennoch, zumindest zwischen den Buchstaben, Zeilen und Seiten, zwischen den Buchtiteln und Klappentexten, vorhanden.
Als eines der Hauptprobleme der Rezeption deutscher Kultur in Frankreich kann die Dichotomie von Dekontextualisierung vs. Hyperkontextualisierung bezeichnet werden, wobei man das Bild von den zwei Seiten derselben Münze benutzen könnte. Die damit verbundenen Interpretationsansätze bewirken einerseits, dass bei der Auseinandersetzung mit deutscher Literatur, Philosophie und Kunst der historische, politische und soziale Kontext oft vernachlässigt oder gar ausgeblendet wird. Bereits Heinrich Heine warnte seine französischen Zeitgenossen in seinem Buch 'De l'Allemagne' (1833) vor dieser Gefahr beim Umgang mit der deutschen Romantik. Andererseits kann man ebenso häufig beobachten, wie in Frankreich geistig-künstlerische Werke aus Deutschland auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen oder politischen Implikationen bzw. Belastungen heruntergebrochen werden. Dieses Phänomen kann natürlich verstärkt in Zeiten ideologischer und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern beobachtet werden, vor allem während der Periode 1870–1945. Aber auch heute noch - ein halbes Jahrhundert nach dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag - prägt die Epoche des Nationalsozialismus den Blick vieler Franzosen auf Deutschland und beeinflusst maßgeblich die Rezeption deutscher Literatur, Philosophie und Kunst.
Die hiermit aufgeworfene Frage ist die nach dem notwendigen bzw. angemessenen Grad von (politikgeschichtlicher) Kontextualisierung im französischen Verhältnis zur deutschen Kultur, wobei eine pauschale Beantwortung sich selbstredend als schwierig oder gar unmöglich erweist.
Um dos capítulos mais importantes da recepção do teatro alemão no Brasil se iniciou em 1958, com a montagem de "A alma boa de Setsuan". A encenação de muitas entre suas obras a partir de então colocou novas questões dramatúrgicas e teóricas num cenário aberto à experimentação estética e marcado pela dialética entre o teatro e o turbulento contexto social brasileiro da época. Grupos como o Arena, o Oficina e o CPC discutiram, atualizaram e articularam a obra de Brecht com suas próprias pesquisas. Como essa recepção, ontem como hoje no Brasil, é feita a partir dos mais diferentes referenciais teóricos e críticos, faz-se necessária a revisitação da crítica esclarecedora de Anatol Rosenfeld sobre Brecht. Profundo conhecedor de estética teatral, da teoria do teatro épico, da obra de Brecht e do teatro brasileiro, Rosenfeld tem papel decisivo em vários debates em torno de sua obra e de sua influência no teatro brasileiro. Nesse artigo, a partir de questões que surgem da recepção contemporânea de Brecht, pretendemos acompanhar algumas etapas desse percurso na obra de Rosenfeld, que é tanto teórico como histórico e crítico e se constitui como um dos mais lúcidos e atuais estudos sobre Brecht e o teatro brasileiro.
Zu Rainer Maria Rilkes und Peter Handkes besonderem Verhältnis zu Paul Cézanne ist bereits viel gesagt und geforscht worden. Das Thema ist über die vielfältigen intermedialen Bezüge von Kunst und Literatur hinaus, die sich hier an besonders reichhaltigen und qualitätvollen Materialien untersuchen lassen, jedoch von grundsätzlicherer Bedeutung: Es geht nicht ausschließlich um ästhetische Rezeptionsphänomene, sondern im emphatischen Sinn um 'Lehren', wie Handke seinen Cézanne-Roman "Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980) betitelt; sie werden von dem verehrten Vorbild nicht nur vordoziert, sondern vorgelebt, und von seinen Schülern nicht nur auswendig gelernt, sondern in lebendige Praxis überführt. Beide Autoren verstehen ihre Begegnung mit Cézanne als eine Art Bekehrung, eine einschneidende Lebenswende.
Walter Benjamin hörte Karl Kraus als Vorleser bei einem von dessen Berliner Gastvorträgen im Jahr 1928. Unmittelbar danach hielt Benjamin dieses Erlebnis in dem knappen Bericht "Karl Kraus liest Offenbach" fest. Der Bericht ging später in den Essay "Karl Kraus: Allmensch – Dämon – Unmensch" ein, der in drei Teilen 1931 in der Frankfurter Zeitung erstveröffentlicht wurde. [...] Mit seinem Wissen um das performative Gesamtwerk von Kraus wusste Benjamin auch um das besondere Setting der Offenbach-Lesungen, das sich von Kraus' sonstigen Lesungen [...] unterschied: Nur bei den Lesungen aus Jacques Offenbachs Operetten trat Kraus nicht alleine auf, sondern ließ sich von einem Pianisten begleiten. Das Besondere war hier außerdem, dass Kraus nicht ausschließlich Texte sprach, sondern auch abseits der gesprochenen Dialoge, in den musikalischen Nummern des Librettos, ins Singen überging – wenn auch nur zeitweilig. Von den verschiedenen Pianisten, die mit Kraus bei seinen Offenbach-Abenden in Wien und anderen Städten zusammengearbeitet haben [...], hat sich nur Georg Knepler explizit zu Kraus' musikalischem Vermögen geäußert [...].Ebenso wie bei anderen Zeugen von Kraus' Offenbach-Vorträgen befinden sich auch in Kneplers Erinnerungen Kraus' sprecherisch-performative Eigenarten des Vortrags im Mittelpunkt – darin setzt auch sein Bericht, der vielleicht am ehesten auf die musikalische Darbietung abzielte, ähnlich anderen Zeitzeugen den Akzent jenseits der Musik.
Somit steht Walter Benjamin, indem er an Kraus' Offenbach-Vortrag [...] das Un- bzw. Übermusikalische betont, unter den Rezipienten nicht allein da. Jedoch hebt wohl kein Autor so explizit wie Benjamin darauf ab, dass es sich bei diesen Offenbach-Lesungen von Kraus um eine imaginäre, ideelle Musik, vielleicht auch um eine Musik in metaphorischem Sinn handele. "Nicht etwa sieht Benjamin den Anteil der Musik [...] bloß zurückgedrängt, sondern er erblickt sie als in etwas ganz anderes transformiert, das seinen Ort nirgends als in der Stimme des Vortragenden hat und darin mit dem gesprochenen Wort untrennbar vereinigt ist."
Neste artigo, comparamos duas traduções em língua portuguesa do romance "Verstörung" (primeira edição em língua alemã em 1967) do escritor austríaco Thomas Bernhard: a tradução portuguesa (1986, por Leopoldina Almeida) e a brasileira (1999, por Hans Peter Welper e José Laurenio de Melo). Partimos da premissa de que "Verstörung" é um livro com uma dimensão performativa acentuada, ou seja, a perturbação que dá nome ao livro não está representada apenas no enredo e na caracterização dos personagens, mas também – ou sobretudo – no estilo, na linguagem do texto em alemão. Discutimos e comparamos diferentes soluções tradutórias nas referidas versões em português, assim como os paratextos que constam nas duas publicações. Constatamos duas posturas divergentes ao lidar com as especificidades da linguagem da obra, ambas com consequências para o seu efeito performativo. Por fim, sugerimos que essas posturas possam ser reflexos das diferenças da própria crítica literária em relação a Thomas Bernhard em dois momentos diversos.
Die Etablierung Goethes als "Klassiker" im 19. Jahrhundert ist Teil einer komplexen Wirkungsgeschichte, in der die Deutung des Werks mit dem Interesse an der Person aufs engste verknüpft ist. Noch im Untertitel einer jüngst erschienenen Goethe-Biografie wird ein zentrales Denkmuster der Rezeption aufgegriffen, dass das "Leben" des Dichters sein eigentliches "Kunstwerk" gewesen sei. Goethe wird zur Projektionsfigur eines scheinbar autonom gestaltbaren Lebens in einer immer komplexer werdenden modernen Gesellschaft, zum Lehrmeister einer humanen Bildung des Individuums, das vor allem nach 1945 noch als Rettung angesichts einer beschädigten Identität noch einmal beschworen wurde.
Der Aufsatz skizziert diskurs- und mentalitätsgeschichtlich Stationen eines Rezeptionsprozesses von der frühromantischen Inthronisation Goethes als "Statthalter des poetischen Geistes auf Erden" (Novalis) bis zur Bedeutung der "Goethe-Philologie" für die Institutionalisierung einer Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur in der Bismarckzeit und im Wilhelminismus. Untersucht werden dabei die zentralen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Rezeption von Werk und Leben eines Dichters, in denen sich auch politisch-gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts spiegeln, die in der Kritik der Jungdeutschen am "Fürstenknecht" Goethe ebenso deutlich werden wie in der Instrumentalisierung Goethes für die Aufwertung des nationalen Selbstwertgefühls.
"Idiom", "Trauerspiel" und "Dialektik des Hörens" sind die Überschriften der drei Teile dieses Beitrages, der Benjamins Rezeption im Werk Luigi Nonos behandelt. Genauer gesagt: Es handelt sich eher um die verblüffende Konvergenz von Nonos Denken mit Benjamins Philosophie, unabhängig davon, ob, wie, wann und in welcher Breite Nono sie sich bewusst angeeignet hat. Zwischen ihnen steht ein Exkurs über die Idee des opus perfectum et absolutum und dessen Entfaltung vom 'organischen' zum 'autopoietischen' Werkbegriff, dem Nono sich widersetzt.
In recent introductions to German literary studies one reads that the publication of Goethe's "The Sorrows of Young Werther" was followed by a veritable wave of suicides among its readers. However, according to two studies that have collected and reexamined the few hints we have about such alleged cases the story of the suicide wave seems to be a myth rather than an accurate historical account. Why, then, do we still spread this myth? First, I outline a number of cognitive predispositions that might be responsible for the intuitive plausibility of the suicide story. Second, I try to explain why even in academic writing we often succumb to these cognitive tendencies. I propose that our discipline suffers by generally undervaluing empiricism and that this calls for revision.
Kafka war in der DDR kein Gegenstand der Poesie und Literaturwissenschaften allein. Spätestens seit der berühmten Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice, im Mai 1963, war sein Werk ein Politikum, das kurioser Weise zeitweise sogar das Verhältnis zwischen den 'sozialistischen Bruderparteien' entzweite. In theoretischer Hinsicht war insbesondere der Versuch einiger tschechischer und westlicher Teilnehmer brisant, die Marx'sche Entfremdungsproblematik unter Inanspruchnahme des Prager Dichters auf den Sozialismus selbst zu beziehen. Insofern war es schon erstaunlich, dass Wolfgang Heise nur zwei Jahre später seinen, den Entfremdungsbegriff auf die DDR beziehenden Aufsatz 'Über die Entfremdung und ihre Überwindung' sogar in der 'Höhle des Löwen', nämlich in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlichen konnte. Rückblickend gesehen stehen verschiedene Themen und Thesen Heises ganz im Einklang mit den in Liblice diskutierten: etwa dem von Ernst Fischer modifizierten Begriff des Realismus und der Hervorhebung "des Künftigen, des Möglichen, des wie ein Schimmer oder Schatten in die Gegenwart Fallenden, [einer] mitunter tiefere[n] Wirklichkeit als die mit Händen zu greifenden sogenannten Tatsachen". Folgt man Camilla Warnke, so hat es in der DDR keinen anderen Theoretiker gegeben, "der so eindringlich und so konsequent wie Heise seine Kritik am realen Sozialismus im Rückgriff auf das Marxsche Entfremdungskonzept formuliert hat und seinen Implikationen unter den neuen, nicht mehr privateigentümlichen Verhältnissen nachgegangen ist." Auf Kafka hatte Heise in seinem Aufsatz nur kurz, aber an signifikanter Stelle verwiesen: "Kafka hat an den Gittern der Ohnmacht gerüttelt".
Von allen wichtigen Texten Benjamins sind seine Sonette auf seinen Dichterfreund Christoph Friedrich Heinle, der seit 1913 mit ihm in der Jugendbewegung aktiv war und am 9. August 1914, verzweifelt über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit seiner Verlobten Rika Seligson Selbstmord verübt hatte, verhältnismäßig wenig von der Kritik gewürdigt worden. Entstanden sind die Gedichte vermutlich zwischen 1915 und 1925, mit Handschriften-Datierungen von vor Ende 1917 und nach Anfang 1918; ihr Manuskript befindet sich unter den Papieren Benjamins, die im Juli 1981 von Giorgio Agamben in der Bibliothèque Nationale in Paris gefunden wurden. Sie sind in einer komplexen Sprache verfasst, die verschiedene Vorbilder, darunter den Duktus Stefan Georges und den Spätstil Hölderlins, höchst eigenwillig weiterführt. Esoterische, oft rätselhafte Metaphern und willkürlich-kryptische Bilder, eine preziös-archaisierende Stilhöhe, grammatikalische Brüche und das syntaktische Zusammenhänge verschleiernde Fehlen der Interpunktion - durch diese Merkmale verweigern sich die Sonette einer hermeneutischen Entschlüsselung, die sich durch den Nachvollzug der Einzelheiten im Gesamtzusammenhang das Verständnis kohärenter Sinntotalität erhofft. Stattdessen sind die Leser darauf angewiesen, die sich immer wieder selbst verschleiernde Beziehung des lyrischen Ichs zu dem Verstorbenen durch ein Nachbuchstabieren bestimmter Textdetails so zu rekonstruieren, dass deren Inkonsistenzen, Sinnbrüche und Mehrdeutigkeiten nicht beseitigt, sondern als das Medium erkannt werden, in dem eine poetisch-erotische Liebe die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Versprachlichung reflektiert. Diese performative Selbstreflexion - so meine Kernthese - geschieht vorrangig im Rahmen einer intermedialen Beziehung zwischen Schrift, Bild bzw. Blick und Musik. In diesem Sinne zielt der folgende Versuch einer Interpretation bewusst auf keine Gesamtdeutung, sondern beschränkt sich darauf, einige ausgewählte Textpassagen explizierend zu einem Netzwerk zusammenzustellen, das diese Intermedialität der trauernden Liebes-Erinnerung im Kontext anderer Schriften Benjamins zu erhellen versucht.
Die unterschätzte Reifeprüfung : zur Rezeption von Uwe Johnsons erstem Roman "Ingrid Babendererde"
(2013)
In der Johnson-Forschung der letzten Jahre wurde verschiedentlich die Ansicht geäußert, dass eine Beschäftigung mit Johnsons Werken ohne eine Reflexion auf die Biographie des Autors unvollständig, wenn nicht gar unzulänglich bliebe. Ein "ganzes Team von Johnson-Forschern" arbeitet deshalb seit dem Frühjahr 2005 daran, eine neue Johnson-Biographie zu verfassen. Es ist in dem Zusammenhang nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass nicht nur der Autor, sondern auch die Leser Biographien haben, die ihrerseits - auf freilich mittelbare Weise - die Auseinandersetzung mit dem Werk Johnsons beeinflussen können. Beispielsweise, indem die in individuellen Lebensläufen gemachten Erfahrungen Lektüre-Wahrnehmungen in den Romanen Johnsons begünstigen, anregen, fördern, steuern - oder auch erschweren und behindern.
Ein weites Feld, gewiss, aber doch auch eines, dessen Relevanz schwerlich von der Hand zu weisen sein dürfte. Auf Uwe Johnson wird sich jedenfalls berufen dürfen, wer Interesse aufbringen kann für "jenes unverlierbare Eigentum, das beschlossen ist in der Vergangenheit einer Person". Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat in diesem Sinne kürzlich auf einen "Primat der Erfahrung" aufmerksam gemacht, der in den Debatten um die Erinnerungsliteratur der letzten Jahrzehnte (zu der auch Johnsons Werk gehört) eine zentrale Rolle spielt: "Was man nicht selbst in den Knochen hat, kann man nicht nachträglich in diese Knochen injizieren."
Athanasios Anastasiadis wirft einen Blick nach Österreich, auf das Werk Franz Grillparzers, und beschreibt dessen Rezeption der griechischen Antike und - damit verbunden - philhellenischer Gedanken. Franz Grillparzer war ein vorzüglicher Kenner der antiken Literatur, die er im Original intensiv studiert und exzerpiert hat. Seine klassisch-humanistische Bildung hat ihn aber keineswegs dazu bewogen, zum Anhänger der philhellenischen Bewegung zu werden, sich publizistisch zum griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821 zu äußern oder gar aktiv daran teilzunehmen. Keineswegs lässt sich sein Werk dem literarischen Philhellenismus zuordnen. Aber Franz Grillparzer und seine Dramen weisen in dreierlei Hinsicht Bezugspunkte zu Griechenland, und zwar zum antiken wie zum modernen auf, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen: 1) Zwischen 1817 und 1831 verarbeitete er in seinen 'Griechendramen' Stoffe der klassischen Antike. 2) Im Jahr 1843 unternahm er eine Reise in den Orient und hielt sich auch im jungen griechischen Staat auf, wovon er in seinem Tagebuch auf der Reise nach Konstantinopel und Griechenland desillusioniert Zeugnis ablegte. 3) Die Griechendramen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Griechenland rezipiert. Sie blieben bis in die 1930er Jahre auf Athener Bühnen präsent und wurden in der Presse kontrovers diskutiert.
As transformações desencadeadas na Alemanha pela Queda do Muro de Berlim, bem como pela consequente união dos dois Estados alemães, a 3 de outubro do ano seguinte, tiveram ressonância excecional por todo o mundo. Acontecimentos contíguos, ambos redundaram inevitavelmente numa reestruturação da arquitetura política e ideológica de toda a Europa. A Reunificação Alemã foi, na verdade, recebida pelos restantes países europeus como case-study para a projetada Unificação Europeia. Nascia, assim, um intenso debate entre europeístas, por um lado, os quais olhavam a Reunificação Alemã como um passo determinante no caminho da construção de uma Europa democrática, e eurocéticos, por outro lado, os quais, não acreditando numa integração europeia, temiam o ressurgimento do “gigante” alemão. Portugal estava particularmente interessado nesta discussão, devido à sua posição periférica no contexto europeu. Torna-se assim interessante verificar de que forma estes acontecimentos foram acompanhados na imprensa periódica portuguesa de referência. Com este objetivo, foi analisada mais de uma centena de notícias, artigos de opinião, reportagens, entrevistas e editoriais, publicados de julho a dezembro de 1990 nos semanários Expresso e O Independente, e ainda no diário Público.
Der vorliegende Band trägt den Titel "Freuds Referenzen", da wir das Spannungsfeld, das die Bedeutung von Referenz ausmacht, geeignet fanden, um Freuds Bezüge, wie die Bezüge auf Freud zu thematisieren: Referenz lässt sich mit "Bericht" oder "Auskunft "übersetzen. Der Bedeutungsumfang des lateinischen Verbs "referre", von dem Referenz abgeleitet ist, ist hingegen breiter: von "berichten" über "sich auf etwas beziehen", "auf etwas zurück führen" bis "etwas zurück tragen" reicht das Spektrum der Bedeutung. Damit scheint mit dem Sprechen von der Referenz und mit dem damit aufgerufenen Bedeutungsfeld die Dynamik der Bezüge Freuds und der Bezüge auf die Psychoanalyse auf.
Es war Theodor W. Adorno, der Richard Wagner "den berühmtesten erotischen Künstler der bürgerlichen Welt" genannt hat. Möchte man sich dieses Aperçu zu eigen machen, so wird man sich in erster Linie an den Dichter Richard Wagner halten – und erst in zweiter Linie an den Musiker. Wagner selbst hat es genau so gesehen: genau in solcher Gewichtung. Anlässlich des "Fliegenden Holländers" schreibt er über den Beginn der Arbeit an diesem Werk: "Ich war von nun an in bezug auf alle meine dramatischen Arbeiten zunächst Dichter, und erst in der vollständigen Ausführung des Gedichtes ward ich wieder Musiker." Und in seinen minutiösen Anweisungen für die Aufführung des "Tannhäuser" von 1853 insistiert Wagner vorsorglich, die Dichtung müsse "in ihrem ganzen Umfange" den Darstellern bekannt gemacht werden (vgl. II, 111), und zwar: bevor diese mit der Musik in Berührung kämen. Das Augenmerk der vorliegenden Abhandlung richtet sich also zunächst und vor allem auf den Dichter, den Dramatiker Richard Wagner: als einen Darsteller von erotischen Leidenschaften; als einen Kenner der abendländischen Liebes-Theorien.
Zu den Vielen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in den Bann jenes Malers gezogen wurden, der in neuerer Zeit und noch bis heute vornehmlich (wenn auch zu Unrecht) unter dem Namen des Matthias Grünewald firmiert, gehört auch Rainer Maria Rilke. Recht genau in Rilkes Lebensspanne fällt nicht nur die Wiedererkennung und Neuentdeckung des weitaus größten Teils von Grünewalds erhaltenen Werken; zu seiner Zeit wurde nicht nur die wahre Identität dieses Künstlers - als des in Würzburg, vermutlich um 1480, geborenen Mathis Gothart Nithart - ans Licht gebracht; in Rilkes zweiter Lebenshälfte kam es überdies zu einer geradezu enthusiastischen Wertschätzung dieses Zeitgenossen Albrecht Dürers und der Reformation, der zu den Hauptexponenten einer einzigartigen Blütezeit der Kunst in Deutschland, kurz vor deren abruptem Ende, zählt.
The author of the study examines the relations between the poetry of the German expressionist Georg Heym (1887–1912), the Austrian expressionist Georg Trakl (1887–1914), and Czech literature, especially poetry. Both these authors are representatives of early expressionism. Heym is also known in the Czech lands through the translations of Bohuslav Reynek, František Vrba, Ivan Slavík, Ludvík Kundera and Radek Malý. Trakl's work affected the development of modern Czech poetry through translations by Bohuslav Reynek. Specific and significant manifestations of Trakl's influence can already be found in the work of Bohuslav Reynek and in the first two collections by František Halas. In varying degrees, the authors have left traces in the poetry of František Hrubín, Vilém Závada and Jan Zahradníček. The echoes of Trakl's poetry can be heard in the 1960s in the work of the poet Zbyněk Hejda.
Even if the title of Wolfgang Koeppen's last novel, "Der Tod in Rom", alludes quite obviously to Thomas Mann's novella, "Der Tod in Venedig", Koeppen's text must be understood first and foremost as a response to Mann's most controversial novel, "Doktor Faustus". The novels of Mann and Koeppen rank among the most well-known literary examinations of National Socialism but stand in a complementary relation to each other. "Doktor Faustus", published in 1947, analyses the cultural and intellectual origins of German fascism, while "Der Tod in Rom", published only seven years later in 1954, criticizes the continuity of National Socialist ideologies in post-war Germany. Both authors focus their analyses of fascism on fictional avant-garde composers who seem at first glance detached from any political context. [...] The actual starting point of Florian Trabert's paper, however, is the fact that both novels are preceded by epigraphs taken from Dante's "Inferno". Trabert begins by commenting on the references to Dante in "Doktor Faustus" and then continues by analysing the allusions to the "Commedia" in Koeppen's novel, which constitute, as Trabert demonstrates, a complex constellation among the three texts.
Dante's "Inferno" and Walter Benjamin's cities : considerations of place, experience, and media
(2011)
When Walter Benjamin wrote his main texts, the theme of the city as hell was extremely popular. Some of his German contemporaries, such as Brecht or Döblin, also used it. Benjamin was aware of these examples, as well as of examples outside Germany, including Joyce's "Ulysses" and Baudelaire's "poetry". And he was - at least in some way - familiar with Dante's "Inferno" and used it, and in particular Dante's conception of hell, for his own purposes. Benjamin's appropriation of the topos of the Inferno has been seen as a critique of capitalism and as a general critique of modernism by means of allegory. In the following analysis, Angela Merte-Rankin takes a slightly different approach and, despite Benjamin's status as an expert on allegory, considers hell in its literal sense as a place and examines the issues of implacement that might follow from this standpoint.
Tierfilme und -reportagen haben Konjunktur, neue Bildtechnologien ermöglichen immer differenziertere Einblicke in Verhaltens- und Lebensweisen bekannter und unbekannter Tierarten. Wir fühlen uns als teilnehmende Beobachter in scheinbar gewagtester Nähe. Das "Privatleben" der Tiere wird bis in den letzten Winkel verfolgt, die Entdeckung der Tierindividualitäten schreitet voran, Tiere bekommen ein Schicksal und wecken Empathie, der vor über 2000 Jahren entstandene Tier-Mensch-Verwandtschafts-Topos, dem noch jeder Gedanke an die Abstammung der Arten fern lag, wird neu belebt. Doch das kulturelle Interesse am Tier erschöpft sich nicht im Fasziniertsein durch perfekt visualisierte Verhaltensstudien oder durch neueste Lesarten der Tiermetaphorik, in der es stets weniger um Tiere als um Menschen geht. Der historische Wandel der menschlichen Tierbeziehung wird in der Tierethik reflektiert.
Seit der Antike umstrittene kognitive Fähigkeiten verschiedener Tierarten bilden heute einen einzelwissenschaftlich fundierten philosophischen Diskussions- und Forschungsgegenstand ("Der Geist der Tiere"). Die Biosemiotik macht große Fortschritte, der Tier-Mensch-Vergleich - bereits ein Kernstück antiker Anthropologie und Ethik - erfährt eine tiefgreifende Umwertung. Dabei steht nicht mehr von vornherein der Mensch im Mittelpunkt; vielmehr wird versucht, das Animalische in seiner Artenvielfalt als eine vielgestaltige eigene Lebensform zu beschreiben; diese ist nicht länger an Maßstäben einer Anthropozentrik zu messen, die im innersten teleologisch geblieben ist. Der Tier-Mensch-Vergleich wird heute nicht mehr so einseitig und ausschließlich auf kognitive Fähigkeiten bezogen. Vielmehr werden weitere Aspekte wie Emotionalität, Wertungs- bzw. Präferenzverhalten, moralanaloge Verhaltensweisen, Antriebsstrukturen, Soziabilität, Zeichenverhalten mit einbezogen. Diese Komplexität der Vergleichspunkte oder Vergleichseinheiten war erst mit dem neuzeitlichen Rationalismus immer mehr eingeschränkt worden. Die gegenwärtig wiedergewonnene Komplexität lässt nach historischen Vorbildern Ausschau halten; da verwundert es nicht, wenn eine Anthropologie ins Blickfeld rückt, die im Tier-Mensch-Vergleich einen ihrer wichtigsten Ausgangspunkte hatte: die antike Anthropologie.
Tento článek je kritickým posouzením předsudku, který stále nedotčeně přetrvává při četbě novely 'Die Judenbuche' Anetty von Droste-Hülshoff. Ve většině interpretací tohoto textu je Friedrich Mergel rozpoznán a analyzován jako vrah. Předložený rozbor ukazuje, že novela obsahuje značný počet rozporuplných prvků, které nedovolují Friedrichovo odsouzení. Proto by mělo být cílem četby zamyšlení, které je v textu obsaženo, a ne rozsudek.
Daß in Italien im Laufe der Jahrhunderte nicht nur "Zitronen" und "Orangen", sondern auch - mit "vollkommener Unverschämtheit" - "Pomeranzen", "Anemonen", "Faschisten" und sogar "Zertissen" blühten, mag jedem Literaturwissenschaftler, der sich entweder mit parodistischen Texten oder mit dem Thema der Italienreise beschäftigt (hat), bekannt sein. Aber daß dort auch einmal Gastarbeiter (nicht) haben blühen können, mutet vielleicht etwas unerwartet an. Die chronologisch jüngste Parodie zu Goethes berühmtem Mignon-Lied ist tatsächlich eine weitgehend unbekannte und erschien lautlos in der 1984 veröffentlichten Gedichtsammlung 'Mein fremder Alltag' vom italienischen deutschschreibenden Dichter Gino Chiellino.
Hier Chiellinos Parodie 'Listige Gesichter' / (für J.W.v.G. in voller Wut):
Weißt du von einem Land, wo
das Leben billig, sehr billig für dich ist
und Sonne dazu?
Siehst du das Land
durch das du mit dem Film im Kopf
die Kamera am Hals
von der Sonnenbrille abgeschirmt
läufst?
Frauen am Fluß
Männer auf der Piazza
Kinder, die im Dreck spielen
listige Gesichter
auf leuchtenden Dias
stillen deine ästhetische
Sehnsucht nach Armut.
Nicht dies,
nicht dies ist das Land
wo die Gastarbeiter blühen!
Um olhar rápido sobre os títulos constantes da sua biblioteca particular torna claro que Pessoa lia os autores alemães em traduções inglesas e francesas. Contudo, um escrutínio mais atento da sua biblioteca e dos seus apontamentos revela que o acompanharam ao longo da sua vida não só uma vontade mas também algumas tentativas concretas de enveredar pelo estudo da língua alemã, no intuito de fazer justiça à sua própria imposição formulada por volta do ano de 1912:
"Um grande poeta retórico ou epigramático pode ser lido em tradução, sendo ela boa; quem não sabe a língua, escusa, havendo essa boa tradução, de por tão pouco a estudar. Mas quem quiser ler um poeta lírico não pode aceitar tradução nenhuma, por fiel que seja à alma do poeta. Tem de aprender a língua em que a poesia foi escrita. [...]"
Sabendo-se que Fernando Pessoa nunca dominou a língua alemã, pretende-se, neste estudo, delinear o percurso da sua relação com esta língua e o modo como ela se liga à sua leitura de um autor que, embora em muito menor escala que Goethe, emerge nalguns pontos da actividade de Pessoa enquanto leitor crítico: Friedrich Schiller.
Navigare necesse est : de Magalhães a Vespúcio ; três navegadores reinventados por Stefan Zweig
(2010)
"Navigare necesse est" [...] Ao longo dos tempos, esta expressão de ousadia conservou-se no discurso literário da cultura ocidental. No século XX, serviram-se dela, por exemplo, dois autores indelevelmente inscritos na memória cultural da língua portuguesa: o poeta Fernando Pessoa, como vimos, e ainda o cantautor Caetano Veloso. […] Nesta linha de apropriação se situa também o escritor austríaco Stefan Zweig quando, em 1937, intitula “Navigare necesse est” o capítulo introdutório da biografia “Magellan. Der Mann und seine Tat”. Ao contrário dos autores de língua portuguesa acima mencionados, Zweig adopta apenas o primeiro segmento do axioma, pois no fenómeno de intertextualidade [...]. Zweig aproveita a expressão no enquadramento semântico original – as navegações –, para a aplicar à linhagem de bravos homens do mar e de eruditos cosmógrafos que tornaram possível a era dos Descobrimentos. Nesse capítulo inicial da narração biográfica, a voz autoral traça uma panorâmica da primeira fase das Descobertas, mostrando como o móbil económico, que desencadeou todo o processo, acabou por trazer à Humanidade ganhos de outra natureza. Assim, os Descobrimentos não terão permitido apenas chegar à Índia e às tão desejadas especiarias: a demanda corajosa e continuada ter-se-á justificado principalmente por desafiar os mitos do oceano, afastar os medos do mar e alargar a nossa dimensão do mundo.
Zarathustra in den Tropen : der Text als Spirale der Wiederholung in Nietzsche und Robert Müller
(2010)
Der Einfluss Nietzsches auf die Autoren des Fin-de-Siècle und des so genannten „Expressionistischen Jahrzehnts“ wird unumstritten von der Kritik akzeptiert. Jedoch beschränkt sich diese Einschätzung auch in den jüngsten Abhandlungen (Ester 2001) aufgrund von Thesen aus den 70er Jahren (zum Beispiel die des kanonischen Bandes von Martens von 1971) auf den Parameter des Vitalismus. Die Untersuchungen zur Rezeption Nietzsches in dieser Zeit konzentrieren sich größtenteils auf 'Also sprach Zarathustra' und ignorieren oder unterschätzen somit andere philosophische Texte des Autors. Auf jeden Fall kann man den deutlichen Einfluss Nietzsches auf den deutschsprachigen Modernismus weder auf den 'Zarathustra' und sein vorherrschendes Thema den Übermenschen, noch auf die metaphysische Dimension seiner Philosophie beschränken, ein Umstand, den auch das fiktionale und essayistische Werk des Wiener Autors Robert Müller (1887-1924) musterhaft unter Beweis stellt. 'Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs' (1915) ist ein Beispiel für einen essayistischen Roman, der nicht nur direkt von der Philosophie Nietzsches, sondern auch gerade von der jeweiligen begrifflichen und diskursiven Methodologie sowie dem jeweiligen textuellen Konzept profitiert. Es handelt sich damit um Faktoren, die auch unter dem Zeichen des Essayismus gesehen werden müssen.
Natürlich wäre es ein vergebliches, möglicherweise unzulässiges Unterfangen, dem Bekenntnis der Kolmar, Rilke habe sie "vielleicht" durch die "Plastik" seiner "späteren Gedichte" und mit "Einzelheiten aus [seinem] Werk beeinflußt", nun nachzugehen und es gar belegen zu wollen. Allein und dennoch: legitimiert wäre man mit jenem Eingeständnis schon und sich selbst der Subjektivität bei solchem Versuch durchaus bewußt.
O artigo resulta de pesquisa realizada entre os meses de abril e junho de 2010 no Instituto de Estudos Brasileiros (USP) e apresenta a listagem completa dos títulos pertencentes à biblioteca de João Guimarães Rosa que de algum modo se relacionam à língua e cultura alemãs. Descrevemos nosso procedimento e procuramos privilegiar alguns aspectos do material estudado, elaborando uma introdução ao levantamento, comentando as presenças mais significativas, os temas recorrentes e a marginália encontrada em volumes de autores como Nietzsche, Kafka e Erich Auerbach, bem como o contexto da relação de Guimarães Rosa com as leituras alemãs. Intentamos contribuir no estudo de fontes da obra do autor de "Grande sertão: veredas" e desejamos por fim divulgar um objeto de provável interesse no âmbito dos estudos germanísticos brasileiros.
Seit gut zwanzig Jahren sind keine Zweifel mehr erlaubt: Heinrich Heine ist in seine deutsche Heimat wieder definitiv heimgekehrt, und die große Heine-Ökumene scheint angebrochen. Denn wohl erstmalig in der Geschichte herrscht heute im deutschsprachigen Raum ein universeller und ungebrochener Konsens zu dem Dichter, daß er jedem, der die wechselhafte Geschichte dieses ungezogen Lieblings der Grazien in seinem Vaterlande kennt, fast verdächtig anmuten muß: Traut man doch gerade als alter Heine-Kämpe da dem Frieden, ja bisweilen den Augen nicht. Und so triumphal der Einzug - und selbst sein Heros Napoleon hat in Düsseldorf wohl keinen triumphaleren gehalten - , den der inzwischen allseits Gefeierte beispielsweise 1997 zum zweihundersten Jubiläum in seiner Geburtstadt hielt, das mit allem gebührenden Glanz und Gloria als mediale Event und internationales wissenschaftliches Happening, gar als germanistisches Love-In begangen wurde, überkam den eingefleischten Heine-Verehrer bei aller Genugtuung dabei doch fast ein leichtes Unbehagen, ein fast nostalgisches Heimweh nach jener nicht allzu fernen, doch nun versunken
anmutenden Äone, wo, wie die verklärende Erinnerung es suggeriert, um und über den Dichter noch so aufwühlend wie aufschlußreich gestritten wurde.
Die Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in Rilkes Dichtung sind vor allem ein Echo seiner 'Confessiones'-Lektüre. Mit diesem Werk hat sich Rilke, wie er berichtet, intensiv befaßt und 1911 sogar begonnen, es ins Deutsche zu übersetzen. Äußerlich faßbare Spuren seiner Augustinus-Lektüre treten wohl erstmals in der Rodin-Monographie von 1902 hervor. Dort spielt Rilke auf eine Stelle aus dem Proömium der 'Confessiones' an, die zusätzlich auf die Untersuchung des Seins der Zeit in deren elftem Buch hindeutet. Die Passage, die mit der Feststellung beginnt, Rodin sei ein Greis, dessen Leben einmal "begonnen" habe, nun "tief in ein großes Alter" hineingehe und für uns so sei, "als ob es vor vielen hundert Jahren vergangen wäre", verbindet Rilke mit einem charakteristischen Gedanken Augustins. Am Beginn seiner Betrachtungen zu Rodin mutmaßt er über dessen Leben: "Es wird eine Kindheit gehabt haben, irgendeine, eine Kindheit in Armut, dunkel suchend und ungewiß. Und es hat diese Kindheit vielleicht noch, denn -, sagt der heilige Augustinus einmal, wohin sollte sie gegangen sein?" Damit klingt schon Rilkes große Sehnsucht nach einem Bleiben an, die zugleich als Nachklang der Zeitauslegung in Augustins 'Confessiones' zu lesen ist und auch seine in vielen Abschattungen immer wiederkehrende Frage bestimmt, die den Titel der vorliegenden Untersuchung bildet: "Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?" Rilkes Dichtung war trotz mancher Distanz zum christlichen Dogma tief in den Themen und Antworten des christlichen Glaubens beheimatet. Dies neu zu beachten, mag eine Aufgabe der Rilke-Forschung wie der Theologie sein.
Diese Studie konfrontiert zwei prominent angelegte, epistemisch komplexe Perspektiven auf den Handlungsverlauf von Storms "Schimmelreiter" und den Charakter seines Protagonisten, Hauke Haien, miteinander: eine medizinische und eine theologische. Bei der Rekonstruktion dieser beiden Sichtweisen werde ich in drei Schritten argumentieren:
I. möchte ich, die virtuelle Perspektive eines (in Bezug auf Storm) zeitgenössischen Lesers mit psychiatrischen Kenntnissen bzw. Interessen einnehmend, eine Art Diagnose Hauke Haiens vorführen. Von diesem Blickpunkt aus gesehen ist der junge Deichgraf (trotz der Storm-typischen ruralen Atmosphäre) ein Neurastheniker, wie er im (Lehr-)Buche steht.
II. werde ich, der genannten medizinischen Perspektive weiter folgend, auf die hereditären Belastungen zu sprechen kommen, denen Hauke und noch mehr seine schwachsinnige Tochter Wienke ausgesetzt sind: In der über drei bzw. vier Generationen angelegten Degenereszenz - mit dem Neurastheniker Hauke Haien in zentraler Mittelstelle - kann, wie ich zeigen möchte, ein Ordnungsprinzip der Novelle gesehen werden.
III. werde ich die (scheinbare) Gegenperspektive, nämlich die eines protestantisch vorgebildeten und/oder gläubigen zeitgenössischen Lesers, einnehmen. Von dieser Warte aus gesehen ist der Tod Haukes und seiner Familie eine Konsequenz des alttestamentlichen Gottesfluchs, der die Übertretung der Zehn Gebote bis in die dritte und vierte Generation hinein
sanktioniert.
Else Buschheuer hat 2000 mit "Ruf! Mich! An!", Charlotte Roche 2008 mit "Feuchtgebiete" ein sogenanntes Skandalbuch veröffentlicht. Beide Romane wurden von der Literaturkritik meist auf eher fragwürdigem Niveau diskutiert. Der Aufsatz sucht Gründe für die oberflächlichen Urteile und stellt heraus, wie beide Romane gängige literarische Muster entgrenzen und damit Erwartungen an literarische 'Hochkultur' unterlaufen. Beide Autorinnen werden der TV-Kultur zugeordnet, was zusätzlich nicht der Vorstellung vom (männlichen) Dichter entspricht und Vorbehalte der Kritiker zu wecken scheint, die über solchen personenbezogenen Vorurteilen eine angemessene Auseinandersetzung mit den Werken unterlassen und damit Ausgrenzungsprozessen Vorschub leisten.
Annes Interesse richtete sich, wie wir dem Tagebuch entnehmen können, besonders auf die zeitgenössische niederländische Literatur. Der Wille des Vaters, den Kindern die Dramen Goethes und Schillers näher zu bringen, ist zwar durch den zitierten Eintrag belegt, welche Bedeutung diese Lektüre für Anne selbst hatte, darüber lässt sich jedoch nur spekulieren. Wir wissen aber aus anderen Quellen, dass viele der von den Nationalsozialisten Verfolgten, Vertriebenen, Eingesperrten und Gequälten aus den Werken der „Klassiker“ und ihrer humanistischen Botschaft Hoffnung schöpften und darin Trost fanden. Gleichzeitig jedoch vereinnahmten die Machthaber dieses kulturelle Erbe propagandistisch für ihre nationalistischen und rassistischen Zwecke. Dass die Ausstellung „Anne Frank – Eine Geschichte für heute“ jetzt in der „Klassikerstadt“ Weimar gezeigt wird, in deren unmittelbarer Umgebung sich mit dem Konzentrationslager Buchenwald ein Ort befindet, dessen Name zu einem Synonym für den nationalsozialistischen Terror geworden ist, kann daher durchaus auch zum Anlass genommen werden, diesen beiden so gegensätzlichen Strängen der Rezeptionsgeschichte der „Weimarer Klassik“ und insbesondere der Werke Goethes und Schillers in den Jahren von 1933 bis 1945 einmal etwas genauer nachzugehen. Das vorliegende Arbeitsmaterial stellt dafür in kommentierter Form exemplarische Texte zur Verfügung.
Goethes Werther im gesellschaftlichen Kontext : Rezeptionsdokumente als Interpretationshilfen
(2009)
In seinem Werther-Aufsatz von 1936 hat Lukács ein bis heute häufig wiederholtes Interpretationsmuster skizziert: Werther als »Repräsentant einer >progressiven Bourgeoisie< in der >revolutionären Periode< ihrer frühen ideologischen und ökonomischen Entwicklung«. Das Werk wird von der DDR-Germanistik einem umfassenden Geschichtsprozeß eingeordnet, der Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik umfaßt, und bei dem es »um den Aufstieg bürgerlichen Selbstbewußtseins, das Wachstum gesellschaftlicher Einsichten und die Eroberung immer neuer poetischer Provinzen« geht. Reuter betrachtet den Roman in diesem Sinn als »Brennspiegel des gesamten sozialen und politischen Zustandes in Deutschland« des späten 18.Jahrhunderts, wobei Werther im Streben nach allseitiger Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ein »fortgeschrittenes bürgerliches Selbstbewußtsein« vertritt.
Wertherschriften
(2009)
Das Erscheinen von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" 1774 wurde zum Medienereignis und Skandalon. Es erschienen Rezensionen, die das Werk überschwenglich lobten oder – vor allem als Verteidigung des Rechtes auf Freitod – skandalisierten, es kamen Nachbildungen, Umbildungen und Parodien auf den Markt, die Geschichte wurde zum Stoff von Gedichten und Dramen, Non-books – wie man heute sagen würde – ergänzten das Angebot: Werther in Bildern als Wandschmuck, auf Porzellan, als Feuerwerk etc. Werther wurde zur Kultfigur: Man kleidete sich wie Werther, wallfahrte zu seinem (bzw. Jerusalems) Grab, manch einer ließ das Büchlein seinen Freund sein und schied gar aus dem Leben mit ihm in der Tasche.
Die neuen Leiden des jungen W. wurden »bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben« und irritierten die Kritiker durch »die ungeheure Breite der Assoziationsmöglichkeiten«. Durch die vier »strukturtragenden Schichten« oder Informationsebenen des Textes kommt es zu interferierenden Perspektiven: 1. die voranstehenden Dokumente (Zeitungsnotiz, drei Todesanzeigen), 2. »die szenisch-dialogisch objektivierte Erinnerungsperspektive der Eltern und Arbeitskollegen«, 3. die Kommentare Edgars »von jenseits des Jordans«, 4. »die Brechung und Verfremdung der gesellschaftlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel«. Plenzdorf führt »seinen Edgar Wibeau gegen Edgar Wibeau« vor, indem er ihn aus dem Jenseits kritisch und ironisch zu sich Stellung nehmen läßt. Der Leser / Zuschauer wird vom Autor geschickt in »eine Mittelstellung zwischen Identifikation (Verständnis) und Distanz (Kritik)« manövriert, sein »Beurteilungs- und Wertungspotential« wird aktiviert.
1978/79 fertigt der englische Bildhauer Richard Deacon eine Serie von Graphiken unter dem Titel "It's Orpheus When There's Singing". Das Zitat entstammt einer englischsprachigen Übersetzung des im Februar 1922 verfassten Gedichtzyklus "Die Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke. Wie für diesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Begegnung mit dem bildnerischen Schaffen Auguste Rodins, so markierte die Lektüre von Rilkes Sonetten für Richard Deacon einen entscheidenden Wendepunkt in der eigenen werkbiographischen Entwicklung. Bei der (Neu-)Formulierung seines künstlerischen Selbstverständnisses bezieht sich Deacon mit Rilke auf den antiken Orpheus-Mythos von der die Körperschwellen und auch die Grenze von Leben und Tod, Beseeltem und Unbeseeltem überschreitenden Macht der Musik. Die transgressive und transformative Wirkkraft der Akustik, die der Mythos verbürgt, steht für zweierlei Entgrenzungsversuche Modell: für eine Entgrenzung der Künste, wie Rilkes Rodin-Rezeption und Deacons Rilke-Lektüre sie jeweils gezeitigt haben, und für eine diese erst bedingende Entgrenzung der Sinne, wie Rilke sie je schon als genuine Leistung der Wahrnehmung begriff und im Gedicht zu befördern strebte.
"Im Jahre 1631 schreibt Melchior Goldast "von Haiminsfeld" einen kurzen Brief aus Frankfurt am Main an seinen jüngeren Zeitgenossen Martin Opitz "von Boberfeld", in dem er dessen Komplimete erwidert. Schon seit langer Zeit bewundert er Opitz' Geist. Er spricht von seinen und von Opitz' laufenden Arbeiten, von seinen Plänen für seine berühmte Bibliothek, und am Schluß auch von seiner eigenen Festschrift, die ein ungenannter Freund für ihn herauszugeben beabsichtigte - ob Opitz vielleicht einige Verse beisteuern wollte? Dieser vor kurzem entdeckte und einzige erhaltene Brief aus dem Goldast-Opitz-Schriftwechsel bezeugt, daß der Respekt, den Opitz beispielsweise in seinem Annolied-Kommentar mehrfach vor Goldast äußerte, auf Gegenseitigkeit beruhte. [...]"
1932 befindet sich die Weimarer Republik an ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefpunkt. Was ließe sich angesichts des angeschlagenen Selbstbewußtsein der Nation besser instrumentalisieren als der hundertste Todestag des Olympiers Goethe, als die Epiphanie des Unsterblichen, als ein "Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur". Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes Werk und den gigantischen staatlichen Feierlichkeiten, mehr noch in den populären Medien, in allen Radiosendern, in sämtlichen Zeitungen, in allen politischen Lagern, von Nationalsozialisten und Katholiken, von Juden und Kommunisten wird Goethe auf fatale Weise ideologisch vereinnahmt.
Zum 16. Geburtstag des Erbprinzen Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach am 3. September 1773 ließ sein Lehrer Christoph Martin Wieland im Weimarer Hoftheater "Die Wahl des Herkules", eine »dramatische Cantate«, aufführen. Das auf den antiken Autor Prodikos von Keos zurückgehende Motiv der Wahl des jungen Halbgotts zwischen dem steinigen Pfad der Tugend und dem verderblichen Weg der Wollust bzw. des Lasters war in allen künstlerischen Gattungen besonders populär. Kaum ein Stoff schien für Fürstenlob und dynastische Repräsentation besser geeignet zu sein. Insofern stand Wielands "Wahl des Herkules", wenngleich im aufklärerischen Duktus akzentuiert, motiv- und formgeschichtlich in einer langen, gesamteuropäischen Tradition. Konnte Wieland 1773 an eine mit der Dynastie oder dem Ort »Weimar« verbundene Tradition des Herkules-Mythos anknüpfen, oder bediente er sich des Motivs schlicht deshalb, weil es sich seiner europaweiten Verbreitung wegen als ein eingängiger und formbarer Stoff für seine reichsweite Wirkungsabsicht anbot? Ich frage also danach, in welchen Medien und in welchen Formen das Herkules-Motiv in Weimar seit dem Ausgang des Mittelalters erscheint, und wie sich Weimar diesen europäischen Mythos aneignete. Diese Spurensuche, die sich auf die bildenden Künste und die Hofkultur (Feste, Gelegenheitsdichtung, Theater) konzentriert, markiert auf vielen Feldern eher Wissenslücken, als sie diese füllen kann; wo Medien und Agenten in der Aneignung, Umformung oder Zurückweisung des Mythos greifbar sind, wird sie (in Ansätzen) zur Transferanalyse, wo diese Vermittler (noch) nicht aufzuspüren sind, bleibt sie eher Rezeptionsgeschichte.
Dass dem abschließenden Lessing-Triptychon in Heiner Müllers "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen ist, wurde von Müller betont. Die Forschung hat das gerne wiederholt. Wesentlich für diese Deutung sind die biographischen Parallelen zwischen Lessing und Müller.