CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Liest man heute, fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, Alexander und Margarete Mitscherlichs "Die Unfähigkeit zu trauern", so kann man überrascht werden. Das Buch ist ein Klassiker und sein Titel zum Schlagwort geworden: für die Verzögerung der Vergangenheitsbewältigung, für die Verspätung, mit der sich die Deutschen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben, für den Unwillen, deren Opfer anzuerkennen. Im Buch liest sich das allerdings etwas anders, denn dass die Deutschen nicht getrauert hätten, bezieht sich nicht primär - wie wir wohl erwarten würden - auf die Opfer
'Weltliteratur' ist heute in aller Munde. Längst bezeichnet der Ausdruck nicht mehr einfach eine Menge von Texten, sondern steht für einen Diskurs über das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft jenseits der Nationalphilologien. Vor allem im angloamerikanischen Raum wird 'world literature' heiß diskutiert, und inzwischen nimmt die Diskussion auch in Deutschland Fahrt auf. [...] Ein solches Konzept entwirft auch Ottmar Ettes jüngster Band "WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt (Stuttgart: Metzler, 2017)". Er konzipiert Weltliteratur aus der Perspektive einer Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft - einem Projekt, zu dem der Autor bereits zahlreiche Arbeiten vorgelegt hat. Denn wenn Literatur das Wissen des Lebens und des Lebendigen in ganz besonderer Weise erlebbar machen könne, dann könne sie auch ein Wissen von den Komplexitäten und Asymmetrien der modernen Welt fortgeschrittener Globalisierung vermitteln. In "WeltFraktale" wird das Lebenswissen der Literaturen der Welt an einer Reihe von Aufsätzen zur Reiseliteratur, zu neuen transnationalen Schreibweisen und zu transnationalen Kulturtheorien exemplifiziert, die sich locker um einige programmatische Überlegungen gruppieren, um die es im Folgenden vor allem gehen soll.
Nichts zeigt deutlicher als das Märtyrerdrama, wie sehr Theatralität und Darstellung dem Martyrium inhärent sind, wie aber auch die Figur des Märtyrers spezifische Formen von Theatralität generiert. Dem Märtyrer als Zeugen ist immer schon eine bestimmte Art des Zeigens eigen, er muss nicht nur leiden, sondern dieses Leiden auch zur Schau stellen. Im Fall des Schauspieler-Märtyrers gehen dabei Sein und Schein ineinander über, was man sowohl als Kritik der Scheinhaftigkeit und Eitelkeit der Welt lesen kann - wird doch selbst der Mensch hinter der Maske, der Schauspieler Philemon, als neue Maske entlarvt - als auch als Einbruch von Präsenz in diese Welt, der als Konversion dramatisiert wird. Auf diese zielt das Stück denn auch letztlich ab, denn das abschließende Bekenntnis des Arrianus ist über die Rampe hinweg an die Welt gerichtet: So wie der Schauspieler Philemon den Märtyrer Arrianus hervorbrachte, so soll das Schauspiel nun auch sein Publikum zur Konversion überreden, auf die das Jesuitendrama wesentlich abzielt. Das Martyrium wird, gerade wenn es theatral dargestellt wird, noch mehr Zeugen produzieren. Die Doppelfigur des Schauspieler-Märtyrers ist damit zugleich reflexiv und performativ, sie ist weder eine Auflösung des christlichen Ernstes in bloßes Spiel, noch eine bloße Authentifizierungsgeste des Theaters, weil sie sich eben als Doppelfigur einer solchen Profilierung entzieht und gerade in ihrer Doppeldeutigkeit höchst folgenreich für die europäische Theatralität der Neuzeit ist. Denn vermittelt über diese Figur schreiben sich Elemente der christlichen Tradition in das neuzeitliche Theater ein, die auch dort noch wirksam sind, wo sie nicht mehr direkt religiös semantisiert werden. Das gilt, wie im Folgenden zunächst allgemein umrissen werden soll, (1) insbesondere für das dem Märtyrer spezifische Verhältnis von Körper, Person und Wort, für die Beziehung von Theater zu seiner 'Wirklichkeit' und schließlich für den Raum des Theaters selbst oder für das Theater als Medium. Entfaltet werden kann das an einer Reihe von Stücken, die den Schauspieler als Märtyrer und den Märtyrer als Schauspieler behandeln: (2) an Lope de Vegas 'Lo fingido veradero' (gedruckt 1622), (3) an Jean Rotrous 'Le Veritable Saint Genest' (1645) und (4) an Desfontaines 'L’illustre Comedien' aus demselben Jahr. In ihrer motivischen und zeitlichen Nähe entfalten sie nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten, die der Doppelfigur des Märtyrer-Schauspielers innewohnen, sondern zeigen auch bereits in nuce, dass die Theatralisierung des Märtyrers dessen religiösen Anspruch keineswegs relativiert, sondern ihn eher in sich einschließt.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Das Marburger Religionsgespräch kann man als eine Urszene des neuzeitlichen Übergangs von Präsenz- zu Repräsentationskultur lesen, die sich an dem zentralen christlichen Ritual der Eucharistie entfaltet: Zwinglis Versuch, das Abendmahl als zeichenhafte Repräsentation zu verstehen, steht Luthers Bestehen auf der Präsenz gegenüber. Urszenen sind freilich immer komplex – und komplexer, als dass sie in allgemeine Formeln wie etwa ‚von der Präsenz zur Repräsentation‘ aufzulösen wären. Bemerkenswert ist bereits, dass der Dissens nicht zwischen der traditionellen Interpretation als Messe und der neuen Abendmahlspraxis verläuft, sondern innerhalb der letzteren. Bemerkenswert ist weiter, dass nicht zwei Deutungen miteinander konkurrieren, sondern mindestens drei Modelle im Spiel sind, die sich verschiedener Begrifflichkeiten bedienen: Form und Substanz in der Transsubstantiationslehre, Sinn und Bedeutung in Zwinglis Modell, Tropen und Redefiguren bei Luther. Diese Modelle durchdringen einander nicht nur, sie werden auch eigenartige Kompromisse eingehen, wenn etwa die lutherische Theologie bald in ihrer Polemik gegen die Reformierten immer häufiger auf das Substanzmodell zurückgreifen wird. Die Rede von Modellen macht aber auch deutlich, dass hier mehr auf dem Spiel steht als einfache konzeptuelle Unterscheidungen: Es geht auch um das Verhältnis von Diskursen, Disziplinen, Evidenzquellen, also etwa um die Frage, welche Argumente in der Kontroverse herangezogen werden dürfen, oder wie man mit der Schrift umzugehen habe – bis hin zu Praktiken der Inszenierung dieser Argumente wie Luthers Kreideschrift. Vor allem wird die Logik der Kontroverse deutlich, in der sich beide Seiten beständig voneinander abgrenzen und gerade dadurch gegenseitig negativ bestimmen, so dass auch die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern Teil der Kontroverse ist und sich in ihr herausbildet.
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Wenn man in der Bibelkritik nach Figuren der Fälschung sucht, muß man eine Reihe verwandter Phänomene wie Betrug, Plagiat, Textverderbnis, Kopie usw. miteinbeziehen: jene Konzepte, die an die Stelle der Fälschung treten, ihr aber oft zum Verwechseln ähnlich sehen. Zu untersuchen ist daher, wie die Frage, ob die Bibel oder Teile von ihr echt oder gefälscht sind, nicht nur immer wieder anders beantwortet, sondern auch immer wieder anderes gestellt wird. Im folgenden werden daher an vier Autoren - Baruch de Spinoza, Jean Astruc, Hermann Samuel Reimarus und David Friedrich Strauß - vier Aspekte der Fälschung thematisiert: Fälschung als Grenzsetzung, Materialität der Fälschung, Urfälschung und schließlich die doppelte Aufklärung der Fälschung.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
Prophet
(2016)
Propheten sind in der Moderne ein Anachronismus: Unsere Zukunft gilt als 'kontingent' und wird nicht 'vorhergesagt', wer 'Visionen' hat, so eine bekannte Äußerung Helmut Schmidts, der möge zum Arzt gehen, und der moderne Prognostiker wird betonen, dass er eben kein Prophet mehr ist. Der Prophet ist allenfalls ein Gegenbild. Das ist möglich, weil er eine lange Faszinationsgeschichte hat, in der ihm ein hohes Maß an Prägnanz und Wiedererkennbarkeit zugewachsen ist. Der Prophet ist eine echte 'Figur' der Zukunft: eine bestimmte Konfiguration des Umgangs mit und des Sprechens über Zukunft, die leicht zitierbar und zugleich hochgradig deutungsfähig ist. Dabei 'weiß' der Prophet die Zukunft nicht nur, sondern kann von diesem Wissen aus über die Gegenwart urteilen; er hat so etwas wie 'moralische Autorität', die mit Mahnung, Kritik, Trost und Appell assoziiert wird. Der Prophet, im Rahmen der Etymologie des griechischen prophetes am ehesten als 'Fürsprecher' zu übersetzen, spricht 'im Namen' einer höheren Wahrheit, er tritt als Bote eines höheren Wissens oder einer göttlichen Instanz auf, von der er auch sein Wissen von der Zukunft bezieht. Weil dieses Wissen exklusiv durch ihn vermittelt wird, hat er eine Verantwortung für dessen Übermittlung. Daraus resultiert oft eine Spannung: Einerseits ist der Prophet eine individuelle, unvertretbare Figur, andererseits Sprecher einer 'Sache', der er sich unterordnet. Diese Spannung hat sich kulturell als ausgesprochen produktiv erwiesen und bringt eine spezifische Rhetorik der Zukunft hervor, die bis in die Moderne hinein auch noch dort wirkt, wo der Prophet als Gegenbild beschworen wird.