CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Frühe Leser von Kafkas Erzählung 'In der Strafkolonie' verwarfen ihre schockierende, perverse Offenheit. Wie Hans Beilhack schon 1916 schrieb, sei Kafkas Erzählung sadistisch, und ihr Autor sei ein "Lüstling des Entsetzens". Otto Erich Hesse ging einen Schritt weiter, indem er behauptete, Kafka und seine Leserschaft seien "Ekel erzeugen[de]" sexuelle Scheusale, die "sich an derartigen Quälereien erlustier[en] und aufgeil[en]." Selbst Kafkas Bewunderer fühlten sich verpflichtet, sich von den sexuellen Exzessen zu distanzieren, wie auch von der Beschuldigung, daß sie perverses Vergnügen aus ihr zögen. Kurt Tucholsky, der erste öffentliche Verteidiger der Erzählung, befürchtete, Kafkas Beschreibungen von Nadeln, die einen nackten Körper durchdringen, würden Vergleiche zu den allgemein bekannten sadomasochistischen Schriften des "parfümierten Salonsadisten" Hans Heinz Ewers ziehen. Doch Tucholsky betonte, daß man weder Kafka noch den Protagonisten seiner Erzählung, einen Offizier, korrekterweise als einen "Sadist[en]" bezeichnen könne. Zwar mag der Text einem perverse sexuelle Phantasien ins Gedächtnis rufen, aber das eigentliche Thema von In der Strafkolonie ist politischer Natur: Es geht um die Schilderung eines militärischkolonialen Regimes, das Amok läuft.
Surrealismus - das steht für Skandal, Empörung, Schock. "Die Provokation war sogar eine wesentliche Daseinsberechtigung dieser Bewegung." erinnert sich Mitbegründer Philippe Soupault: Tristan Tzara gelang ein wirklicher Skandal als er vorschlug, während der Versammlung ein Gedicht zu verfassen, aus Worten, die auf Papierschnitzeln geschrieben und in einem Hut zusammengeworfen wurden. [...] Wir waren [...] von dem Resultat entzückt, denn dieser beginnende Skandal machte uns endgültig klar, dass wir systematisch Skandal erregen mussten, wenn wir unsere Empörung ausdrücken und verbreiten wollten. [...] Schimpfworte und faule Eier, Tomaten und Fleischreste wurden uns in reichlichen Mengen an den Kopf geworfen, wir wurden in allen Tonarten beschimpft, was uns überzeugte, dass wir auf gutem Wege waren.
Wird man als Linguistin - und zwar ausdrücklich in dieser Funktion und nicht in der auch möglichen Rolle als Fotografin oder Bildwissenschaftlerin - dazu eingeladen, über die Documenta zu berichten, so ist man positiv überrascht. Man freut sich, weil man als Vertreter/in einer die Sprache untersuchenden und vermittelnden Disziplin verschiedentlich Vorbehalten seitens Fachfremder begegnet. Diesen zufolge wird Sprachwissenschaft - wenn sie überhaupt in interdisziplinäre Zusammenhänge eingebunden wird - eher bei den Naturwissenschaften als bei den Geisteswissenschaften geortet. Ihre Tätigkeitsfelder lokalisiert man in („unschöpferischen") Bereichen wie »Wissenschaft über Sprachtherapie bis hin zur Entwicklung automatischer Sprachverarbeitungssysteme«[3]. Dass Linguisten tatsächlich erfolgreich und anwendungsorientiert an formal-eindeutigen, programmierbaren Sprachen forschen und den Kompetenzerwerb normgerechten Sprachgebrauchs fördern, ist die eine Seite. Die andere Seite ist, pauschalisierend formuliert, dass genau deswegen künstlerisch-kreative Kreise Linguisten häufig unter „Strukturalismus-Verdacht" stellen. Assoziiert mit der Annahme grundsätzlich möglicher Zerlegbarkeit, Klassifizierbarkeit, Systematisierbarkeit von Welt distanziert uns die Zuschreibung zum strukturalen Denken von den aktuellen interdisziplinär-kulturtheoretischen Diskussionen, in denen eben diese Schlagwörter als Reizwörter einen hohen Provokationswert haben.
Der Untertitel meines Textes spielt offensichtlich mit einer Phrase Martin Heideggers, die häufig verkürzt wie eine simple sprachliche Gleichung formuliert wird: Herkunft = Zukunft. Der "Primat der Zukunft", die Akzentuierung des herzustellenden Werks, welche die Vergangenheit der kommenden Zeit unterwirft, ist eine rhetorische und epistemische Figur, die ich einerseits aus spezifisch medienarchäologischer Sicht kommentieren, anderseits mit einem Erweiterungsangebot bedenken möchte, das auf aktuelle kulturtechnische Sachverhalte reagiert. Die Unterwerfung des gerade Vergangenen unter die Anforderungen des Künftigen als eine Geste gleichsam ökologischer Verkoppelung. Kulturproduktion im Energiesparmodus: Die Avantgarde – wenn man diesen Begriff noch verwenden darf – wird durch die Nutzbarmachung und schöpferische Neuinterpretation der vergangenen Gegenwarten brisant und mitunter brillant, wenn sie den Transformationsprozess in ästhetisch überzeugender Manier zu schaffen in der Lage ist. Ich diskutiere das Thema in vier Abschnitten: zwei Hinführungen über einen Umweg, einem exemplarischen Mittelteil und einer vorsichtig verallgemeinernden Bewegung als Ausgang, die keinesfalls als letztes Wort in unserem Kontext begriffen werden möchte, sondern als Beginn einer Diskussion.
Außer Streit steht die Existenz eines Literaturkanons, der durch sozialen Konsens ästhetische Wertungen bestimmt und vom herrschenden Kunstverständnis geprägt ist. Besonders in seinem selten umstrukturierten Kern ist der Literaturkanon eine implizite Auswahl der als normsetzend und zeitüberdauernd erachteten künstlerischen Werke. Diese gelten als vorbildhaft, zugleich meist in ihrer ästhetischen Qualität als unerreichbar. Abgesichert sind sie in den Urteilen meinungsbildender Gruppen, besonders durch Zirkel, die sich Mechanismen von Salon und Tafelrunde zu eigen gemacht haben. [...] Der Kanon bleibt nicht unverrückbar. Er ist, über einen längeren Zeitraum betrachtet, tatsächlich immer wieder in Bewegung gewesen. Die Prozesse der Kanonisierung, der Aufnahme oder des Ausschlusses verlaufen in direkten oder indirekten Zusammenhängen mit poetologischen Debatten, mit einem Wandel des Kunstbegriffes, mit kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen. [...] Verhandelt werden jeweils Identität und Differenz, Eingrenzung und Ausgrenzung. Eine kulturelle Macht verteilt symbolisches Kapital, auch materielle Güter. Im Kanon steckt ein Autoritätsanspruch, äußert sich ein hierarchisches Denken, das Kunst und Kunstbetrachtung in eine selbstgefällige Beziehung setzt.
"Das Publikum schrie, brüllte, tobte vor Lachen, fiel von den Stühlen, japsend", überliefert Lion Feuchtwanger die Wirkung des Münchner Komikers Karl Valentin, eines der großen Dramatiker deutscher Sprache. Hermann Hesse erzählt von "brausenden Lachsalven", die Zuschauer seien "wie Besessene vom Dämon gestoßen" worden, so sehr hätten sie gelacht. Kurt Tucholsky beschreibt einen Saal voller Lachen; Rudolf Frank berichtet von "Wogen unbändigen Lachens, die das Haus überfluteten". Und Bertolt Brecht schüttelte sich, wie er sich erinnert, vor Lachen. Im Publikum saßen begeistert die Brüder Mann, Alfred Polgar, Franz Blei, Carl Zuckmayer, Samuel Beckett (der "recht traurig viel gelacht" habe) und nicht wenige der Kulturgrößen der 1920er und 1930er Jahre. Brecht, der mit Valentin auch auf dem Oktoberfest spielte und ihm einen entscheidenden Hinweis für den Verfremdungseffekt verdankte, bezeichnete ihn als eine der "eindringlichsten Figuren der Zeit". Die Literaturgeschichten hingegen schreiben Karl Valentin keine besondere Bedeutung zu - wie sie überhaupt der Komik wenig Aufmerksamkeit widmen. Die Geringschätzung einer "Unterhaltung" verweist die komische Figur von der Bühne des Bedeutsamen: Einem Publikumserfolg mißtraut der eifersüchtige Ästhet, der sonst das Wort "Volk" politisch-moralisch gern im Munde führt.
'Übergang' ist eine Metapher für die Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse. Sicher ist ihr Bedeutungsfeld weiter. Kurt Röttgers (2007) nennt neben der anthropologischen Konstante: dem Übergang als Erfahrung von Tod und Geburt, den Übergang als Metamorphose, den Übergang als Transzendieren sowie dessen Negation: nämlich das Transzendieren als ein unstatthaftes, gar mit Tabu belegtes Übergehen von einer Sphäre in die andere. Hinüberzugehen kann, so Röttgers weiter, auch bedeuten, über eine Schwelle zu gehen, fortzuschreiten zu Neuem und in diesem Akt des Fortschreitens das Werden und die Geschichte, ja die Geschichtlichkeit selbst, auch in ihrer radikalen Verneinung alles Vorangegangenen, zu bejahen. Gerade im Zusammenhang mit letzteren Bedeutungszuschreibungen hat die Metapher des Übergangs im geschichtsphilosophischen beziehungsweise bewusstseinsphilosophischen Konzept des Deutschen Idealismus ihre Nobilitierung erfahren. Bewusstseinsphilosophisch ist dieses Konzept insofern, als es von den seit Descartes zentralen Prämissen der Orientierung an sich selbst sowie der Bildung von Allgemeinbegriffen ausschließlich auf der Grundlage von Erfahrung und damit auf der Grundlage von etwas zunächst in der Vorstellung Gegebenem ausgeht (vgl. Zeuch 2001). Die Frage, der ich im Folgenden nachgehe, ist, ob diesem Konzept, das seinen Kairos um 1800 hat, ein besonderes Potential zukommt, das der Ideengeschichte gegen ihre Kritiker auch in der Gegenwart eine 'raison d'etre' verleiht, wenn es um den Rekonstruktionsversuch komplexer gesellschaftlicher, politischer, philosophischer Zusammenhänge und Kontinuitäten über mehrere Epochen oder Zeitabschnitte hinweg geht.
Ich möchte in folgendem Beitrag der Frage nachgehen, ob, und wenn ja, worin die sachliche Berechtigung und Plausibilität der Annahme liegen könnte, dass die Literatur einen Gegenstand hat. Eine Erfahrungstatsache jedenfalls ist, dass bis jetzt noch kein physisches oder psychisches Autodafé es fertig gebracht hat, das Bedürfnis des Menschen zu erzählen, durch Abschreckung stillzustellen. Ja, angesichts der Gefahr des Verlustes scheint die Bedeutung der Literatur noch größer zu werden. Und doch ist, was eine anthropologische Konstante zu sein scheint, seit der Krise der Moderne, seit der Kritik an der Zivilisation grundlegend in Frage gestellt.
Als "Mittelpunkt und Leitstern" der von ihm gegründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek hat Aby Warburg die "Frage nach dem Einfluss der Antike auf die späteren Kulturepochen" bezeichnet. Es mag daher nicht verwundern, dass unter den Wissenschaftlern, die in den Jahren von 1921 bis 1931 für einen Vortrag nach Hamburg eingeladen worden sind, auch zahlreiche Klassische Philologen waren. Der auch heute noch bedeutendste und bekannteste Philologe, der eine Einladung nach Hamburg angenommen hat, ist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 26. April 1924 hat Wilamowitz in der Bibliothek Warburg einen Vortrag mit dem schlichten Titel "Zeus" gehalten. [...] Wilamowitz' Beziehung zur Bibliothek Warburg ist in der Wilamowitz-Forschung bislang kaum beachtet worden. Dabei ist Wilamowitz' Vortrag schon deshalb von besonderem Interesse, weil er eine Vorstudie zu seinem letzten großen, unvollendet gebliebenen Werk "Der Glaube der Hellenen" bildet. [...] In Anbetracht des von Wilamowitz gewählten Themas erscheint es besonders reizvoll, der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja, wie sein Vortrag Bezug nimmt auf die kulturwissenschaftliche Methode und die Forschungsfragen der Bibliothek Warburg. Im Folgenden werde ich zunächst auf Wilamowitz' akademische Karriere, sein Verständnis der Klassischen Philologie und seine Ansichten zur griechischen Religion eingehen; anschließend werde ich den Vortrag im Hinblick auf die Beziehung zur KBW und zu Warburgs eigener Forschung diskutieren. Für Davide Stimilli ist Wilamowitz' Vortrag ein "verpasster Austausch". Es zeigt sich aber, dass dies nur äußerlich zutrifft; inhaltlich und methodisch erweist er sich als kritisch-konstruktiver Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Programm der Bibliothek.
Richard Reitzenstein ist neben dem Philosophen Ernst Cassirer der Forscher, der den größten Einzelanteil an den Publikationen der Bibliothek Warburg hat. Wie erklärt sich diese mehrjährige enge Zusammenarbeit? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen Reitzensteins Vorträgen, dem Forschungsziel der KBW und den kunsthistorischen Studien von Aby Warburg und Fritz Saxl? Wie verhält sich insbesondere Reitzensteins Fokussierung auf die altiranische Religion als religionsgeschichtliche Einflusssphäre zu dem ausdrücklich auf die Antike bezogenen rezeptionsgeschichtlichen Forschungsinteresse der KBW? Wie haben die Beteiligten selbst ihre Zusammenarbeit gesehen? Um die Beziehung von Reitzenstein und der Bibliothek Warburg wissenschaftsgeschichtlich näher zu bestimmen, werfe ich zunächst einen Blick auf Reitzensteins wissenschaftliche Karriere, die sich bereits zum Zeitpunkt seines ersten Vortrags über fast 40 Jahre erstreckte. Anschließend wende ich mich den fünf Vorträgen zu und arbeite verschiedene Punkte heraus, die sich auf das Projekt der Bibliothek Warburg beziehen. Außerdem berücksichtige ich die Korrespondenz zwischen Reitzenstein und der KBW anhand der im Warburg Institute Archive in London aufbewahrten Briefe und Postkarten. Zum Abschluss sollen die einzelnen Aspekte dann zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.