CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Leidtragende Körper
(2019)
Warlam Schalamow (1907–1982) ist der einzige Schriftsteller in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dem Körpergedächtnis für sein eigenes Schreiben wie für das menschliche Gedächtnis an sich besonderen Stellenwert beimaß. Nahezu all seine überlieferten Prosatexte und Gedichte sind nach den vierzehn Jahren Gefangenschaft in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, verfasst worden. Alles, was er dort, am "Pol der Grausamkeit" des GULag durchleben musste, hat sich unauslöschlich in sein Gedächtnis wie in seinen Körper eingebrannt. Die Goldgrube der Kolyma, in der die Häftlinge bei Temperaturen bis zu minus 55 Grad arbeiten mussten, ließ den Überlebenden zeitlebens nicht los. Seinen eigenen Erfahrungen entnahm Schalamow ein neues, erschreckendes Wissen über die Verfasstheit des Menschen, über "das Gesetz des Verfalls" ebenso wie über "das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall". Dieses Wissen mit literarischen Mitteln gegen das Vergessen wachzuhalten, hieß vor allem eines: "Wichtig ist das Wiedererwecken des Gefühls". Eben dieses Heraufholen des damaligen Gefühls ist für ihn die Garantie von Wahrhaftigkeit.
Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm "Solaris". Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen 'besucht', die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station. [...] Andrej Tarkovskij (1932–1986) zählt heute zu den großen, weltweit bekannten russischen Filmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Unter Cineasten war er 1972 schon längst kein Geheimtipp mehr; "Solaris" war sein dritter abendfüllender Spielfilm. Der Sohn des Dichters Arsenij Tarkovskij hatte bis 1960 am Moskauer Staatlichen Filminstitut in der Regieklasse von Michail Romm studiert. Seine Anfänge als Regisseur fielen in die sogenannten Tauwetter-Jahre, als sich der sowjetische Film von der heroischen Ästhetik der Stalinzeit befreite, individuelle Schicksale stärker in den Blick nahm und in Anlehnung an den Avantgardefilm der 1920er Jahre teils mit subjektiver Kameraführung experimentierte. [...] Das Drehbuch zu "Solaris" schrieb Tarkovskij gemeinsam mit dem Schriftsteller Fridrich Gorenstejn (1932–2002). Später bekannte Tarkovskij, dass ihn Lems eigentliche Science-Fiction-Geschichte über das Aufeinandertreffen von menschlicher Vernunft und einem so unergründlichen kosmischen Phänomen wie dem schweigenden, aber offenbar lebendigen Ozean auf dem Planeten Solaris wenig interessiert habe. Deshalb verschober im Film die Perspektive auf die ethische Dimension jeglichen Handelns des Menschen - sowohl gegenüber seinen Mitmenschen als auch gegenüber der Zukunft der Erde.
Denis Thouard geht der Frage nach, inwiefern aufklärerische Forderungen nach Verständlichkeit und Popularität auf Inhalt und Zuschnitt der Philosophie zurückwirken. Indem das moderne Systemdenken nach den Bedingungen des (eigenen) Wissens frage und es folglich nicht mehr von außen darstellbar sei, müsse das System dem Leser nunmehr im Prozess des Entstehens vorgeführt und nachvollziehbar gemacht werden. Dies habe zwar - etwa bei Kant oder Hegel - oft eine besonders esoterische Ausdrucksweise zur Konsequenz, doch könne diese ihrer Intention nach nichtsdestotrotz eminent pädagogische oder gar populäre Zwecke verfolgen.
Mein Beitrag handelt von zwei Begriffen, die gleichermaßen gut eingeführt sind, aber üblicherweise nicht gemeinsam verhandelt werden: Sympathie und Synergie. Die Disziplinen und Kontexte, in denen sie heute auftreten, sind weit voneinander entfernt: Die Synergie hat ihre Domänen in Technik und Wirtschaftswissenschaft, der Sympathie sind vor allem Philosophie und Psychologie zugetan. Freilich sind diese Wörter so nahe miteinander verwandt, dass es verwunderlich oder gar bedauerlich ist, sie beziehungslos nebeneinander stehen zu sehen. Immerhin gibt es Diskussionen, in denen dieses Tandem zwar nicht namentlich auftritt, aber der Sache nach zum ema gemacht wird. Diese Diskussionen möchte ich aufgreifen und vorantreiben, denn das Tandem Synergie/Sympathie hat, wie ich meine, erhebliches sozialtheoretisches Potential.
Nach Günter Thomas, der sich mit verschiedenen Formen religiöser Zeugenschaft befasst und kritisch in Frage stellt, ob es sich ausgerechnet beim Märtyrer um den paradigmatischen religiösen Zeugen handelt, ereignet sich Zeugenschaft in Situationen und Konstellationen. Stärker als um eine Suche nach einem Grundmodell von Zeugenschaft geht es Thomas um eine Untersuchung der "spezifischen Differenzen und Differenzierungen" in verschiedenen sozialen Sphären. Eine genauere Untersuchung der religiösen Zeugenschaft erlaubt es, unterschiedliche "Modi der Gewissheit" und "Techniken der Überzeugung" zu differenzieren und die der religiösen Zeugenschaft eigenen "originären Konstellationen" herauszustellen. Dabei thematisiert er vier Typen des religiösen Zeugnisprozesses: den Auferstehungszeugen, den Märtyrer, das diakonische Zeugnis und die Zeugniskette. Das Zeugnis des Märtyrers wird als Tatzeugnis dargestellt, das von einem weiteren Zeugen (mündlich oder vor allem schriftlich) beglaubigt werden muss. Ein unsichtbares Martyrium kann nicht Zeugnis sein; "[d]ie Gewissheit der Märtyrer ist so eine diskursive Konstruktion von Beobachtern". Auch hier findet sich die doppelte Struktur des Zeugnisses. Thomas weist darauf hin, dass es gerade im Bereich der religiösen Zeugenschaft nicht nur natürlich-sprachige Zeugnisse, sondern - wie am Beispiel der Diakonie zu beobachten - Handlungen gibt, die als Tatzeugnisse Ereignisse mit performativer Dimension sind. Da diese Handlungen selbst Medien der Kommunikation sind und im sozialen Kontext Dynamiken entfalten, ist auch hier von einer hohen Komplexität der jeweiligen Konstellationen zu sprechen.
Im Vorwort zu dem 1971 erschienenen ersten Band des 'Historischen Wörterbuchs Philosophie' bezieht Joachim Ritter Stellung zu einer bewusst gewählten Leerstelle im begriffsgeschichtlichen Projekt: "Der Herausgeberkreis", so Ritter, habe "nicht leichten Herzens darauf verzichtet, Metaphern und metaphorische Wendungen in die Nomenklatur des Wörterbuches aufzunehmen". Obwohl man die Bedeutung von Metaphern im Prozess der philosophischen Begriffsbildung anerkenne, habe man sich gegen eine Berücksichtigung figürlicher Ausdrücke entschieden, weil das Lexikon mit einem solchen Unternehmen "überfordert" und auf "unzureichende Improvisation" angewiesen gewesen wäre. Gegenstände der Artikel seien deshalb ausschließlich "Begriffe und Termini". Diese apologetische Passage hat eine konkrete Adresse. Sie nimmt Bezug auf die Verselbstständigung eines Forschungsansatzes, der von Hans Blumenberg erstmals 1958 im Rahmen einer Tagung der Senatskommission für Begriffsgeschichte unter dem Titel Paradigmen zu einer Metaphorologie vorgestellt wurde und sich von einem "Teilbereich" oder einer bloßen "Erweiterung" der Begriffsgeschichte "um ein spezifisches Kapitel" bald zu einem "Alternativprojekt" zur begriffsgeschichtlichen Forschung entwickelte. Als Ritter Blumenberg bei der Planung des 'Historischen Wörterbuchs der Philosophie' Mitte der 1960er Jahre um Beiträge unter anderem zur Begriffsgeschichte der Metapher und zur Metaphorologie bat, erhielt er eine "höflich[e]" Absage.
Der Grund für diese Entscheidung dürfte ein zweifacher gewesen sein. Zum einen ist eine Unterscheidbarkeit von "metaphorischen Wendungen" und präziser Terminologie, wie Ritter sie in der Vorrede nahelegt, aus der Perspektive Blumenbergs gar nicht aufrechtzuerhalten. Der metaphorische Gehalt philosophischer Begriffe, so lautet eine Hauptthese der Paradigmen, tritt oftmals nicht explizit "in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung", sondern ist als bildlicher Hintergrund, als latente Leitvorstellung auch da wirksam, wo augenscheinlich bloß terminologische Aussagen auftreten.
Wenn ich im folgenden markanten Zeit- bzw. Kulturdiagnosen in einigen Texten Enzensbergers nachgehe, dann geschieht dies in dem Bemühen, nicht nur einzelne Themen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz aufzugreifen und zu rekonstruieren, sondern sie im Rahmen von Enzensbergers Selbstverständnis als Intellektueller und Essayist zu erörtern. […] Als unabhängiger, frei denkender Schriftsteller fühlt er sich weder einer philosophischen oder wissenschaftlichen Theorie noch einer politischen Fraktion auf Dauer verpflichtet, und in diesem Weder-Noch hat der Essay als Form seinen traditionellen Ort.
Ich möchte mich im folgenden mit einem Autor beschäftigen, dessen Schreiben von vornherein niemand als spannend und unterhaltsam bezeichnen würde, der aber unter den Autoren einer Generation ganz unzweifelhaft als einer der bedeutendsten und reflektiertesten gilt: Durs Grünbein. Grünbein hat seine
Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken während des Jahres 2000 kontinuierlich aufgezeichnet und sie in dem Buch "Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen" veröffentlicht. Der Titel ist mehrdeutig, da er sich sowohl auf diese kulturell und historisch einschneidende erste Jahr des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends bezieht als auch auf das erste Jahr einer Vaterschaft verweist. Und so finden sich in dem Tagebuch zum einen Aufzeichnungen, kleine Essays und verdichtende Beschreibungen zu Themen der Zeit (etwa zum Beginn des biopolitischen und -wissenschaftlichen Zeitalters), der zeitgenössischen Literatur, zur Poetik des Gedichts, zur Philosophie und zur eigenen Familiengeschichte während der DDR-Zeit und im vereinigten Deutschland. Zum anderen zeichnet
das Tagebuch die einzelnen Stationen seiner Vaterschaft vor und nach der Geburt seiner Tochter Vera nach. Seine ersten Begegnungen und Erlebnisse mit der im Sommer 2000 geborenen Tochter werden auch in Gedichten manifest, die den täglichen Tagebuchaufzeichnungen beigefügt sind.
Es geht im Folgenden vor allem darum zu untersuchen, wie männliche Autoren in ihren literarischen Texten das Verhältnis von Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarischer Arbeit modellieren. Das impliziert, dass es um den Blick auf männliche Autorenexistenzen geht, nicht aber um die Rekonstruktion und Interpretation etwa von x-beliebigen Vater-Sohn-Verhältnissen in der Literatur. Gefragt werden soll, wie Männer ihr Leben als Partner, Ehemänner, Väter und zugleich als literarisch Schreibende formen; wie sie ihre Zeit auf die Familie und auf das Arbeiten verteilen; schließlich, wie sich die Schriftsteller-Protagonisten in dieser geteilten Existenz räumlich einrichten. Letzteres ist besonders interessant angesichts der Tatsache, dass Schriftsteller bzw. Intellektuelle oftmals zu Hause arbeiten und von daher nicht in der räumlichen Aufspaltung von Arbeitsplatz (Büro) und privater Wohnung leben.
Weiter lässt sich fragen, wie die geistigen Arbeiter in den literarisch-autobiographischen Texten den Verlust an Autonomie, an Unabhängigkeit, an Ruhe, Einsamkeit und Konzentration vor allem in der Lebensphase erleben, in der sie Väter werden und sich mit Frau und Kind zu Hause einrichten müssen. In welcher Weise sorgen sie sich um ihr Kind? Wie betrachten sie das Verhältnis zu ihrer jeweiligen Lebensgefährtin, welche Bilder und Projektionen stellen sich in ihnen angesichts einer sie als Familienmann ganz neu und anders fordernden Situation ein? Und schließlich: In welcher Weise verändern sich durch die Tatsache, in einer eigenen Familienbeziehung zu leben, ihre Wahrnehmungen, ihr intellektuelles Selbstbild, ihre Einstellung zur literarischen Arbeit, die Bedingungen, Umgebungen und Formen des Schreibens (sowohl im Sinne des Schreibprozesses als auch im Sinne des Produkts, der literarischen Form)?
Erst allmählich wird der Autor Alexander Lernet-Holenia wiederentdeckt. Dabei war er in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit einer der bekanntesten österreichischen Schriftsteller. Sein weitgehendes Verschwinden aus der literarischen Öffentlichkeit und der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte dürfte wohl vor allem seinem politischen Konservatismus - manche bezeichnen ihn als reaktionär, er selbst hat sich einmal einen konservativen Revolutionär genannt - wie seiner ihm von den Interpreten wiederholt attestierten Zwitterstellung zwischen 'hoher' und unterhaltender bzw. Trivialliteratur geschuldet sein. Daß er nicht zu den kanonisierten österreichischen Autoren des 20. Jahrhunderts gehört, hat sicherlich auch mit der bis heute von Literaturwissenschaftlern vertretenen Einschätzung zu tun, daß sich an seiner Prosa nicht ähnlich innovativ wie bei Musil, Broch und anderen die Formproblematik des modernen Erzählens erörtern läßt. Wenn sein Prosa-Werk ernsthafte Berücksichtigung erfährt, dann vor allem in der Forschung zur literarischen Phantastik zwischen dem fin de siècle und den dreißiger Jahren. In diesem Zusammenhang ist oft von einem zentralen Charakteristikum seines Schreibens die Rede. Bezug genommen wird dabei auf die von Lernet-Holenia selbst verwendete Metapher des 'Zwischenreichs'. So heißt es in einer häufig zitierten Studie von Franziska Müller-Widmer, daß Lernet-Holenia "das Ineinanderfließen von Wirklichkeit und Fiktion, von Realität und Traumwelt, Leben und Tod zum wesentlichsten Prinzip seiner schriftstellerischen Arbeit erhoben hat". Allein schon dieses Zitat belegt, wie aktuell sein Werk, das die Aufhebung bzw. die Ununterscheidbarkeit solcher Gegensätze und darüber hinaus ihr Zwischen zum zentralen Thema hat, in einer Zeit (wie der unsrigen) sein müßte, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion unscharf werden. Neben der auch kürzlich wieder vorgenommenen Abwertung des Autors und seines Werkes gibt es gleichwohl auch Stimmen, die die Modernität der Texte Lernet-Holenias andeuten.