CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Männlichkeit zeichnet sich durch Praktiken aus. Und einer dieser Praktiken besteht eben darin, Repräsentationsorte von und für Männlichkeit bereitzustellen. Insofern fiktionale Werke einen erheblichen Anteil am individuellen oder sozialen Selbst Verständnis haben, ist auch deren Kanonisierung als eine solche Macht-Praktik von Interesse. Kanones wie Männlichkeit werden zu Angelegenheiten ihres 'Machens' - und sind darin aufeinander verwiesen.
2. Workshop der AG "Erzählforschung" und der AG "Rezeption und Inter-textualität" im Rahmen der Kooperation des Zentrums für Graduiertenstudien (ZGS) der Bergischen Universität Wuppertal und der Graduiertenschule Kultur- und Sozialwissenschaften (GSKS) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 21. und 22. April 2012, Bergische Universität Wuppertal.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Märzgefallene : Anmerkungen zum publizistischen Gebrauch einer politischen Bezeichnung 1848–1898
(2023)
Das Wort 'Märzgefallene' ist eine Bezeichnung, die in der wissenschaftlichen wie populären Literatur vor allem über die Geschichte der Berliner Märzrevolution von 1848 auftaucht. Die vorliegende Analyse untersucht die Verwendung der Bezeichnung in der Tagespresse in den 50 Jahren nach der Revolution von 1848/49 bis zum 50. Jubiläum im Jahr 1898. [...] Die Analyse erfolgt in temporaler, quantitativer und qualitativer Hinsicht. Untersucht werden das erste Auftreten, die Häufigkeiten im Wandel der Jahrzehnte, Synonyme des Wortes sowie seine metaphorische Verwendung. Dadurch werden implizit auch eine Geschichte der Rezeption der Revolution von 1848/49 skizziert und die unterschiedlichen semantischen Varianten uneigentlichen Sprechens der Bezeichnung 'Märzgefallene' aufgezeigt.
Editorial
(2023)
Das Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte hat in seiner zwölfjährigen Geschichte immer wieder Begriffe an der Schnittstelle von Biologie sowie Gesellschaft und Kultur, insbesondere aber solche des ökologischen Diskurses thematisiert. [...] Das vorliegende, von der Slawistin Tatjana Petzer (Universität Graz) als Gastherausgeberin gestaltete Schwerpunktthema "Ecology in Eastern European Terminology" lässt sich als Fortsetzung dieser Thematiken verstehen. Die Beiträge verdeutlichen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osteuropäischer Länder und der Sowjetunion, die oftmals zunächst im engen Kontakt mit westeuropäischen Wissenschaftsentwicklungen standen, aufgrund der späteren, vor allem im Kalten Krieg forcierten Abkoppelung eigenständige Terminologien und Konzepte entwickelten, deren Zusammenhang mit westlichen Ideen dadurch verdeckt waren, und doch mitunter auch wieder auf sie zurückwirkten. Viele der behandelten interdisziplinären Begriffe (Biogeochemie, Biogeozönose, Metabolismus, Regulation oder Geocryologie) thematisieren den heute so intensiv diskutierten Zusammenhang zwischen Ökologie und Geologie.
Die Literaturwissenschaftlerinnen Eva-Tabea Meineke und Stephanie Neu-Wendel greifen Impulse der Forschungen Ujmas auf und erkunden in komparatistischer Perspektive "Visionen nationaler Einheit aus weiblicher Perspektive. Europäische Italienbilder von Cristina Trivulzio di Belgiojoso und Fanny Lewald". Meineke und Neu-Wendel widmen sich einem wichtigen Desiderat der Forschung, denn sowohl Trivulzio di Belgiojoso als auch Lewald waren zu Lebzeiten einflussreich, sind aber kaum kanonisiert und ihr Beitrag zur risorgimentalen bzw. vormärzlichen Literatur und zu Italiendarstellungen in dieser Zeit wurde für jede einzeln bislang nur selten und in vergleichender Gegenüberstellung noch gar nicht gewürdigt. Während Trivulzio di Belgiojoso aufgrund ihrer Zeitungsartikel 1846-47 gleichsam einen Blick von innen auf Italien gewährt, liefert Fanny Lewald in ihren Reisebeschreibungen aus annähernd derselben Zeit einen Blick von außen auf das Land. Dass und wie sich beide Frauen über gender-spezifische Normen und Konventionen hinwegsetzen und die politischen und sozialen Umwälzungen rund um das für die europäischen Nationalbewegungen zentrale Jahr 1848 genau beobachten und begleiten, ist Thema dieses Aufsatzes.
Ausgehend vom Konzept der Intersektionalität und ihrer Umsetzung in der Literatur und in der Literaturdidaktik wird der vieldiskutierte Roman "Identitti" von Mithu Sanyal zunächst analysiert und schließlich in einem Experiment mit Studierenden unterschiedlicher Studiengänge, einem Bachelorstudiengang für das Lehramt Deutsch der Sekundarstufe I, dem Masterstudiengang Kulturvermittlung und dem Masterstudiengang Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit, eingesetzt, um zu prüfen, ob damit für intersektionale Bildung zu sensibilisieren oder gar zu qualifizieren ist. Alle Studierenden hatten den Roman vorbereitend gelesen und führten ein fünfphasiges, durch die Dozentin moderiertes literarisches Gespräch. Das Experiment zeigt den Studiengängen entsprechend unterschiedliche Akzentsetzungen der Studierenden und dass die voraussetzungsreiche Bearbeitung dort am besten gelingt, wo Rassismus- und Weißseinskritik als zentrale Elemente einer intersektionalen Analyseperspektive im Studiengang verankert und schon vor der Lektüre verhandelt worden sind. Doch auch Lehramtsstudierende, denen diese Perspektiven aufgrund des Studienplans weniger vertraut sind, erhielten v.a. durch die Anschlusskommunikation in der Gruppendiskussion vertiefende Einblicke in diese Bereiche und begannen sich mit deren Relevanz für die spätere Unterrichtspraxis auseinanderzusetzen.
Obwohl Empathie beim literarischen Lesen unstrittig eine äußerst bedeutsame Rolle spielt, ist sie ein in der Literaturdidaktik immer noch nicht theoretisch und empirisch ausreichend erforschter Bereich. Bisher noch so gut wie gänzlich unbeachtet ist dabei ein Phänomen, das eng und unmittelbar mit empathischen Prozessen zusammenhängt: Ekpathie. Hierbei handelt es sich um lesebezogene Aspekte, die möglicherweise auch auf Grund ihres beispielsweise aktiv zurückweisenden Charakters - Leser:innen nähern sich einer literarischen Figur bewusst und willentlich nicht - aus nahe liegenden Gründen in der Literaturdidaktik noch nicht grundlegend thematisiert wurden. Der vorliegende Beitrag skizziert ekpathische Prozesse beim Lesen literarischer Texte in theoretischer Hinsicht und veranschaulicht sie auf der Grundlage wirkungsästhetischer Überlegungen auch aus einer dezidiert intersektionalen Perspektive anhand eines jugendliterarischen Beispieltextes.
In aktuellen Diskussionen werden Forderungen nach einer diversen Kinder- und Jugendliteratur laut. Autor:innen wie Andrea Karimé oder Chimamanda Ngozi Adichie fordern Gegenerzählungen oder sprechen von den Gefahren einer 'single story', in denen den Leser:innen nur weiße Geschichten präsentiert werden. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen ausgewählte Kinderromane der Autorin Andrea Karimé sowie die Frage nach diversen und intersektionalen Kindheitsbildern. Die Analysen zeigen, dass sowohl diversitätssensible als auch intersektionale Perspektiven für die Auswahl von Kinderliteratur für den Unterricht bereichernd sind, denn sie eröffnen den noch jungen Leser:innen nicht nur neue Welten, sondern stärken auch die Kinder mit Blick auf ihre eigene Lebenswelt. Zugleich spielt insbesondere Intersektionalität eine untergeordnete Rolle, sollte aber dennoch aufgrund des hohen Potentials stärker in die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten rücken.
Bisherige Modelle der Textauswahl für den Literaturunterricht argumentieren ausschließlich text- bzw. themenorientiert oder sie berücksichtigen maximal eine einzelne bei Schüler:innen vorliegende Differenzkategorie wie z.B. Gender. Solche differenzorientierten Ansätze sahen sich zudem der Kritik ausgesetzt, durch die besondere Fokussierung der jeweiligen Ungleichheitskategorien diese - wie durch das Differenzdilemma beschrieben - eher festzuschreiben bzw. zu reproduzieren. Ausgehend von diesem Forschungsstand legt der Beitrag am Beispiel von Anke Stellings Kinderroman "Erna und die drei Wahrheiten" dar, inwiefern eine intersektionale Perspektive die Lektüreauswahl für den Literaturunterricht verbessern und präzisieren kann. Die Analyse von schüler:innenseitig vorliegenden intersektionalen Verschränkungen ist geeignet um zu beschreiben, wodurch im Bereich der Text-Leser:innen-Passung individuelle Zugangshürden, aber auch Zugangserleichterungen entstehen. Der Beitrag votiert in diesem Sinne ebenso für eine textseitige Analyse, die genau überprüft, auf welche Weise allgemein für Schüler:innen einer bestimmten Altersstufe als zugänglich geltende Themen im jeweiligen Text konkretisiert werden. Dem Konzept einer thematisch begründeten Kinder- bzw. Jugendgemäßheit wird diesbezüglich die Frage entgegengestellt, inwiefern auf der Textoberfläche präsentierte Konstellationen den Zugriff auf ein zugrundeliegendes relevantes Sujet für Lernende mit jeweils individuellen Voraussetzungen überhaupt erlauben.
Am Beispiel des zweiten Romans von Jackie Thomae "Brüder", der 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und für den sie 2020 mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wird untersucht, inwiefern eine intersektionale Betrachtung des Romans eine Reflexion der Darstellung unterschiedlicher Differenzkonstruktionen und ihrer Verstrickung anzuregen vermag. Außerdem stellt der Beitrag zur Diskussion, inwiefern eine vertiefte Auseinandersetzung mit Jackie Thomaes Roman "Brüder" im Literaturunterricht eine kritische Reflexion des Erzählten im Sinne einer 'Critical Narrative Literacy' initiieren kann. Davon ausgehend wird ein Modell einer Diversitätsorientierten Deutschdidaktik entwickelt, dem eine kulturtheoretische Fundierung im Sinne der Intersektionalitätstheorie zugrunde liegt.
In dem Beitrag wird ein intersektional perspektiviertes Analysemodell für multimodale Erzähltexte (Bilderbücher) vorgestellt. Zunächst wird das Korpus der sogenannten queeren Kinder- und Jugendliteratur kursorisch aufgefächert und dabei gezeigt, dass in den Erzähltexten, die als 'diversitätssensibel' vermarktet werden, meist auf die klassische Außenseiterfigur zurückgegriffen und somit die Binarität einer vermeintlichen Norm und deren Abweichung perpetuiert wird. Durch das Analysemodell sollen literarische Darstellungen von Positionierungen innerhalb einer 'Matrix der Macht' desavouiert werden: Entlang der interdependenten Kategorien Age, Race, Geschlecht, Familie und Körper sollen die Positionierungen der Figuren auf der histoire-Ebene zugeordnet werden, während die Kategorien auf der discours-Ebene wählbar und erweiterbar sind. Mit dem Blick auf das Bilderbuch als multimodales Erzählmedium müssen die literarischen Inszenierungen nicht nur auf Bild- sondern auch auf Schrifttextebene berücksichtigt und hierbei insbesondere auf intermodale Spannungsverhältnisse geachtet werden. Der Beitrag schließt mit der exemplarischen Analyse der Bilderbücher "Weihnachtspost für Ayshe" (Scheffler/Spanjardt 2005) und "Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm" (Schami/Könnecke 2003).
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.
Die Verbindung feministischer Themen und Fragestellungen mit dem Dispositiv der Populärkultur wird unter dem Label 'Popfeminismus' verhandelt. Um diesen Sammelbegriff ist eine lebhafte Diskussion entbrannt: Ist die Performativität des Pop als Chance zu begreifen, breiten Gesellschaftsschichten feministische Anliegen zugänglich zu machen? Oder handelt es sich dabei doch nur um die marktwirtschaftliche Vereinnahmung einer gesellschaftspolitischen Strömung? Das skizzierte Spannungsverhältnis verschärft sich in einem sexualisierten und hypermaskulinen Subgenre wie dem Gangsta Rap. Das Online-Magazin der Wochenzeitung "Die Zeit" kürte den deutschen Gangsta Rap jüngst zur erfolgreichsten Jugendkultur der 2010er-Jahre. Rapper wie Bonez MC oder Gzuz landen einen Chart-Erfolg nach dem anderen, und zwar mit äußerst sexistischen, misogynen, homo- und transphoben, ableistischen und gewaltverherrlichenden Texten. Angesichts der nicht von der Hand zu weisenden kulturellen Prägekraft des Gangsta Raps und seiner identitätsstiftenden Wirkung auf junge Menschen gewinnt die Frage nach der Kommensurabilität von Feminismus und Hip-Hop noch einmal an Bedeutung: Sind feministische bzw. intersektionale Perspektiven mit der Sprache, den Bildern und Symbolen einer männlich-chauvinistischen Szene überhaupt vereinbar? Mit welchen sprachlich-medialen Strategien antworten Künstlerinnen der Rap-Szene auf diesen Widerspruch? Mit diesen und anderen Fragen befasst sich der vorliegende Beitrag.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Klein, schwach, mit einem deformierten Rücken und einer aus heteronormativer Perspektive devianten Sexualität - auf den ersten Blick verkörpert die literarische Figur Kuno Kohn gängige antisemitische Stereotype zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den frühen 1910er-Jahren entworfen und in einer Vielzahl von Texten unterschiedlicher Gattungen ausgebildet, ist Kuno Kohn die Schlüsselfigur in Alfred Lichtensteins (1889–1914) Werk und zugleich Projektionsfläche für die wirkmächtigen Differenzkategorien Jewishness, Sexualität, Disability und Gender. Dichotome Kategorisierungen können die Komplexität der Figur nicht erfassen: Von Lichtenstein als grotesk überzeichnete Figur angelegt, laufen in ihr Binäroppositionen wie jüdisch/nicht jüdisch, homosexuell/heterosexuell und behindert/nicht behindert ins Leere. Statt zu versuchen, die Ambivalenzen, Vielschichtigkeiten und scheinbaren Widersprüche der Figur aufzulösen, rückt der Beitrag sie in einer intersektionalen Figurenanalyse in den Mittelpunkt. Dies lenkt den Blick auf die diskursive Co-Konstruktion der Differenzkategorien auf der Folie des Figurenkörpers und offenbart das subversive, queere Potenzial, das der Figur eingeschrieben ist.
Ausgehend von der Frage nach literarischen Darstellungskonventionen, die zu verschiedenen historischen Zeitpunkten als Medien der Beobachtung und Reflexion von Intersektionalität und interdependenten Herrschaftsverhältnissen dienen konnten, untersucht der Beitrag das Erzählen 'vom Dorf' und 'der Provinz' als Mittel der Narration von sozialer Ungleichheit. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert intensiviert sich eine kulturelle Stadt-Land-Dichotomie, aufgrund derer das 'Ländliche' in Abgrenzung zur urban geprägten Moderne als das rückwärtsgewandte, hierarchisch schwächere 'Andere' wahrgenommen wird. Die Zugehörigkeit zu einem ländlichen oder städtischen Umfeld entwickelt sich daher zur 'Ungleichheitskategorie', die im intersektionalen Zusammenspiel mit anderen Differenzfaktoren auftreten kann. Zugleich ist 'das Dorf' als sozialer Raum konventionell durch eine strikte Einteilung von Menschen in die Kategorien 'Einheimische' und 'Fremde' geprägt und produziert auf Basis strenger Normvorstellungen in besonderem Maße soziale Zuschreibungen der Nichtzugehörigkeit, die wiederum mit Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, ethnische Herkunft, ökonomischer Status etc. verwoben sein können. In der literarischen Dorfgeschichte bzw. dem 'Provinzerzählen' vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dient der rurale Raum daher auf vielfältige Weise als Ort der Darstellung und Reflexion intersektionaler Formen der Diskriminierung und Ungleichheit. Demonstriert wird dies durch eine Untersuchung von Berthold Auerbachs Dorfgeschichte "Des Schloßbauers Vefele" von 1843 und Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" aus dem Jahr 2011.
Sie ist Schwarz, Heidin und regiert ein Königreich. Mit der Figur Belacane präsentiert Wolfram von Eschenbach im "Parzival" seinem Publikum eine Frau, die den höfischen Schönheitsvorstellungen widerspricht. Immer wieder wird die Schwarze Hautfarbe Belacanes und ihres Volkes explizit im Kontrast zum dagegen unmarkierten weißen Protagonisten betont und abgewertet. Erst die Information über Belacanes Jungfräulichkeit macht sie für den christlichen Ritter Gahmuret attraktiv, der ihre Tugendhaftigkeit als Zeichen ihrer innerlichen Taufe sieht. Dass Belacane unter all den Menschen, die "höllenfarben" (51,24) sind, eine Ausnahmestellung zugesprochen wird, offenbart die Abwertung aller anderen BIPoC und macht sie für Gahmuret zum Objekt der Begierde. Er befreit die Jungfrau in Nöten erst von ihren Belagerern, dann von ihrer Keuschheit und wird so zum König über ihr Land, bis er die schwangere Belacane plötzlich heimlich verlässt. Der Brief, den er ihr hinterlässt, dokumentiert die Mehrfachabwertung Belacanes: aufgrund ihres Frau-Seins wird sie zum Medium der Stammeserhaltung, aufgrund ihres zukünftigen Mutter-Seins zum Kommunikationsmittel mit dem noch ungeborenen Sohn und aufgrund ihres heidnischen Glaubens zur Legitimation für die Trennung. Hannah Mieger analysiert anhand der Belacane-Episode, wie die drei Differenzkategorien Race, Religion und Gender miteinander interagieren und zeigt dadurch, dass prämoderne Texte intersektional lesbar sind.
Der Beitrag zeigt, dass der populäre niederländische Roman "Geen gewoon Indisch meisje" ("Kein gewöhnliches Indisches Mädchen") van Marion Bloem aus dem Jahr 1983 als eine literarische Ausdrucksform des niederländischen Intersektionalitätsdenkens (cf. Essed, Hoving, Wekker) avant la lettre gelesen werden kann. Anhand eingehender intersektionaler Analysen verschiedener Passagen der durchweg als Autofiktion rezipierten Coming of Age-Erzählung über ein niederländisches Mädchen of Color, dessen Eltern aus der ehemaligen niederländischen Kolonie Niederländisch-Ostindien stammen, dem heutigen Indonesien, macht dieser Beitrag deutlich, wie der Roman verschiedene Tabuthemen innerhalb der niederländischen Gesellschaft wie Race, weiße Privilegien und Sexismus unerschrocken und kritisch zur Diskussion stellt, und dies in einer Zeit, in der solche Ungleichheitsfaktoren noch unsichtbar waren und/oder nicht über sie gesprochen werden durfte. Der Beitrag erörtert die Strategien, mit denen Bloems Roman auf freimütige und für weiße Leser:innen häufig schmerzhaft konfrontierende Weise einer jungen Woman of Color eine Stimme gibt, für deren Anders-Sein in der niederländischen Gesellschaft eigentlich kein Platz ist, und von der als 'feminist killjoy' erwartet wird, dass sie schweigt.
Der Artikel zeichnet im Anschluss an eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheorie an Olivia Wenzels Roman "1000 Serpentinen Angst" (2020) die im Text entworfenen Familienbeziehungen nach. Fokussiert wird, wie die Erzählerin sich über das Erzählen selbst mit ihrer eigenen intersektionalen Identität als Schwarze ostdeutsche queere Frau auseinandersetzt. In Rückgriff auf zentrale Forschungsbeiträge zum Konnex von Gender, Erinnerungsstrukturen und Erzähltextanalyse wird erstens gezeigt, dass durch die Erzähltechnik Situationen und gesellschaftliche Herausforderungen wie z.B. auch die staatlich-systematischen Ungleichheitsbehandlungen im Falle von Personenüberwachung akzentuiert werden, mit denen die Frau konfrontiert wird. Wenzels Erzählweise lässt sich als serpentinenartiges Erzählverfahren beschreiben, das in Erzählschlaufen und über narrative Umwege funktioniert. So wird gerade durch die Darstellungsweise des Romans deutlich, welche Schwierigkeiten in der persönlichen wie kulturellen Verortung der Figur liegen. Der Text wird zweitens als Erinnerungs- und Familienroman gelesen. Die intersektionale Identität der Erzählerin lässt sich dabei über die verschiedenen Lebensgeschichten ihrer Familienangehörigen, und besonders in der Abgrenzung von diesen, wie auch über ihre eigene Schwangerschaft rekonstruieren. Es zeigen sich übergenerationale und sich gegenseitig bedingende Faktoren für Ausgrenzungen und Stigmatisierung, welche Interdependenzen zwischen Geschlecht, Körperlichkeit, Öffentlichkeit, Identität und nationaler Zugehörigkeit offenlegen.
Mit dem Ansatz der Intersektionalität wird die Situation der Women of Color und deren literarische Repräsentation durch eine Lektüre zweier Romane der kolumbianischen Gegenwartsliteratur fokussiert, die konkret untersucht, wie die alltägliche soziale Benachteiligung mit der Überschneidung mehrerer Kriterien der Ausgrenzung der Protagonistinnen of Color dargestellt und so die mehrdimensionale Diskriminierung dieser Personengruppe sichtbar gemacht wird. Die Protagonistinnen der im 21. Jahrhundert spielenden Romane erfahren verschiedene Formen von sowohl physischer wie auch struktureller Gewalt, was als paradigmatisch für noch heute herrschende soziale Hierarchien und Differenzen verstanden werden kann. Der Roman "Hündin" (2020 [2017]) von Pilar Quintana macht über die intern fokalisierte Darstellung der Erinnerungen der marginalisierten afrokolumbianischen Protagonistin gesellschaftliche Stereotypen sichtbar, was zu einer teils kontroversen Rezeption geführt hat; die Herangehensweise, das Werk unter dem Blickwinkel der Intersektionalität zu lesen, lässt jedoch die Beschreibungen der prekären Umstände als Offenlegung bestehender Machtverhältnisse deuten, um neben diesen Machtstrukturen die traditionelle Rolle der Frau in der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. "Die Kosmetikerin" (2019 [2015]) behandelt die Lebensumstände verschiedener Frauen im Kontext der 'estratificación' als gesellschaftliche Schichtung in Kolumbien und schildert vorrangig das Leben einer Protagonistin of Color in äußerst prekären Situationen, wobei das Element der Gewalt als omnipräsentes Motiv in der kolumbianischen Erzählliteratur deutlich wird.
Erzählte Welten als soziale Wirklichkeiten denken: Dieser Beitrag skizziert ein Modell zur Untersuchung von Intersektionalität in multiperspektivisch erzählten Texten. Multiperspektivität wird als Erzählform stark gemacht, die in der Lage ist, die Machtverhältnisse und Diskurse der außertextlichen Realität aus der Vogelperspektive zu reflektieren. Aus einem narratologischen Blickwinkel wird hier der Frage nachgegangen, welchen Mehrwert die intersektionale Untersuchung von literarischen Perspektivenstrukturen für eine intersektional orientierte Literaturwissenschaft bietet, und mit welchen Begriffen und Konzepten eine solche Untersuchung durchgeführt werden kann. Es geht darum, die strukturellen Verhältnisse zwischen Einzelperspektiven zu den (sozialen) Hierarchien ihrer fiktionalen Wirklichkeit in Bezug zu setzen und zu untersuchen, welche Perspektiven diese Wirklichkeit schaffen und welche außen vor bleiben. Am Schluss steht eine exemplarische Textanalyse von Sibylle Bergs Roman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" (1997), die deutlich macht, wie die Beziehung zwischen Sozial- und Textstrukturen gedacht werden kann.
Eine dreifache Bewegung der Emanzipation appelliert im 19. Jahrhundert an eine realistische Darstellung: Die Befreiung und Gleichstellung von Frauen, Jüd:innen und der Arbeiter:innenklasse wird von realistischen Texten teils protegiert, teils bekämpft. Am Beispiel von sowohl vor- als auch nachrevolutionären Romanen und Erzählungen Fanny Lewalds entwickelt der Beitrag ein intersektionales Verständnis von Realismus, das dieser politischen Seite des Begriffs Rechnung trägt. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass realistische Poetiken mit der Verfahrensweise intersektionaler Textbeobachtungen eine Gemeinsamkeit in der Privilegierung der Referenzebene der 'erzählten Welt' besitzen. Wie aber können sich mehrere strukturell divergente Erfahrungswelten innerhalb derselben erzählten Welt artikulieren, ohne in ihrer konfliktuellen Heterogenität nivelliert zu werden? Während "Jenny" (1843) als Versuch über die Phänomene doppelter, aber auch wechselseitiger Diskriminierung subalterner Akteur:innen gelesen werden kann, wirft der Beitrag am Beispiel der Novellen "Der dritte Stand" (1845) und "Auf Rother Erde" (1850) die Frage auf, welche poetologischen Konsequenzen sich aus jener intersektionalen Problematik ergeben, der sich Lewald auch in diesen beiden Novellen systematisch verschrieben hat. Anknüpfend an Überlegungen Susan Lansers geraten dabei u.a. das Geschlecht der Erzählinstanz und die Poetik des Dialogs in den Blick. Wie damit gezeigt werden soll, gehört der nur intersektional fassbare Streit um die Wirklichkeit zu den entscheidenden Voraussetzungen sowie den formalen Problemstellungen des Realismus.
Das Konzept der Intersektionalität hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Geistes-, Sozial- und Lebenswissenschaften als überaus einflussreich erwiesen. Auch in der Literaturwissenschaft gewinnen Intersektionalitätstheorien zunehmend an Bedeutung. Der Beitrag geht von dieser Entwicklung aus und fragt zunächst allgemein danach, wie sich das Konzept für literaturwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen fruchtbar machen lässt, in denen die Beschäftigung mit Intersektionalität über ein Verständnis dieser als reine Identitätstheorie hinausgeht. Die Analyse von Bernardine Evaristos preisgekröntem Roman "Girl, Woman, Other" (2019) führt anschließend vor, wie Identitätsfragen aus intersektionaler Perspektive nicht nur Interdependenzen der Ungleichheiten zwischen Figuren in den Blick nehmen, sondern auch die systemischen Grundlagen dieser Ungleichheiten sowie deren Einbindung in eine hegemoniale Kulturindustrie. Mit seiner Thematisierung von Intersektionalität als Thema auf mehreren Ebenen dient der Roman als Beispiel, wie das Konzept als Theorie und Methode die Literaturanalyse bereichern kann, und umgekehrt, welche Impulse sich aus der Beschäftigung mit Literatur und narratologischen Analysekategorien wie Perspektive und Perspektivenstruktur auch für die Intersektionalitätsforschung gewinnen lassen.
Intersektionalität hält als Forschungsgegenstand, als Schauplatz theoretischer Diskussion und als Analyseperspektive seit Jahren verstärkt Einzug in unterschiedliche akademische Disziplinen und Bereiche. Es verwundert daher nicht, dass sich das Intersektionalitätsparadigma auch im Bereich der Literaturwissenschaft und -didaktiken zunehmend als produktiv erweist, wie wir mit dem Sammelband zeigen wollen, der intersektionale literaturwissenschaftliche und -didaktische Fallstudien aus unterschiedlichen Philologien versammelt und so ein Prisma der Erforschung literarischer Repräsentationen des Zusammenspiels von einander verschärfenden bzw. abschwächenden Diskriminierungskategorien bietet. Inwiefern die Einzelbeiträge kritische Reflexionen verschiedener Positionen der Intersektionalitätsforschung präsentieren und Beispiele für die vielfältige Ausgestaltung intersektional orientierter Textanalyse auf theoretischer und methodischer Ebene anbieten sowie didaktische Lesarten des Intersektionalitätsparadigmas aufzeigen, machen wir aufbauend auf einer ausführlichen Begriffs- und Theoriereflexion einleitend deutlich.
Der vorliegende Band versammelt intersektionale literaturwissenschaftliche und -didaktische Fallstudien aus unterschiedlichen Philologien und bietet so ein Prisma der Erforschung literarischer Repräsentationen des Zusammenspiels von einander verschärfenden bzw. abschwächenden Diskriminierungskategorien. Die Einzelbeiträge präsentieren kritische Reflexionen und Modifizierungen verschiedener Positionen der intersektionalen Forschung sowie Beispiele für die vielfältige Ausgestaltung intersektional orientierter Textanalyse auf theoretischer und methodischer Ebene. Da wissenschaftliche und literarische ebenso wie zeitgenössische und historische Texte in verschiedenen Sprachen (Englisch, Deutsch, Italienisch, Niederländisch, Spanisch etc.) aufgegriffen werden, zeigt der Band auf, dass Machtstrukturen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten Analogien aufweisen, deren Analyse von Differenzierungen verschiedener Herrschaftsstrukturen profitiert.
Der autobiographisch markierte Prosatext "The Argonauts" von Maggie Nelson aus dem Jahr 2015 kreist um die Beziehungsgeflechte der Ich-Erzählerin und zugleich Autorin Maggie Nelson, die sich in den queeren Künstler*innenszenen der US-amerikanischen Westküste bewegt. [...] Dieser Aufsatz geht der Frage nach, inwiefern "The Argonauts" als paradigmatisches Beispiel innovativer zeitgenössischer Literatur durch die Mittel der Autotheorie neue Weisen der Subjektivität erzeugt, welche verkörpert, hybrid und relational sind, und daher auch (bio-)politisch relevant gemacht werden können. Der Fokus auf die biopolitische Dimension bildet eine neue Perspektive auf Nelsons vielrezipierten Text, ebenso wie durch die Literaturanalyse ein neuer Blick auf aktuelle biopolitische Diskurse geschaffen werden kann. Zunächst soll der Begriff der Biopolitik mit Bezug auf Paul B. Preciado und Rosi Braidotti vor dem Hintergrund des globalisierten, digitalisierten 21. Jahrhunderts abgesteckt werden, in dessen Kontext auch "The Argonauts" eingebettet ist. [...] In einem nächsten Schritt soll auf die Verhandlung von queerer Identität und deren biopolitische Implikationen in "The Argonauts" genauer eingegangen werden, um des Weiteren das Verhältnis von Inhalt und Form unter die Lupe zu nehmen. Im Text lassen sich verschiedene Weisen der Transformation feststellen, die sowohl Nelsons Reflexionen um Sprache und Identität prägen als auch die Prämissen ihres experimentellen Schreibens bilden. Schließlich wird im letzten Abschnitt noch einmal der Begriff der Techno-Biopolitik mit den Ergebnissen der Analyse zusammengeführt.
Unter den Bedingungen neoliberaler Meritokratie sind die Menschen ununterbrochen gefordert, sich selbst zu vermarkten, sich leistungsstark zu zeigen und ihre Position im Wettbewerb zu verbessern. Ins Zentrum des modernen Lebens rückt die Notwendigkeit, sich permanent zu thematisieren, zu optimieren und darzustellen. Die virtuellen sozialen Netzwerke sind in diesem Kontext als bedeutsame Formen der modernen Selbsttechnologie zu verstehen, in denen das kulturelle Begehren nach Authentizität und der Zwang zur Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung einen Ausdruck finden. Die Frage nach dem Selbst oder genauer: die Frage, wie man zu diesem Selbst gelangt, stellt sich vor dem skizzierten Hintergrund auf mehrfache Weise. Das neoliberale Subjekt ist um eine ständige Sichtbarmachung des eigenen Selbst bemüht, das depressive Subjekt scheitert an diesem Imperativ und hat den Bezug zum eigenen Selbst verloren und das Subjekt der Psychiatrie versucht mithilfe von Expert*innen das entfremdete Selbst (wieder) zu erlangen. Innerhalb dieses Problemfeldes bewegt sich der vorliegende Beitrag. Am Beispiel des Schriftstellers Benjamin Maack soll der Frage nachgegangen werden, wie die Depression und die Erfahrung von Selbstverlust in einem Werk der Gegenwartsliteratur zur Sprache kommen. Im Gegenzug soll in einem zweiten Schritt untersucht werden, wie die Institution der psychiatrischen Klinik mit ihren Subjektivierungs- und Objektivierungsmechanismen im Text von Benjamin Maack dargestellt wird. Im Anschluss an Michel Foucault werden sowohl das literarische Schreiben als auch die psychiatrische Untersuchung als Geständnistechniken gedeutet. Die Entstehung der Literatur im modernen Sinne des Wortes wird in Beziehung gesetzt zu der Vervielfältigung und Ausbreitung der Geständnistechnologie im modernen abendländischen Staat. In diesem Beziehungsgeflecht, das es an späterer Stelle nachzuzeichnen gilt, nimmt das literarische Geständnis jedoch eine Sonderstellung ein und weicht von anderen Geständnistechniken ab.
Die dystopische Jugendliteratur hat sich in den letzten Jahren zu einem politischen, kulturellen und ästhetischen Genrephänomen entwickelt. [...] Die anhaltende Bedeutung der dystopischen Literatur in der Populärkultur zeigt bereits auf, dass sich auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit diesem Genrephänomen auseinandergesetzt werden sollte. Im aktuellen Forschungsdiskurs der Literaturwissenschaften wird der Aktualität und Relevanz dieses Phänomens bereits begegnet, indem sowohl das Genre als auch einzelne Werke auf verschiedene Aspekte hin untersucht werden. Die Forschungsschwerpunkte liegen hierbei jedoch vordergründig in der Untersuchung von psychologischen und soziologischen Aspekten der Protagonist*innen im Hinblick auf Fragen der Ökokritik, der Gender Studies oder der Kulturwissenschaften. Jedoch fehlen im gegenwärtigen Diskurs fast gänzlich Fragen nach einer eventuell vorherrschenden Biopolitik im Genre oder aber in konkreten Werken, obwohl diese in zahlreichen der fiktiven Weltbilder eindeutig gegeben ist. Dieser Beitrag erweitert den bereits bestehenden Diskurs um die Fragestellung, welche Formen einer dystopischen Biopolitik im zeitgenössischen Jugendroman am Beispiel der Reihe "Divergent" zu finden sind und wie diese literaturwissenschaftlich analysiert werden können. Da eine vollständige Analyse der drei Romane und all ihrer relevanten Aspekte zur Biopolitik den Rahmen dieses Beitrags überschreiten würde, werden einige Analyse-Schwerpunkte gebildet. Diese bestehen sowohl aus der Untersuchung des Wirklichkeitsmodells der Romane und der Thematik Biopolitik als auch aus der literarischen Darstellung. Durch die Untersuchung dieser Aspekte wird deutlich, inwiefern literarische Werke, auch dystopische Romanreihen, als Aushandlungs- und Reflexionsraum für aktuelle biopolitische Fragestellungen fungieren können. Zunächst werden die vier elementaren biopolitischen Inhalte der Romane herausgearbeitet und in Bezug zu den Ausführungen Foucaults gesetzt: Gesellschaftssystem der verschiedenen Fraktionen, neue technische Möglichkeiten der fremdgesteuerten Bewusstseinskontrolle, das Leben als und in einem Experiment und die Differenzierung von genetisch perfekten und genetisch defekten Menschen. Anschließend wird ein Blick auf die literarische Umsetzung in Form der Raum-/ Zeitstruktur und der Charakterkonstellation geworfen. Diese beiden Aspekte unterstützen das bewusste Einfühlen der Leser*innenschaft in die Romansituation und ermöglichen auf diese Weise sowohl eine Auseinandersetzung mit der Biopolitik aus ethischer Sicht als auch eine Vergegenwärtigung der Parallelen zur Alltagswelt der Leser*innenschaft. Abschließend werden ein Fazit und ein kurzer Ausblick formuliert.
Biopolitik und Biomacht in der Jugendliteratur. Thanatopolitik in Lois Lowrys "Hüter der Erinnerung"
(2023)
Was verstehen wir unter "Freigabe"? Das Freigeben, das Freigegebenwerden. Synonyme: Entlassung, Freilassung. [...] In Lois Lowrys 1993 erschienenem Roman "Hüter der Erinnerung" - im Original "The Giver" - ist die Tragweite dieses Terminus enorm: "Freigegeben zu werden ist für einen aktiven Bürger eine endgültige Sache, eine schreckliche Strafe, ein niederschmetternder Beweis menschlichen Versagens." Während es im Original "release" heißt, enthält die deutsche Übersetzung durch "frei" im Begriff im Kontext des Verfahrens eine Mehrdeutigkeit, die am Ende erörtert wird. Es soll im Folgenden sowohl mit dem Original als auch mit der Übersetzung textnah gearbeitet werden. [...] Es wird deutlich, dass mit dem Begriff des Freigebens eine ganz neue Denotation einhergeht, sodass "Freigeben" letztlich nichts anderes als ein Euphemismus ist, der die eigentliche Bedeutung, die Konsequenz des Vollzugs für die Sprecher*innen verschleiert. Ein ausgeprägtes Sprachregime und eine Vernichtungspolitik treten hier eng verflochten auf. Das Bezeichnen von Dingen, Handlungen und Ritualen ist dabei eine Voraussetzung für die Umsetzung des totalitären Regimes, wie im Folgenden unter anderem deutlich werden soll. Zusätzlich soll beispielhaft betrachtet werden, welche stilistischen Mittel für die Darstellung eines extremen biopolitischen Gesellschaftsmodells in einem Jugendroman für ein Lesepublikum ab dem jungen Alter von zwölf Jahren vorliegen. Dabei soll die Frage beantwortet werden, wie in "Hüter der Erinnerung" ein totalitäres System etabliert und welche Wirkung auf die Leser*innenschaft erzeugt wird. Lässt sich vielleicht eine gewisse schonende Vermittlung gegenüber der jungen Zielgruppe bezüglich des ernsten, 'belastenden' Themas feststellen?
Wie fragil der scheinbare Differenzmarker der Emotionalität zwischen Mensch und Maschine ist, führt insbesondere das Genre des Science-Fiction-Films vor, das als ein Experimentierraum fungiert, in dem die biopolitischen Diskurse durch ästhetische bzw. poetische Konter-Diskurse aufgebrochen und hinterfragt werden. Diese Konterdiskursivität führt der Science-Fiction-Film "Ex Machina" (2015) eindrücklich vor, indem dieser anhand der als weiblich gegenderten und künstlich konstruierten AI und Protagonistin Ava (Alicia Vikander), auf der Ebene der Handlung die Frage verhandelt, ob die Grenze zwischen Mensch und Android teilweise aufgehoben werden kann, und damit verbunden die Frage, ob der vermeintliche Differenzmarker der Emotionalität nicht von Androiden produktiv gewendet werden könne, insofern er programmatisch in die entsprechenden Algorithmen eingebaut wird. Diese leitenden Überlegungen führen zur These des vorliegenden Beitrages: Die Protagonistin Ava bedient sich gegenüber den männlichen Figuren des Films der Strategie der Täuschung, indem Ava ihre künstlich angeeignete Emotionalität nutzt, um aus der Forschungsstation zu fliehen. Emotionalität kann entsprechend nicht (mehr) als eine Essenz des Menschen bzw. des Menschseins gelesen werden, sondern muss als ein elementares Konstrukt verstanden werden, das von der Maschine gegenüber den Menschen genutzt wird oder zumindest genutzt werden kann, um diese zu überlisten. Die vermeintliche moralische Überlegenheit des Menschen entpuppt sich folglich als ein grundlegender, menschlicher Denkfehler. Überlegen ist der Mensch gegenüber der Maschine nicht durch seine Emotionalität, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Weil der Mensch emotional ist, gelingt es der Maschine, ihn zu täuschen und sich somit als dem Menschen überlegen zu etablieren. Dergestalt führt "Ex Machina" explizit eine doppelte Grenzüberschreitung vor, indem der Film zum einen darauf aufbaut, dass Androiden scheinbar emotional handeln, da Avas Verhalten einen hoch rationalen Akt darstellt, der die künstlich erschaffene Frau gegenüber den Männern, Nathan (Oscar Isaac) und Caleb (Domhnall Gleeson), die sie beständig konstruieren, optimieren und testen, letztlich als überlegen präsentiert. Zum anderen führt "Ex Machina" anhand der Maschine Ava auf der Ebene des Gendering eindrücklich vor Augen, dass auch die männliche Überlegenheit und die damit einhergehende Geschlechterhierarchie ein reines Konstrukt ist. Der Homosozialität der beiden männlichen Figuren des Films steht die weiblich gegenderte Maschinenfrau Ava konträr gegenüber, auch wenn sie zunächst in diese integriert zu sein scheint, so dass die Frage nach der Repräsentation von Geschlecht und die nach den Verhandlungen zwischen den Geschlechtern nachdrücklich gestellt wird. Die damit aufgerufene Engführung von Männlichkeit und Überlegenheit sowie Weiblichkeit und Emotionalität wird im Verlauf des Films dezidiert aufgebrochen, sodass die Frage nach der Transgression gleich auf zweifache Weise gestellt wird, wenn man den Blick auf Ava richtet: 1. Inwiefern wird das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, in Bezug auf 'bios', an der weiblichen Androide Ava verhandelt? 2. Inwiefern erlaubt es Ava, Geschlechterverhältnisse neu zu denken, respektive das Verhältnis der Geschlechter, wie es im Film vorgeführt wird, einer neuen Betrachtung zu unterziehen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich in einem ersten Schritt die Differenz zwischen Mensch und Maschine, wie sie in "Ex Machina" inszeniert wird, in den Fokus der Betrachtungen stellen, um danach zu fragen, inwiefern das Verhältnis zwischen den 'menschlichen Männern' und der 'künstlichen Androide' das Konzept des 'bios' verhandelt. In einem anschließenden zweiten Schritt werde ich mich auf das Verhältnis zwischen den männlichen Figuren Caleb und Nathan sowie deren Beziehung zu Ava konzentrieren, um herauszuarbeiten, welche Geschlechterpolitik(en) in "Ex Machina" inszeniert wird, respektive werden.
Mit "Corpus Delicti" zeigt Zeh eine biopolitische Kontrollmacht auf, die in der Fluchtlinie von Michel Foucaults und Giorgio Agambens biopolitischen Theorien auf dem menschlichen Körper fußt: Während jedoch Foucault die Einwirkung der Biomacht auf der sozio-politischen Ebene lokalisiert, nähert sich Giorgio Agamben dem biopolitischen Grundgedanken aus einer juristischen Perspektive an. "Corpus Delicti" absorbiert beide biopolitischen Annäherungen und veranschaulicht sie vor dem Hintergrund einer Gesundheitsdiktatur, in der die individuelle Freiheit der Gesundheit weichen muss; lieber gesund, schmerzfrei und lang lebend als frei. Mit diesem Ziel, allen Bürgern*innen die Gesundheit zu garantieren, verwaltet Zehs fiktiver Staat, die METHODE, totalitär die Körper seiner Bürger*innen und stößt dabei auf erstaunlich geringen Widerstand, denn die Angst vor Krankheit und Tod führt zur innerlichen Akzeptanz normierten Verhaltens im Namen der zur Staatsräson erhobenen Gesundheit. Mit diesem Beitrag möchte ich versuchen, Michel Foucaults und Giorgio Agambens Theoretisierung von Biopolitik so weit zu erklären, dass die biopolitischen Anknüpfungen in "Corpus Delicti" beleuchtet und veranschaulicht werden können. Vor dem Hintergrund des Verständnisses von Foucaults und Agambens biopolitischen Theorien und einer kurzen inhaltlichen Darstellung von "Corpus Delicti" wird es möglich sein, die literarische Verarbeitung biopolitischen Regierens in "Corpus Delicti" genauer aufzuzeigen, und dies sowohl aus einem sozio-politischen als auch juristischem Blickwinkel.
In dem Roman "Never Let Me Go" von Kazuo Ishiguro erzählt Kathy H. kurz vor Ablauf ihrer Lebenszeit in einer Rückblende ihre Lebensgeschichte. Ihr Rückblick beginnt in Hailsham, einem Internat, wo sie zusammen mit Tommy und Ruth ihre Kindheit erlebt. Sie erfährt recht früh, dass sie und alle Kinder, die das Internat besuchen, Klone sind und eines Tages der Gesellschaft, von der sie geschaffen wurden, ihr Leben bzw. ihre Körper in Form einer Organspende bereitstellen müssen. [...] Die Klone sind in den Augen der Nicht-Klone weniger wert, als diejenigen, denen sie nachgebildet sind und werden von den Nicht-Klonen durch verschiedene Mechanismen biopolitisch manipuliert und gesteuert. Kathys und Tommys Bestreben ihre Liebe zu leben und die Suche der Protagonist*innen nach der eigenen Identität stehen im Fokus der Handlung. Deshalb stelle ich mit dem Titel "Klon, Person, Identifikation" die Frage nach der Menschlichkeit der Protagonist*innen an den Anfang meiner Überlegungen zu dem Roman von Kazuo Ishiguro. Im weiteren Verlauf meines Aufsatzes beschäftige ich mich mit der Frage nach den biopolitischen Zusammenhängen zwischen der Identitätsfindung auf der einen Seite und der Identitätsentwicklung der Klone auf der anderen Seite.
"The Eyes of God run over all the world" : Biopolitik in Margaret Atwoods "The Handmaid's Tale"
(2023)
Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich eine Biopolitik in "The Handmaid's Tale" gestaltet. So sollen die Kontrollmaßnahmen der Republik Gilead betrachtet werden sowie die dabei wichtige Rolle der Religion. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die Bevölkerung werden vor allem an der Protagonistin und Erzählerin 'Offred' sichtbar, da sie ihre Perspektive auf das Leben in Gilead zeigt. Vor allem an ihrer Person werden Möglichkeiten des Widerstandes deutlich, obwohl sie als Handmaid - Gileads 'Variante' einer Leihmutter - einer der hierarchisch niedrigsten Stellungen in Gilead angehört.
Im Nachwort von "Dune" schreibt Brian Herbert, der Sohn von Frank Herbert, über den Krieg gegen die Maschinen im Dune-Universum. In diesem Krieg befreiten sich die Menschen von den intelligenten Maschinen und es wurde ein Gesetz zum Verbot der Herstellung der Maschinen aufgestellt: "Thou shall not make a machine in the likeness of a human mind". Aber, und das ist die Tragik dieses Ausgangspunktes, es entsteht im Gegensatz zum Kampf um die eigene Souveränität eine neue Beherrschung des Menschen. Diese Wende, welche die Künstliche Intelligenz aus der Welt verbannt hat, aber die Biopolitik mit anderen Techniken fortführt, soll im Folgenden anhand der Bereiche Religion, Politik und Psychologie herausgearbeitet werden. Denn indem in "Dune" die künstliche Intelligenz verbannt wird, treten Herrschafts- und Kontrolltechniken wieder in den Vordergrund, die in den aristokratisch-feudalen Gesellschaften eine bedeutende Rolle einnahmen.
Nach dem Anthropologen Kaushik Sunder Rajan bedeutet der Biokapitalismus die Überdeterminierung der Wirtschaft bei biopolitischen Entscheidungen. Die Überdeterminierung heißt in diesem Fall eine starke wirtschaftlich-politische Beeinflussung der Richtung wissenschaftlicher Forderung und Entwicklung. Ein extremes Beispiel für solch ein System ist in der Dystopie "Brave New World" (1932) vorzufinden, mit der sich dieser Aufsatz beschäftigt. Zuerst werden die Begriffe der Biopolitik nach Michel Foucault und des Biokapitalismus nach Kaushik Sunder Rajan definiert. Darauf aufbauend untersucht die Arbeit den Biokapitalismus innerhalb der Gesellschaft von Aldous Huxleys Roman. Dafür wird zunächst der Autor, sein zeitlicher Kontext und der Aufbau der dystopischen Gesellschaft thematisiert. Im Hauptteil befasst sich der Aufsatz mit folgender Fragestellung: Wie zeigt sich der Biokapitalismus in Huxleys "Brave New World"? Dabei sind die Ziele des Aufsatzes die Beantwortung der Fragestellung und die Herauskristallisierung der Gefahren dieser dystopischen Gesellschaft für unsere Gegenwart. Diese werden zum Schluss im Fazit zusammengefasst erläutert.
Die Biopolitik ist in den letzten Jahrzehnten zu einem grundlegenden Studienbereich für das Verständnis unserer politischen Modernität und zu einem wertvollen Instrument für die Analyse von literarischen Texten geworden. In der aktuellen Literatur zu Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel" (1959) findet man jedoch keine ausführliche Studie, die eine biopolitische Perspektive als hermeneutische Annäherungsmethode einnimmt. Eine Analyse von "Die Blechtrommel" vor dem theoretischen Rahmen der Biopolitik ist aber für eine umfassende Lektüre des Textes notwendig, wie im Folgenden belegt wird. [...] Um sich der nationalsozialistischen Biopolitik zu widersetzen und bürgerliche Rationalitätsparadigmen zu untergraben, lässt Grass verschiedene Facetten der Populärkultur (insbesondere Volks- und Kunstmärchen), die der Nationalsozialismus entweder unterdrückte oder für seine Ideologie manipulierte, wieder aufleben. Strukturell und inhaltlich verbindet Grass' Roman die Verfolgung 'entarteter' Kunst mit der Verfolgung und Ausrottung 'entarteter' Menschen, für die der verfolgte Zwerg Oskar zur zentralen Metapher und Stimme wird. Der groteske Körper Oskars bildet in seinem Überleben und subversiven Praktiken gegen die diktatorische Autorität einen alternativen Diskurs gegen NS-Körperideale, die vor allem von Rezeptionen der klassischen Kunst beeinflusst waren. Durch eine Reihe intertextueller Bezüge zur Märchen-Tradition und seine Ästhetik des Grotesken erschafft der Roman eine irrationale Gegenkultur, die sich dem zerstörenden Rationalismus der Nazi-Biopolitik und der Kontinuität dieses Eugenik Gedankens im Nachkriegsdeutschland entgegenstellt, wobei gleichzeitig die Absurdität der Stunde Null entlarvt wird.
Stefan Zweig entwickelt in "Castellio gegen Calvin" (1936) die These, dass Machtformen, die Lebensprozesse mit Zwang regulieren und elementare Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken, Widerstände hervorrufen, die letztlich die Emanzipation und Entfaltung des Unterdrückten forcieren. Am Beispiel des Liberalismus ursprünglich autoritär geprägter calvinistischer Gesellschaften veranschaulicht der 1934 nach London emigrierte Autor die Dialektik von Unterdrückung und deren Überwindung. Er thematisiert ein Verhältnis von Leben und Politik, das Michel Foucault mit dem Begriff der "Bio-Politik" bezeichnet. Dieser Begriff, der vor allem in jüngerer Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt, beschreibt eine spezielle Form politischer Herrschaft, die sich durch "verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerungen" kennzeichnet. Die Anwendung dieser 'biopolitischen' Disziplinierungstechniken bringt nach Foucault einen speziellen Machttyp, die "Bio-Macht", hervor, die sich zu einem Prinzip aller modernen Staaten entwickelt und somit nicht nur auf Extremfälle zu beschränken ist. [...] In diesem Beitrag soll untersucht werden, inwiefern Stefan Zweig in "Castellio gegen Calvin" anhand der Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats biopolitische Herrschaft thematisiert. Ausgehend von einigen Überlegungen zu dessen Komposition und der Schwierigkeit einer eindeutigen gattungstheoretischen Zuordnung wird Zweigs Darstellung von Calvins Herrschaft hinsichtlich der politischen Unterwerfung und Kontrolle des Lebens analysiert. Die Untersuchung schließt mit Blick auf den parabolischen Charakter des Textes, der eine Erklärung dafür bietet, warum Zweigs Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats aus dem 16. Jahrhundert Charakteristika eines Machttyps aufweist, der sich nach Foucault erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt.
Die labyrinthische Organisation des Erzählraums, die bisweilen dem Prinzip der Assoziation durch Josef K. zu folgen scheint, korrespondiert historisch mit der desorientierten Wirklichkeitserfahrung der Moderne - einem "Gefühl der 'Ohnmacht' und der 'Entfremdung' des 'modernen Menschen'". Nicht ohne Grund wird "Der Proceß" so in der verbreiteten sozialgeschichtlichen (und vor allem sozialkritischen) Lesart zur literarischen "Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, aktueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das Begehren unterdrückenden 'Macht'". Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, diese sozialgeschichtliche Lesart unter Hinzunahme des in der Kafka-Forschung bislang nur randläufig berücksichtigten Paradigmas der 'Biopolitik' bzw. 'Biomacht', wie es insbesondere von Michel Foucault analysiert wurde, noch einmal produktiv zu erweitern. [...] Franz Kafkas literarisches Werk befasst sich zweifellos immer wieder mit modernen Machtverhältnissen und Normierungsprozessen sowie auch mit den Individuen, die vor der (scheinbaren) Wahl stehen, sich zu assimilieren oder von eben jenen verschüttet zu werden. Dieser Beitrag wird erstens zu zeigen versuchen, wie das Gericht in Der Proceß durch seine Raumordnung als Metapher für eine breitere Machtökonomie der diegetischen Gesellschaftsordnung lesbar wird. Zweitens wird er der Frage nachgehen, inwieweit die Kategorie des Angeklagten als Schnittpunkt gelesen werden kann, der zwar intradiegetisch einen eigenen institutionellen und epistemologischen Stellenwert hat, auf der Metaebene allerdings der Logik des modernen Zusammenspiels bio- und disziplinarpolitischer Interventionen und Prozesse nachspürt.
Im Wesentlichen liefern die beiden Romane - dies soll im Folgenden gezeigt werden - Beispiele für eine Kontinuitätsthese, die Martin Weiß als Lesart benennt: die Fortführung bzw. das unsichtbare (Wieder-)Aufgehen souveräner Macht im biopolitischen Regulieren und Disziplinieren. Um die 'verbundene Polarität' plastisch werden zu lassen, wähle ich die Metapher des Gängelbands als Veranschaulichung, die eine doppelte Lesart in sich vereint: Zum einen steht sie für einen lebenssichernden, biopolitischen Eingriff, der trotz Kontrolle durch die charakteristische 'Steigerung des Lebens' ein repressives Movens ausschließt; zum anderen erweist sie sich als gleichsam rückläufiges Modell, das das 'alte Recht' der autoritären Zucht rehabilitiert. In diesem historischen Rahmen "gesellschaftlicher Transformationsprozesse", manifestiert sich ein (anti-)biopolitisches Wechselspiel. Dieses Spannungsverhältnis findet sich als literarische Reflexion nicht nur in Grosses Roman, sondern auch in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795/1796). Die Protagonisten beider Romane treffen auf sektenähnliche Gruppen, die sie wie am Gängelband führen und so direkt in das Leben der 'Jünglinge' eingreifen. Wie sich dies genau ausgestaltet, soll sich in der folgenden Analyse zeigen.
Der folgende Beitrag interessiert sich für das Verhältnis des biopolitischen Machtmodells zu Phänomenen moderner Serialisierung und möchte wahrnehmbar machen, in welch großem Ausmaß Technologien der Serialität für die Beobachtung, das Verständnis und die Manipulation bzw. Beherrschung des Lebens eingesetzt worden sind. Dabei soll deutlich werden, dass die Beziehungen zwischen Leben und Serialisierung derart umfangreich und ubiquitär sind, dass eine theoretische Beschreibung der Biopolitik ohne die Berücksichtigung des Konzepts 'Serialität' kaum sinnvoll möglich ist. Das mag teilweise auch daran liegen, dass beide Begriffe, also sowohl die 'Biopolitik' als auch die 'Serie' einen nur schwer zu beherrschenden Bedeutungsumfang aufweisen, der dazu verführt, allzu viele Phänomene mit diesen Konzepten zu beschreiben. Um dem etwas entgegenzuwirken, werden im Folgenden verschiedene Bereiche unterschieden, in denen das 'Leben' und die 'Serie' seit dem 19. Jahrhundert aufeinandertreffen, so dass biopolitische Serialisierung konkreter adressiert und eine allzu vage Verwendung der Begriffe vermieden werden kann. Diese Bereiche betreffen die Serialisierung der Wahrnehmung des Lebens, die Serialisierung der Lebensverhältnisse durch Mechanisierungsprozesse in modernen Industriegesellschaften und die massenmediale Serialisierung, die abschließend noch etwas mit Blick auf die periodische Presse und dem Beispiel des von 1923 bis 1935 erschienenen Magazins "Das Leben" konkretisiert wird.
Bereits mit dem Titel dieses Bandes wird in Aussicht gestellt, darin "Biopolitik(en) in Literatur, Film und Serie" zu thematisieren. Mit der Überschrift dieses Beitrags wird hierzu analog angekündigt, die "Modi der Aushandlung menschlichen Lebens in (Gegenwarts-)Literatur, Film und Serie" zu untersuchen. Was jedoch meint 'in' im gegebenen Kontext? Worin besteht die Konnexion zwischen biopolitischer Thematik und künstlerischem Medium, die über die Präposition zum Ausdruck gebracht wird? Zunächst kann ein Auftreten biopolitischer Themen in Erzähltexten auf Ebene der 'histoire' festgestellt werden, insofern Biopolitik in ihren diversen Spielarten die Settings und Plots literarischer wie filmischer erzählender Texte ausgestaltet. [...] Weitergehend kann eine Wirksamkeit biopolitischer Fragestellungen in Erzähltexten auf Ebene des 'discours' konstatiert werden, sobald Biopolitik zum Reflexionsanlass eines erzählenden Textes wird. Über Szenario und Handlung hinausgehend, eröffnen semantische, narratologische oder metafiktionale Auseinandersetzungen mit biopolitischen Fragen neue Aushandlungs- und Reflexionsräume, in denen Biopolitik perspektiviert und problematisiert wird und mit denen eine kritische Revision durch die Rezipierenden initiiert wird. In dieser Variante biopolitischer Thematik in erzählenden Texten wird somit Biopolitik nicht nur zur Darstellung gebracht, sondern zur Disposition gestellt. In dieser Weise kann ein Erzähltext selbst als Beitrag zum biopolitischen Diskurs fungieren und als solcher Lebenswissen generieren. Auf diesen Prämissen aufbauend werden im Folgenden zunächst der Begriff der Biopoethik und die Besonderheiten biopoethischer Modi skizziert, bevor eine ausführlichere Betrachtung vier solcher Modi an konkreten Erzähltextbeispielen erfolgt. Als komplementäre Ergänzung zur Produktivität biopolitischer Diskurse, wie sie im voranstehenden Beitrag erarbeitet wird, soll so die Produktivität narrativer Biopolitik(en) verdeutlicht werden.
Der titelgebende und in Klammern gesetzte Plural des foucaultschen Begriffs ist bewusst gewählt worden, um im Rahmen dieses Beitrags einem Modell biopolitischer Ordnung Rechnung zu tragen, das ebenso vielfältig und vage wie gerade hierdurch anschluss- und tragfähig ist. Die Anschluss- und Tragfähigkeit ergibt sich letztlich aus der, für die Kulturwissenschaften relevanten, Blickrichtung auf das Subjekt im Kontext biopolitischer Diskurse. Dieses im Folgenden zu skizzierende Modell umfasst nämlich Mechanismen biopolitischer Ordnungen wie auch deren Deutungsangebote, die sich grundsätzlich auf das Subjekt und dessen Verortung innerhalb von Gesellschaften beziehen und in einem weiteren Schritt über diese Gesellschaft Aussagen treffen, die unweigerlich mit dem Subjekt verbunden sind. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in zwei Teile, von denen der erste 'Biopolitik' als 'Biopolitiken' ausdifferenziert, bevor der zweite Teil von diesen Überlegungen ausgehend das Subjekt und dessen ambivalentes Verhältnis zur Gemeinschaft, im Sinne Roberto Espositos zur 'communitas', thematisiert. Letztere Überlegungen führen zu der Fragestellung nach der Verortung des Subjekts im Konnex von 'Biopolitik(en)' und Selbstbestimmungsdynamiken der Gegenwart. In Bezugnahme auf Foucaults Definition der Biopolitik haben sich vielzählige weitere Ansätze entwickelt, die sich aus einer Metaperspektive mit der Situation von Gesellschaften beschäftigen und die sich im Kontext der modernen Gesellschaft vordergründig auf die Kontrollierung und Überwachung des Subjekts und des menschlichen Körpers beziehen. Dieser titelgebende Plural versteht sich demnach, so die These dieses Beitrags, als doppelter Plural, nämlich zum einen als historisch und zum anderen als konzeptionell gedachtes Modell, das die Regulierung und Anwendung von Naturwissenschaft und Technik auf den Menschen umfasst und in einem zweiten Schritt den gegenwärtigen Mensch zum Hüter biopolitischer Machtmechanismen erklärt. Im zweiten Teil dieses Beitrags wird daher der Fokus auf die Verortung des Subjekts im Zusammenhang biopolitischer Maßnahmen in der Gegenwart, mit besonderem Blick auf den Bereich der Gesundheitsförderung, gelegt. Aus dieser doppelten Perspektive auf Biopolitik(en) ergibt sich gleichzeitig auch eine doppelte Perspektive auf das Subjekt, das sich im Zuge biopolitischer Umschreibungsprozesse in ein multiples Subjekt umschreibt.
Das politische Interesse am menschlichen Leben durchdringt nicht nur Wissenschaften, Ökonomie und Ethik, sondern auch die Künste. Die fiktionalen Welten von Literatur, Film und Serie fungieren als Aushandlungs- und Reflexionsräume von Biopolitik(en): Menschliche Figuren werden innerhalb biopolitischer Strukturen modelliert, um den Menschen als Individuum sowie als Teil einer Gemeinschaft zu reflektieren; menschliche Lebensweisen werden in vielzähligen Varianten durchgespielt und in ihrer Bedeutung ausgelotet, um ein spezifisches Wissen über den Menschen zu generieren, das kritisch zum biopolitischen Diskurs beiträgt. Es ist ebenjener kritische Diskursbeitrag von Literatur, Film und Serie, der uns im vorliegenden Band interessiert. Dieser Sammelband, der auf einen von Studierenden des Fachbereichs Komparatistik / Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn organisierten wissenschaftlichen Workshop im September 2021 zurückgeht, wagt, sich diesen Aushandlungen und Reflexionen von Biopolitik(en) in Literatur, Film und Serie zu stellen und sie produktiv zu diskutieren.
Spiele und ihre Räume
(2023)
Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.
Hans Jonas im Radiointerview
(2023)
Am 10. Mai 2023 jährt sich der Geburtstag des Philosophen Hans Jonas zum 120. Mal, der 5. Februar war sein 30. Todestag. Dies soll Anlass sein, auf ein Interview mit ihm hinzuweisen, das 1988 erstmals im Radio ausgestrahlt wurde und seit kurzem wieder zugänglich ist. Geführt wurde das Gespräch von dem Journalisten Harald von Troschke (1924–2009), der für die Aufzeichnung einen Besuch des aus den USA angereisten Hans Jonas' in Heidelberg nutzte.
Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm "Solaris". Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen 'besucht', die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station. [...] Andrej Tarkovskij (1932–1986) zählt heute zu den großen, weltweit bekannten russischen Filmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Unter Cineasten war er 1972 schon längst kein Geheimtipp mehr; "Solaris" war sein dritter abendfüllender Spielfilm. Der Sohn des Dichters Arsenij Tarkovskij hatte bis 1960 am Moskauer Staatlichen Filminstitut in der Regieklasse von Michail Romm studiert. Seine Anfänge als Regisseur fielen in die sogenannten Tauwetter-Jahre, als sich der sowjetische Film von der heroischen Ästhetik der Stalinzeit befreite, individuelle Schicksale stärker in den Blick nahm und in Anlehnung an den Avantgardefilm der 1920er Jahre teils mit subjektiver Kameraführung experimentierte. [...] Das Drehbuch zu "Solaris" schrieb Tarkovskij gemeinsam mit dem Schriftsteller Fridrich Gorenstejn (1932–2002). Später bekannte Tarkovskij, dass ihn Lems eigentliche Science-Fiction-Geschichte über das Aufeinandertreffen von menschlicher Vernunft und einem so unergründlichen kosmischen Phänomen wie dem schweigenden, aber offenbar lebendigen Ozean auf dem Planeten Solaris wenig interessiert habe. Deshalb verschober im Film die Perspektive auf die ethische Dimension jeglichen Handelns des Menschen - sowohl gegenüber seinen Mitmenschen als auch gegenüber der Zukunft der Erde.
Neulich nahm ich ein Buch von Sigrid Weigel in die Hand, das 1982 erschienen ist. Normalerweise bleiben alle Buchtitel auf einer Publikationsliste brav in einer chronologischen Reihe, und selbst wenn die Schlange sehr lang ist, was bei Weigel zweifellos der Fall ist, springt keiner von ihnen aus der Reihe und rennt nach vorne, in Richtung Zukunft. Aber es kommt doch vor, dass man, zum Beispiel bei einem Umzug, eines der Frühwerke in die Hand nimmt und darin blättert. Man wird überrascht von schillernden Denkbildern, die von heute sein könnten. Ansätze und Zusammenhänge, die man einer späteren Phase zugeordnet hätte, oder solche, die man jetzt erst begreift, stehen bereits in den älteren Büchern schwarz auf weiß. Gerade im digitalen Zeitalter, in dem die historischen Rahmen verschwimmen, gefällt mir die Unbestechlichkeit des Papiers, das die Zeit nie schleichend verfälscht. In der Forschung gibt es stets Fortschritt, aber wenn ich mir erlaube, Weigels Schriften nicht nur als wissenschaftliche Texte, sondern als Texte in ihrer gattungsfreien Nacktheit zu lesen, gibt es keinen Satz darin, der überholt ist. Die zeitliche Ordnung bleibt, verliert aber ihren hierarchischen Charakter. Wo ich eine alte Erinnerung erwarte, entdecke ich eine neue Möglichkeit, die Gegenwart zu verstehen. So entstand in mir der Wunsch, die jüngere Vergangenheit durch das Fenster der älteren zu betrachten. Ich rede hier nicht von der magischen Glaskugel einer Wahrsagerin, sondern von einer soliden Relektüre.
Das ZfL dürfte die einzige Institution gewesen sein, der er je nähergetreten ist. Als Senior Fellow schätzte er vor allem den Zugang zur Bibliothek des Hauses, wo man ihn häufig im Gespräch fand mit den Bibliothekarinnen oder anderen Besuchern, stets neugierig, mitteilungsfreudig, und meistens heiter. Manche Jüngere haben erst im Laufe der Zeit erfahren, dass der muntere ältere Herr so berühmt war. Ansonsten pflegte er gewissenhaft Abstand zu allem Institutionellen. Die Position des nicht direkt involvierten Beobachters war ihm schon während des Studiums in Frankfurt a.M. und Berlin zur zweiten Natur geworden. Sie befähigte ihn zeitlebens zu oft überraschenden, häufig provozierenden Ansichten, die sich mit Eitelkeit nicht vertrugen. Wolfgang konnte sehr charmant sein, aber er war vollständig uneitel. [...] Als Ein-Mann-Forschungsinstitution hat Wolfgang ein denkbar breites Themenfeld bearbeitet. Es reicht von der Geschichte der Eisenbahnreise (1977) über die Bedeutung der Genussmittel (1980) und die Elektrifizierung der Großstädte (1983) bis zu Analysen über die Kulturpolitik in Berlin in der kurzen Spanne nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs (1995), die Kultur der Niederlage (2001) und das Verschwinden des geordneten Rückzugs aus der Geschichte der Kriege (2019). In Technik-, Mentalitäts-, Intellektuellen- oder Militärgeschichte und auch im wohlfeilen Label der 'Kulturgeschichte' geht keines auf - wenngleich die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Geschichte eine Konstante im Werk darstellt.
Teil I Bestandsaufnahme und strategische Entwicklung
Teil II IT-Umsetzung der FID-Strategie
beteiligte FID:
FID Afrikastudien | africanstudieslibrary.org
FID Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft | avldigital.de
FID Biodiversität | biofid.de
FID Darstellende Kunst | performing-arts.eu
FID Germanistik | germanistik-im-netz.de
FID Jüdische Studien | jewishstudies.de
FID Linguistik | linguistik.de
Diversität, philatelistisch
(2023)
Seit mehr als 40 Jahren erscheinen in Deutschland Briefmarken, die sich dem widmen, was wir heute gesellschaftliche Vielfalt oder Diversität nennen. Im November 2022 wurde unter dem Titel "Vielfalt in Deutschland" eine neue Marke präsentiert. An deren Motiv, vor allem aber ihrer Präsentation durch die Deutsche Post DHL Group (wie die Deutsche Post heute offiziell heißt) wird deutlich, wie schwer es ist, zeitgemäße Bilder für 'Diversität' zu finden. [...] Das Massenmedium Briefmarke hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Menschen weniger Briefe und Postkarten schreiben und folglich immer weniger Marken verklebt werden. Seit der Privatisierung der Post in den 1990er Jahren hat die Briefmarke zudem als Teil der staatlichen Selbstdarstellung und damit der politischen Ikonographie an Bedeutung eingebüßt. So wird nur noch ein Teil der Marken vom Finanzministerium und dem Kunstbeirat für Postwertzeichen verantwortet, der andere wird von der Deutschen Post herausgegeben. In der Konsequenz bedeutet dies, dass manche Motive aus primär kommerziellen Gründen gewählt werden und nicht mehr, um spezifischegesellschaftliche Anliegen zu repräsentieren, die der Staat sich zu eigen macht. Infolge dieser Kommerzialisierung haben sich neue Motivgruppen und Darstellungsstile etabliert, die offenbar als marktgängiger empfunden werden. Schließlich hat die Einführung eines individuellen Matrixcodes, der seit 2021 in Deutschland auf allen neuen Briefmarken zu finden ist, dem Design der Marken ein neues Element hinzugefügt. Dieses mag zwar der Nachverfolgung von Postsendungen dienen und Fälschungssicherheit garantieren, gestalterisch indessen bringt es dieses Kunstwerk in Miniaturformat, als das es Walter Benjamin einst ansah, in die Bredouille. Doch trotz des nicht zu leugnenden Prestigeverlusts: Die Briefmarke ist und bleibt ein Massenmedium, mit dessen Hilfe sich die Staaten dieser Welt nach innen wie nach außen ein bestimmtes Image geben wollen. Was also sagen uns die Marken zur Diversität?
Schon die Überschrift dieses Berichtes führt in die Thematik der Tagung ein. Wie soll es möglich sein, fünfzig Beiträge in einen knappen Report zu fassen? Die Struktur könnte einer Bildergalerie gleich sein, bei der es eine Gesamtwahrnehmung gibt, und dann wird das Spotlight fokussiert und die Vorhänge der persönlichen Vorlieben beiseite gezogen. Das Genre des Tagungsberichtes würde dann selbst zur Verschleierung werden, indem es die Beiträge vorsortierte, den Eröffnungsabend wichtiger machte als den Rest, die Vorträge über die Diskussionen und Pausengespräche erheben und eine definierende kanonische Lesart der Tagung vortragen würde. Stattdessen bemühen wir uns im Folgenden, zwei Blickwinkel auf die Tagung miteinander zu korrelieren, um so eine Verblendung unserer subjektiven Erfahrungen anzubieten.
Nach strukturalistischen Theorien sind Detektiverzählungen allererst durch die Rekonstruktion des vor Beginn des 'discours' angesiedelten 'Vor-Falls' motiviert. Damit wird die Detektiverzählung nicht nur zu einer Meta-Erzählung über Erzählungen - "its classical structure a laying-bare of the structure of all narrative in that it dramatizes the role of 'sjužet' and 'fabula' and the nature of their relation" -, sie ist strukturell auch an ein spezifisches Zeichenverständnis gekoppelt, das für Detektiverzählungen konstitutiv ist und von Carlo Ginzburg als "Indizienparadigma" betitelt worden ist. Im Kern dieses Paradigmas steht die Annahme der Existenz "eines tiefen Zusammenhangs, der die Phänomene der Oberfläche erklärt", wobei dieser Zusammenhang "undurchsichtig" sei und nicht direkt erkannt werden könne. Mit dem Indizienparadigma, dessen Siegeszug zum Ende des 19. Jahrhunderts Ginzburg im synchronen Querschnitt anhand der Kunstgeschichte, Freuds Psychoanalyse und dem Detektivroman nachzeichnet, kommt nun ausgerechnet dem Wertlosen und Nebensächlichen ein gesteigertes Erkenntnispotential zu: Erst diese "unendlich feine[n] Spuren" erlauben es, die "tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen." Dabei betont auch Ginzburg, dass dieses epistemologische Modell auf der paradigmatischen Selektion und der syntagmatischen Kombination basiert, die er mit Metapher und Metonymie identifiziert. In dieser weiten Konzeption, der hier gefolgt wird, werden die beiden ursprünglich rhetorischen Figuren zu Denkfiguren, die für das Funktionieren von Detektivromanen grundlegend sind. Und genau darum soll es in diesem Aufsatz gehen: Gegenübergestellt werden zwei Detektivromane, die die Metapher (Thomas Pynchons "The Crying of Lot 49") und Metonymie (Wolf Haas' "Komm, süßer Tod") in komplementärer Weise zum zentralen Strukturelement ihrer Geschichte erheben. Im Ergebnis entfaltet in beiden Romanen ein pathologisches Schreib- und Erkenntnismodell seine Kraft, das das Zeichenverständnis im klassischen Detektivroman fundamental in Frage stellt.
Die Verbindung von postulierter metaphysischer Leere und einem radikal geleugneten und doch wieder herbeizitieren Gott, in deren Kontext der Gedanke erschreckender körperlicher Verstümmlung eine Rolle spielt, kennzeichnet in bewusst outrierter Weise einzelne Texte aus dem literarischen Werk, darunter der wenig bekannten Lyrik des Philosophen und Schriftstellers Georges Bataille, der wie kaum ein anderer Autor des 20. Jahrhunderts quasi unausgesetzt in immer neuen Anläufen eine Daseinserfahrung umkreist, die an Radikalität und Abgründigkeit ihresgleichen sucht. Bataille imaginiert die willentliche Selbstzerstörung des Ichs auf der Suche nach einem Absoluten, die sich speziell in rauschhaft-transgredierenden Erfahrungen von Leid, Versehrung, Obszönität und Ekel vollzieht. In einer Aufzeichnung aus der 1939-1943 entstandenen Sammlung "Le Coupable" (1944), welche zur gleichen Schaffensperiode wie die meisten seiner lyrischen Texte gehört, spricht Bataille in einer prägnanten Begriffsfügung von seiner Konzeption eines "anthropomorphisme déchiré". So wie es gelte, in jeglichem Sein "le lieu sacrificiel, la blessure" (OC V, S. 261) zu suchen, wird das in "Le Coupable" meditierende Ich (nur) in der Erfahrung des versehrten lebendigen Opfers eines Göttlichen habhaft: "Un être n'est touché qu'au point où il succombe, une femme sous la robe, un dieu à la gorge de l'animal du sacrifice" (OC V, S. 261). In der geistigen Auseinandersetzung mit einer christlichen Theologie, die "jusque dans la nuit du Golgotha" (OC V, S. 262) an der Vorstellung einer vollendeten Welt festhält, erkennt Bataille: "Il faut tuer Dieu pour apercevoir le monde dans l'infirmité de l'inachèvement" (OC V, S. 262). Die imaginierte Tötung Gottes lässt dann an die Stelle eines abwesenden Gottes einen versehrten Gott treten.
Jurij Ščerbaks Erzählung "Černobyl'. Dokumental'naja povest'" ("Černobyl'. Dokumentarische Erzählung", 1987) und Emmanuel Carrères autofiktionaler Roman "Un roman russe" (2007) erzählen von Entgrenzungserscheinungen von Arbeit in die Sphäre der 'Nicht-Arbeit' und von der Grenze und ihrer Überschreitung zwischen ästhetischen Praktiken und der Sphäre des zweck- oder normorientierten Handelns. Beide reflektieren zugleich poetologisch die Bedingungen dieser Entgrenzungen. Dabei könnten beide Texte unterschiedlicher kaum sein: Ščerbak reflektiert in seiner dokumentarischen Erzählung die Möglichkeiten eines ethischen Schreibens über die Arbeit an der Beseitigung der Folgen der Nuklearkatastrophe von Černobyl' und den Preis des Dokumentarischen, wenn Gegenstandsnähe tatsächlich Lebensgefahr bedeutet. Carrère hingegen geht es um das Dokumentieren seiner spätmodernen Wirklichkeit, die er ganz grundsätzlich als ästhetisch wahrnimmt. Bei dem Versuch, diese so wahrgenommene Wirklichkeit in Form eines Dokumentarfilms wiederzugeben, stößt er an die Grenzen des Erzähl- und Darstellbaren. Beide Texte, so die These der folgenden Ausführungen, vereint ein Diskurs, der dokumentarische Schreibweise und entgrenzte Arbeit zusammenführt. Die Betrachtung von Grenzziehungen und ihren Überschreitungen, ein zentrales Thema der Literatur, bringt in beiden Texten Überlegungen zu ethischen, sozialen, politischen, aber auch ästhetischen Aspekten hervor.
Autobiografische Erzählungen über den Rückzug in die Natur und die Rückkehr zum einfachen Leben erleben gegenwärtig eine Hochkonjunktur. Das Faszinosum des Retreat in natürliche Zufluchtsorte abseits der urbanen Welt findet sich nicht nur in der Flut aktueller Ratgeberliteratur, sondern kommt vielfach auch in neuen Formen von Reiseberichten und autobiografischen Selbsterkundungen in der Natur prägnant zum Ausdruck. [...] Die semi-fiktionalen Darstellungen alternativer Lebensentwürfe verstehen sich oftmals als Gegenmodelle zur Modernisierung oder zur hochtechnisierten oder digitalisierten, konsumorientierten Lebenswelt. Dabei handelt es sich meist um Narrative des Rückzugs, die sich mit aktuellen Erprobungen des Nature Writing verbinden. Die intensiven Naturerfahrungen erhalten im Zeichen gegenwärtiger ökologischer Krisen häufig neue Bedeutungszuweisungen und eine gesteigerte Wertschätzung und fordern in ästhetischer und sprachlich-stilistischer Hinsicht experimentelle Formen heraus. Die autobiografische Schreibweise nimmt interessante Ausprägungen an, während neben den Selbstreflexionen und der Selbsterfahrung des Subjekts die Erkundung oder Wiederentdeckung eines Landschaftsraums ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und beide Seiten eine enge wechselseitige Beziehung eingehen. [...] Dabei können die Autoren auf Vorbilder einer seit der frühen Neuzeit produktiven Naturdarstellung in unterschiedlichen Genres, insbesondere in der Lyrik, zurückblicken. [...] Die Darstellung von Einsamkeit in der Literatur wird allerdings von Anfang an von inhärenten Paradoxien begleitet, die sich bis in die Retreat-Literatur der Moderne und Gegenwart fortschreiben. [...] Die literarische Darstellung von Einsamkeitserfahrung, sei es als lyrische Evokation, sei es als Narrativierung des Rückzugs, tendiert dazu, zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen zu oszillieren, und transportiert gewisse Aporien, die auch in ihren neueren Formen und Spielarten zu beobachten sind. Im Februar 2010 verlässt der Schriftsteller Sylvain Tesson, bekannt als 'poète-voyageur', seine Wohnung in Paris und bricht zu einer Reise in die Sibirischen Wälder auf, um die kommenden sechs Monate allein in einer Hütte am Ufer des Baikalsees zu verbringen. Während seines Sibirienaufenthalts hat der Autor nicht nur Aufzeichnungen für sein 2011 bei Gallimard erschienenes Buch "Dans les forêts de Sibérie" verfasst, sondern sich zudem immer wieder selbst gefilmt, seinen Tagesablauf über die Monate hinweg in einer filmischen Dokumentation festgehalten. Die Dreharbeiten und Regie hat Tesson demnach selbst übernommen, erst bei der späteren Verarbeitung und Montage des Materials unterstützte ihn Florence Tran. [...] Offenbar geht es dem Autor nicht zuletzt darum, die diversen Eindrücke während der Dauer seines Retreat sowie die damit einhergehenden Veränderungen seiner Psyche minutiös zu protokollieren. Die kontinuierliche Präsenz der Kamera lässt allerdings auch den Inszenierungscharakter der Hüttenerfahrung deutlich werden, während eine gewisse artifizielle Qualität der Lebens- und Schreibsituation kaum zu verkennen ist. Tessons Darstellungen bewegen sich von Anfang an in einem Spannungsfeld zwischen authentischer Erfahrung und ästhetischer Selbststilisierung. Die Suche nach der Extremsituation der Einsamkeit, der solitären Existenz und des Auf-sich-gestellt-Seins in der Wildnis wird zudem paradoxerweise von einer medientechnisch unterstützten Kommunikationssituation überlagert, die den französischen und internationalen Rezipienten später ermöglichen soll, an den Erfahrungen in der Einöde am Baikalsee zu partizipieren.
Die koreanische Autorin Bae Sua, die sowohl als Übersetzerin aus dem Deutschen wie als Erzählerin immer wieder die Auseinandersetzung mit deutscher Kultur und Literatur sucht, ließe sich mit Uljana Wolf, Yoko Tawada oder Tomer Gardi einer Literatur der Multilingualität zuordnen, die sich der deutschen Sprache in bewusster Befremdung nähert, in ihren Schreibverfahren mit Mehrsprachigkeit experimentiert, die Möglichkeiten einer "polyglot hybridity and pan-cultural allusiveness" auslotet. Zurecht stellt die Germanistin Ahn Mi-Hyun fest, dass sich Bae immer wieder mit der verfremdenden Wirkung beschäftigt, die unbekannte und ungewohnte Fremdsprachen auf die Wahrnehmung des vermeintlich Vertrauten haben, dass sie das Koreanische durch ungewöhnliche Wendungen und grammatische Formen bereichere, die zum Teil wie formale Übernahmen aus dem Deutschen erscheinen, und dass das Aufsuchen des Fremden, das Leben in fremden Räumen, das Lernen fremder Sprachen ein mit großer Konsequenz verfolgtes Thema ihres Schreiben ist, ja, in einem ihrer Texte schlägt Bae sogar vor, sich in der eigenen Sprache wie in einer fremden zu bewegen, als würde man sie nur schlecht verstehen. Immer wieder wird in ihrem Werk auch auf deutsche Literatur Bezug genommen, werden Textpassagen, mitunter auch ganze Gedichte in koreanischer Übersetzung zitiert, treten mit Kafka oder auch mit Jakob Hein deutsche Autoren, bzw. deren Bücher in Nebenrollen auf. Aber anders als die genannten Autor*innen ist die polyglotte Autorin Bae Suah, die sich durchaus einer "planetaren" - also ihrer globalen Vernetztheit bewussten "Poetik" - im Sinne Pizers zuordnen lässt, in ihren Texten nicht mehrsprachig. Ein merkwürdiges Paradox: eine Autorin, die über das Leben zwischen den Sprachen schreibt, sich in mehreren Sprachen bewegt, darüber reflektiert, aber sich dann doch nicht der Strömung "literarischer Mehrsprachigkeit" zuordnen lässt, die in den letzten Jahren vermehrt ins Feld der Aufmerksamkeit der interkulturellen Germanistik gerät. Es sei denn, es gäbe so etwas wie eine einsprachige Mehrsprachigkeit.
"Economy of the Unlost. (Reading Simonides of Keos with Paul Celan)", so nennt die Schriftstellerin, Theatermacherin, Buchgestalterin und Altphilologin Anne Carson eine 1999 erschienene längere Abhandlung. Die Formulierung des eingeklammerten Untertitels suggeriert eine ungewöhnliche Perspektive: Celan soll offenbar dabei helfen, Simonides zu lesen, der moderne Dichter in den Dienst einer Annäherung an den antiken Dichter treten - und nicht etwa umgekehrt der antike Dichter als Vorläufer und Wegbereiter Celans interpretiert werden. [...] Mit Simonides werden in Carsons Abhandlung verschiedene Themen assoziiert: eine Ökonomie der (poetischen) Mittel - unter anderem im Sinn eines 'Transports' von Kontrafaktischem zugleich mit Faktischem, also eines Sprechens mit gedoppelter Aussage - sowie eine poetische Kunst des Erinnerns. Von beiden Themen her stellt Carson Beziehungen zu Celan her, nicht unbedingt direkte Analogien, aber doch Korrespondenzen hinsichtlich der Poetik und der Auffassung über die Funktionen von Dichtung. Sie liest, hierin einer breiten Rezeptionsspur folgend, Celans Gedichte als Auseinandersetzung mit dem Tod und den Toten im Zeichen der Holocausterfahrung und des Wunsches nach Gedenken. Carson betrachtet auch Celan als einen 'ökonomischen' Dichter, ausgehend vom Bild des Sprachgitters, von Konzepten der Reinigung, Verknappung, Kondensierung. Auch Celan verbindet das Faktische mit dem Kontrafaktischen. [...] Carson präpariert aus poetischen Texten der von ihr kommentierten Dichter vor allem Sprachbilder heraus, um sie zu kommentieren, und sie denkt selbst dabei gern am Leitfaden von Sprachbildern. Welche Art von Wissen aber vermittelt ihr im Stil einer wissenschaftlichen Abhandlung verfasster Text über Celan? Und über Simonides? Das Echo, das "Economy of the Unlost" in Fachkreisen gefunden hat, war geteilt: teils ausnehmend kritisch, teils anerkennend. [...] Wie auch immer man den Erkenntniswert, die Vermittlungsleistung, den hermeneutischen (oder eben posthermeneutischen) Ertrag des Essays bewertet - über einen Gegenstand gibt er doch in jedem Fall Aufschluss: über Carsons eigene Poetik. Er kann als prägnante Heranführung an ihr eigenes Werk, ihre eigene Poetik gelesen werden.
In ihren Arbeiten zu Emily Dickinson und Paul Celan macht Shira Wolosky immer wieder auf die thematischen und linguistischen Gemeinsamkeiten der beiden Autoren aufmerksam. Dabei betont sie beispielsweise die stilistischen Auffälligkeiten in beiden Werken. Zudem beschreibt Wolosky neben den Parallelen eine Art des Austauschprozesses zwischen den Werken, die durch die Übersetzung Celans entstehe. In einer zweiten Arbeit zu Dickinson und Celan führt sie diesen Gedanken weiter aus und sieht in der Übersetzung eine Darstellung von Celans eigener Perspektive auf Dickinsons Werk. Auch in der deutschsprachigen Forschung gibt es Beiträge, die herausgearbeitet haben, dass eine nähere Beschäftigung mit Dickinson und Celan relevant ist, da beide ähnliche Themen in ihren Dichtungen behandeln, darunter "die Beziehung des Ichs innerhalb der Spannungsfelder von Liebe und (zumeist unerfülltem) Begehren, Zeit und Ewigkeit, Schöpfung und Vergänglichkeit, Tod und Unsterblichkeit, Gott und Transzendenz, Offenbarung und verweigerter Theodizee." Trotz dieser vielversprechenden Untersuchungen wurde den Dickinson-Übersetzungen Celans im Allgemeinen in der Forschung wenig Beachtung geschenkt, bzw. wurde der Schwerpunkt vor allem auf linguistische Analysen gelegt (so wie die von Wolosky selbst). Im Folgenden möchte ich daher das Gedicht "Because I could not stop for Death", das in der Übersetzung Celans 1959 im Fischer Almanach erschien, näher betrachten und dabei fragen, auf welche Weise sich Celans Übersetzung von Dickinsons Vorlage unterscheidet. Dabei werde ich an Woloskys These anknüpfen, dass Celan die Gedichte nicht nur übersetzt, sondern auch stark bearbeitet und mit seiner eigenen Dichtung verbindet.
Die Meridian-Rede ist als die zentrale poetologische Schrift Celans anzusehen, in der er sich mit unterschiedlichen poetologischen und philosophischen Konzepten auseinandersetzt. Im Folgenden werden die vielen für die Rede bedeutsamen Intertexte jedoch nicht nochmals thematisiert; es soll vielmehr das Augenmerk auf die Rhetorik des Raums gerichtet werden. [...] Aufbauend auf Celans Poetik des globalen Raums soll der Versuch unternommen werden, dessen Konzeption einer dichterischen Toposforschung anhand eines Gedichts aus dem im Jahr 1967 erschienenen Band "Atemwende" plausibel zu machen. Es handelt sich um das letzte Gedicht des zweiten Zyklus und trägt den Titel "Hafen".
Dass Celans Gedichte schwer zugänglich sind, ist bekannt und hat vielfache Gründe, von denen einige bereits zur Sprache kamen und die er besonders im Meridian dargelegt hat, worin er schließlich auf das, was er als ein "Gegenwort" bezeichnet, zu sprechen kommt, etwas, was zu Recht als ein "dichterischer Ausbruch aus verschlissenen Metaphern und banalisiertem Vokabular" aufgefasst werden kann. So gesehen ist gerade auch das Fremde und Unzugängliche dem Gedicht eigen und gehört mit zu seiner besonderen poetischen Sprache. Vor allem auch die hebräischen Worte lassen sich in diesem Kontext als 'Gegenworte' auffassen, die die Hermetik des Gedichts zunächst noch zu verstärken scheinen. Bei genauerer Analyse erweist sich jedoch, dass diese 'Schibboleths', wie man jene in der deutschen Sprache fremden und vielleicht befremdlich wirkenden Worte auch nennen könnte, zwar die Zugänglichkeit des Gedichts erschweren und die Herausforderung an den Rezipienten erhöhen. Werden diese jedoch als Losungsworte erkannt, so sind sie zugleich auch wichtige Erkennungsmale, die einen besonderen Übergang, einen ungeahnten Zugang, mithin eine Öffnung in ein Unbekanntes und Anderes ermöglichen. Zwei Gedichte sollen nun im Folgenden genauer vorgestellt werden. Zunächst wird es um das Gedicht "Schibboleth" gehen, in dessen Titel zum ersten Mal bei Celan ein hebräisches Wort auftaucht. [...] Abschließend soll es um ein Gedicht gehen, dessen letzte Verse in diesem Fall von zwei hebräischen Worten gebildet werden. Am 3. Dezember 1967 schreibt Paul Celan ein eher kurzes Gedicht, das jedoch von einer außergewöhnlichen, zeitlichen wie sprachlichen Vielschichtigkeit ist, und das gern auch als ein 'Jerusalemgedicht' bezeichnet wird.
Der vorliegende Beitrag stellt einen Versuch dar, einige bio-zentrisch konzipierte Gedichte aus der Spätphase von Paul Celans Schaffen vom posthumanistischen Standpunkt her zu lesen. [...] Betrachtet man Celans Werk aus der Perspektive seines spezifischen 'nature writing', so lässt sich behaupten, dass verschiedene Elemente der außermenschlichen Natur zumindest ab dem Band "Sprachgitter" (1959) in seinen Texten eine sehr wichtige Rolle spielen. Während aber in diesem Band vor allem Bilder unbelebter Natur und geologische Schichten vom versteinerten Leben Celans poetische Landschaften mitgestalten, nehmen die bio-orientierten Referenzräume in seinem späteren Werk einen immer mehr vegetativen und animalischen Charakter an. Diese stilistische Gestik äußert sich nicht nur in der Hinwendung zu Pflanzen- und Tiernamen, die meist mit großer Kenntnis der Fachbegriffe einhergeht, sondern auch in Celans Vorliebe für Fachvokabular aus den Bereichen von Geologie, Botanik, Zoologie, Paläontologie etc. Textanalytisch ist dabei nicht bloß diese lexikalische Spezifik interessant, sondern ihre jeweilige Funktionalisierung in den einzelnen Gedichten, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Die globalen Waren, mit denen die Literatur handelt, sind oftmals Gegenstände, die sich der Wertform des Kapitals entziehen: Sie sind Gaben, die - etwa im Sinne Greenblatts - eine Zirkulation sozialer Energien bewirken oder - im Sinne Derridas - ein die Ökonomie des Tauschprinzips unterbrechendes Ereignis stiften können. Das globale Moment der Literatur bestünde demnach darin, dass, wie es Goethe in "Dichtung und Wahrheit" formuliert hat, "die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei". Diesem Verständnis von Literatur als "Welt- und Völkergabe" ist auch Paul Celans Werk verpflichtet. In der Gabenstruktur seiner Gedichte, die sich in der bewussten Hinwendung zum Anderen anzeigt, kommt auch der Weltbezug dieser Dichtung zum Ausdruck. Diesen vielfältigen Facetten von Celans literarischem Weltbezug sind die in diesem Themenschwerpunkt versammelten Beiträge gewidmet. Dem Werk Celans muss die Struktur der Globalisierung nicht erst künstlich zugeschrieben werden: Sie ist ihm inhärent. Denn zum einen hat die Erfahrung von Migration und Mehrsprachigkeit Celans Schreiben in hohem Maß geprägt; zum anderen ist aber auch die globale Dimension der Literatur, nämlich der weltliterarische Gestus seines Schreibens, in den Texten stets präsent.
Am 29. Oktober 2020 starb im hohen Alter von 93 Jahren im belgischen Genk der international renommierte Komparatist Hugo Dyserinck, langjähriger Leiter des nach seiner Emeritierung unrühmlich "abgewickelten" einstigen "Lehr- und Forschungsgebiets Komparatistik" in der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen. Der am 27. August 1927 im belgischen Brügge geborene Dyserinck wird vor allem als spiritus rector des "Aachener Programms" in Erinnerung bleiben. Er vermochte mit seiner imagologischen Version der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft nicht nur Marksteine in der Komparatistik zu setzen, sondern wirkte darüber hinaus auch fruchtbar auf die kulturwissenschaftliche Europaforschung. Mit der von ihm jahrzehntelang in Theorie und Praxis entscheidend geprägten und propagierten komparatistischen Spezialdisziplin "Imagologie" lieferte der polyglotte Kosmopolit Dyserinck einen wichtigen Beitrag zur Dekonstruktion des Denkens in nationalen bzw. ethnischen Kategorien.
Aus dem Inhalt: Nachruf. Zum Tod von Hugo Dyserinck (1927-2020) - Peter Brandes: Paul Celan - Dichtung als globale Sprache - Paweł Piszczatowski: Paul Celan in postanthropozentrischer Perspektive - Friederike Heimann: Über das "Gegenwort" des Hebräischen in der Dichtung Paul Celans - Peter Brandes: Figuren des Globalen in Celans Hamburg-Gedicht Hafen - Anna Murawska: Emily Dickinson in der Übersetzung Paul Celans - Monika Schmitz-Emans: Deutungsperspektiven auf Celan bei Anne Carson - Roman Lach: Stimmen aus dem Geisterreich. Bae Suah und die Mehrsprachigkeit - Annette Simonis: Narrative des 'Retreat' und ihre inhärenten Paradoxien - Alena Heinritz: Arbeit dokumentiert. Jurij Ščerbak und Emmanuel Carrère - Stefan Bub: Der versehrte Gott und das erblindete Ich in Texten von Georges Bataille - Matthias Beckonert: Pathologische Wahrheit(en). Wolf Haas und Thomas Pynchon - Tagungsberichte, Rezensionen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik - und später Rettungsflugzeugen - wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten "Situationstyp" zu definieren. Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt.
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
Zu Hegel nicht ohne Fichte
(2020)
Geht man die Philosophiegeschichte treu durch wie der Zeiger das Ziffernblatt an der Wanduhr, so weiß man bald nicht mehr, wo man ist. Das kommt den Hegel-Leser an, erinnert er sich noch, was bei Fichte stand, und lässt sich nicht täuschen von der brausenden Kant- und Fichte-Polemik des jungen Privatdozenten, als der sich selbst noch suchte. Bald wusste er besser, was ihn auf seinen Weg gebracht. Es gibt Polemiken in der Philosophie, wie von Leidenschaft getrieben, und am heftigsten gegen den im Denken Nächsten. Hegels Anfänge waren Kant- und Fichte-Abfertigungen gewesen. Kant und Fichte, eben 20 Jahre nach ihren epochemachenden Schriften wurden sie schon für Zurückgebliebene erklärt. Nicht Weltblick für den schöpferischen Geist der Zeit werde geöffnet von der transzendentalen Logik und deren von Fichte daraus gebildeten idealistischen Handlungstheorie. Nur schmale 'Reflexionsphilosophie der Subjektivität' komme hier mit ewig unbefriedigtem Sollen, statt auf das Weitertreibende in der Sache Geschichte selbst zu sehen. Die beiden jungen Schwaben, nach Jena, ins Zentrum des die Schulmetaphysik zurücklassenden Kantianismus gekommen, sie schrieben Philosophie wie Eroberer, die ihre geistige Herrschaft antreten wollen. Das hohe Sendungsbewusstsein für die eröffnete neue Lehre gehörte zur an sich altaufklärerischen Überzeugung, dass Philosophie - nicht mehr Religion - uns eine menschheitsführende Weltsicht öffne. Die Frage blieb, am schärfsten zwischen Hegel und Fichte, ob Philosophie vorangehe und den Weg weise, so dass auch real nach deren Programm gehandelt werden solle, oder doch nur den je geschehenen Schritt begreife und ihn anzuerkennen lehre. Aber in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen der 20er Jahre schilderte Hegel dann die Logik des Konstruktionsprinzips 'Arbeit' in der Fichte'schen Wissenschaftslehre detailliert; noch immer kritisch, aber als die ernste Sache bei einem, der etwas gefunden habe, das mit uns fortgehe. Im Schlusskapitel der "Phänomenologie des Geistes" (1807) hatte er schon die Parallel-Wege der (europäischen) Menschheit von Ideal- und Realgeschichte ganz im Duktus des Fichte'schen Praxisbegriffes konstruiert, bis hin zum Ich-Kennwort. Das Gerüst der Hegel'schen Geistphilosophie steht überhaupt auf dem Fundament des Fichte'schen Handlungs- und Vergegenständlichungsgedankens.
Die Differenz zwischen der durch Jürgen Habermas am Institut für Sozialforschung begründeten Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie lässt sich darin pointieren, dass jene eine Gruppe von Wissenschaftlern ist, während diese eine Assoziation von Individuen war, die auf sich selbst nie nur als Rollenträger reflektierten. So wie Habermas in seinen frühen Schriften an das Gesellschafts- und Subjektverständnis der Linkssozialisten der Zwischenkriegszeit anknüpfte, erstand, seit die Kritische Theorie zur Frankfurter Schule wurde, der von jeder Einsicht in die Nichtidentität von Subjekt und Gesellschaft bereinigte Wissenschaftsbegriff der Sozialwissenschaften wie ein Phönix aus der Asche wieder auf. Was Horkheimer zunehmend als Abfallprodukt dessen ansah, worum es dem Institut eigentlich gehen sollte trat erneut in den Mittelpunkt: empirische Erhebungen, Auftragsarbeiten für Institutionen, sozialkritisch gewendete Sozialtechnologie. Adornos Hinwendung zur philosophischen Ästhetik seit den frühen Sechzigern kann verstanden werden als Versuch, am anderen Gegenstand dasjenige festzuhalten, was an der Gesellschaft selbst nicht mehr entfaltet werden konnte: Ästhetische Theorie als einzig noch mögliche Sozialphilosophie, die genau deshalb keine Kunstsoziologie sein durfte. Der Begriff der Nuance, der nicht nur in der Ästhetischen Theorie bei Adorno Index dessen ist, worin sich die ästhetische Form von der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, unterscheidet, kann auch auf jene Züge der Kritischen Theorie bezogen werden, in der sie den Disziplinen, Instituten, Rollen, in denen sie sich konkretisierte, widersprach. Dass die Ästhetische Theorie seither in der Kultur-, Literatur- und Theaterwissenschaft im Glauben, sie auszubauen und zu vertiefen, um das gebracht wurde, worauf sie zielte: um das Verständnis des Ganzen, ist dabei konsequent. Haben sich doch die Einzeldisziplinen längst von einer Arbeitsteilung verabschiedet, die die Teilung mit Blick auf das Ganze, die Erkenntnis unteilbarer Wahrheit, begründen muss. Weil dieses Ganze weggefallen ist, wird es dem Betrieb heute unter dem Vorzeichen von Inter- und Transdisziplinarität injiziert, von Begriffen also, die etwas bezeichnen, was die Kritische Theorie stets gewesen ist, ohne es so zu nennen. Die 'Zwischenzeit' aber, die Horkheimer als Grund dafür angibt, dass 1951 von Kritischer Theorie nicht mehr in den Begriffen von 1931 gesprochen werden kann, bezeichnet jene Erfahrung, die ihn, Adorno und Pollock nicht nur von Habermas, sondern von allen trennt, die ihm folgten.
"Der Meridian", Celans Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober 1960 in Darmstadt, ist ein Fest der Poesie. Dem Vortrag eignet eine Dichte und Dunkelheit, die oft auch Celans Gedichten zugesprochen wird; so attestieren die zahlreichen Besprechungen ihm denn auch meist, wie Helmut Müller-Sievers kritisiert, drei Elemente: "First, that the speech must be understood as an auto-poetological statement; second, that Celan is the best, or at least the most authentic, interpreter of his own poetry; third, that there exists a theoretical discourse that can seamlessly connect Celan's poetology to his poetic practice". Dieser Kritik wird insofern wider- oder entsprochen, als ich hier den ersten wie auch den dritten Aspekt bestätige, allerdings anders als von Müller-Sievers gesehen: Die Rede bildet meines Erachtens nicht so sehr eine Theorie Celans zu seinen eigenen Gedichten, sondern stellt vielmehr bereits die Ausführung einer Poetologie dar - operiert mithin also performativ. Das gleiche Argument, das Müller-Sievers nutzt, um dagegen zu argumentieren, dass es sich bei der Rede um eine Poetologie handelt, ist für diesen Ansatz eher ein Argument dafür. [...] Die von Müller-Sievers genannten Eigenschaften erachte ich dabei nicht nur für Celans Poesie als relevant, sondern im gleichen Maße für den "Meridian". So lässt sich auch das Verhältnis zwischen 'universaler Theorie' und 'konkreter Dichtung' zwar nicht als nahtlose Verbindung, aber doch als ein direktes Verhältnis erkennen; damit stellt sich die Frage jedoch umso mehr, inwieweit Theorie sich auf Dichtung beziehen lässt. Oft geschieht dabei, wie auch Müller-Sievers anmerkt, die Zuordnung der von ihm genannten Elemente wie in einer Black Box. Das Argument ist meist: Es handelt sich um Dichtung / Literatur, also kann dem Werk 'mehr' oder zumindest etwas anderes zuerkannt werden als 'anderen' Texten. Diese blinde Übertragung, irgendwo zwischen Ästhetik und Epistemologie verortet, gilt oft als absolut selbstverständlich - insofern muss in der Tat die Legitimität dieser Zuordnungen stets erneut hinterfragt werden. Ich versuche daher in diesem Aufsatz der Frage nachzugehen, was im Text geschieht, das diese Zugriffe legitim macht - oder zu machen scheint. Es geht dabei nicht (so sehr) darum, eine spezifische Theorie zu bevorzugen, als um eine Untersuchung der Funktionsweise dieses theoretisch-poetischen Textes - und um die Frage, ob die darin entwickelten Aussagen auf Dichtung und Kunst im Allgemeinen übertragen werden können, und wenn ja, wie. Dieses spezifische Verfahren mitsamt seinen mannigfaltigen Ebenen wird hier im Hinblick auf seine spezifische Materialität gelesen und als eine 'wegweisende' Art verstanden; in der Rede kehrt der Meridian als Trope wieder - als Ort wie als Bild - und der Weg zu und auf dem Meridian kann als die Aufgabe betrachtet werden, die Celan sich darin stellt.
Ann Cotten gilt dem Feuilleton als das aktuelle "Wunderkind der deutschen Literatur" und als die "klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache". [...] Ann Cotten nervt. [...] Doch was hat es mit dem Nerven auf sich? Ist das, was hier als Pose an- und vermeintlich vorgeführt wird, nicht etwas ganz anderes? Bereits diese ersten Hinweise zeigen, dass Cottens Spiel mit den Stillagen zwischen Virtuosität und Kalauer aufgeht: Es entlarvt die Kritik - sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen Urteil als Mansplaining, das mit Formeln wie 'Wunderkind', 'talentierte Autorin', Dekonstruktion etc. genau das einhegt, was mit dieser Literatur in Frage steht. Das Nerven, so manieriert es auch daherkommen mag, stellt eine intensiv reflektierte poetologische Dimension von Cottens Literaturauffassung und ihres Schreibens dar - ja man könnte von einer Poetik des Nervens sprechen. [...] Wenn Cotten, wie zu sehen sein wird, die Kategorie des Existenziellen wieder einführt, die vom (Post)Strukturalismus in Abhebung unter anderen von Sartre verabschiedet wurde, dann liebäugelt sie auch mit Autoren, die von ganz anderer Warte aus nerven. Zu ihnen zählt auch der in der Poetikvorlesung mehrfach genannte Peter Handke. Peter Handke nervt Ann Cotten, aber sie liest ihn auch und kann etwas mit ihm anfangen - inwiefern, wird zu sehen sein. Mit Handke steht ein weiteres ehemaliges 'Wunderkind' des Literaturbetriebs zur Debatte, bei dem jedoch seit ein paar Jahrzehnten eine Abwendung von den avantgardistisch-sprachkritischen Anfängen und eine Hinwendung zu einer mystischen Weltanschauung kritisch diagnostiziert wird. Die Empörung bei der Vergabe des Literaturnobelpreises an Handke im Herbst 2019 betraf vor allem seine proserbische Haltung sowie sein 'Frauenbild' und steigerte sich auch bis zum 'Durchdrehen'. Ist man bei Cotten über die dekonstruktivistische Pose genervt, so enerviert man sich bei Handke poetologisch gesehen darüber, dass er deren Einsichten zumindest in seinen jüngeren Werken trotzig negiere. [...] Seit der Tetralogie rund um die "Langsame Heimkehr" (1979) zeichnet sich bei Handke ein neuer Weltzugang und damit verbunden eine epische Erzählweise ab, denen Peter Hamm, knapp vier Monate nach dem Massaker von Srebrenica, in seiner Laudatio bei der Verleihung des Schillerpreises an Handke Folgendes attestiert: "Peter Handke hat das Schwierigste und Höchste gewagt, was ein Schriftsteller nach Kafka überhaupt wagen konnte, nämlich erzählend wieder für Weltvertrauen zu werben und Weltvertrauen zu schaffen". Man kann darin freilich auch einen gefährlichen Eskapismus sehen - ob man Handke als schwierig erachtet, oder ihm attestiert, Schwieriges zu leisten, ist auch eine Frage der Perspektive. Oder aber man kann die Vermutung formulieren, dass solche Zuschreibungen den Blick auf die Sache, wie auch bei Cotten, eher verstellen, und so drängen sich verschiedene Fragen auf: Wieso arbeitet sich Cotten an einem Autor mit solchem Ruf ab? Weshalb liest sie ihn? Was hat sein Nerven mit ihrem Nerven zu tun? Und was ist das eigentlich, 'nerven'? Zeit also für eine Rekonstruktion von Cottens Handke-Lektüre.
Kluges Schreiben ist tief in der Zeitgeschichte verankert, in den großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts, die aber heute neu bilanziert werden müssten, sowohl objektiv wie subjektiv, wobei das Subjektive, das wissen wir als Leser Kluges, nicht nur das Was, sondern auch das Wie des Erzählens betrifft. Denn die spezifische Irrealität der Gefühle erlaubt es Kluge, jene Romane umzuerzählen, Geschichte nicht einfach wiederzugeben, sondern sie zu variieren, Fakt und Fiktion, Reales und Irreales zu mischen. Allerdings, und das ist bemerkenswert, verbindet Kluge diesen Materialismus der Gefühle mit der Form der Chronik, die doch zunächst eine objektive Form zu sein scheint. Aber weiß man denn eigentlich wirklich, was eine Chronik ist? Kluge scheint hier verschiedenes zu meinen: das Moment der Gleichzeitigkeit, das Moment der Aufzählung, der Serie der Jahre, die variierende Reichweite (das Jahr der Gleichzeitigkeit, die eigene Lebenszeit, die 2000 Jahre). Welche poetologischen Implikationen haben diese Eigenschaften, welche darstellerischen Potentiale, welche Autor- oder Chronistenfiguren gehen mit ihnen einher? Wie erlaubt es diese Form, historisches und persönliches Leben zu vermitteln, also gewissermaßen 'kollektive Autobiographie' zu schreiben? Um diese Fragen zu erörtern, stelle ich Kluge einen Autor und eine Autorin zur Seite, die sich auf den ersten Blick deutlich von ihm wie auch voneinander unterscheiden: Rainald Goetz und Annie Ernaux.
"Berührungsfurcht" : soziale Imaginationen der Unterklassigen in der Kanon-Literatur der Moderne
(2020)
Die gutbürgerliche Literatur verwahrt sich mit allem, was ihr eigen ist - Sprache, Aisthesis, Kreativität, Imagination, Wissen und Bildung - gegen den Übergriff des Anderen und Fremden in Gestalt des sozial Niederen und Subalternen im eigenen Erfahrungsbereich, durchsetzt mit Empathie und Aggression. Aus der Sicht der noblen Literatur fällt der Blick auf die schäbigen Volkssänger, von denen sich Gustav Aschenbach, Thomas Manns Identifikationsfigur im "Tod in Venedig", auf der Hotelempore des Lido bedrängt fühlt, auf die elenden "Schalen von Menschen" in den Straßen und Krankenanstalten von Paris in Rilkes "Malte Laurids Brigge", auf die im Gerede sprachlosen Scheusale von Haushälterin und Hausbesorger in Canettis "Blendung", auf die im 'Jargon' agierende chassidische Schauspieler-Bagage, die Kafka so vehement gegen den Prager Kulturzionismus verteidigt. Die kulturelle Hybris gegenüber den Subalternen und Deklassierten folgt der Spur eines elitären Gestus, auch im politischen Handeln: Verachtung, Abscheu, Angst und Erschrecken angesichts der 'Deplorables', des bedauernswerten Elends der sozial Deklassierten und minder Kultivierten. [...] Das entsprechende Bildrepertoire an einsinnigen Klischees begegnet, ästhetisch nuanciert, in der literarischen Zeitgenossenschaft um 1900 bei Autoren unterschiedlichster Weltanschauung und Schreibweise. Und seitdem, was im Folgenden aufzuzeigen ist, in fast jedem uns vertrauten Text moderner, als bürgerlich verbürgter deutscher Literatur, der sich dem sozial Anderen außerhalb des eigenen Lebens- und Erfahrungsbereichs zuwendet, mehr oder weniger emphatisch oder verdrossen. Bei diesem kleinen Streifzug durch einige Kanon-Texte der Moderne kann es nicht um ihre sozialpsychologische und sozialhistorische Erklärbarkeit gehen. Vielmehr interessieren, als kleiner Nachtrag zur Lektüre der uns wohl bekannten Werke, gewisse Wege und Abwege der sozialen Imagination: der moralisch und ästhetisch oft verquere Umgang mit einem Fremden, das nicht nur in anderen Ländern und Kulturen zu suchen, sondern daheim, hier und jetzt, zu entdecken ist. In der Ferne so nah, voller "Berührungsfurcht", wenn nicht panischem Erschrecken vor dem Anderen.
An einer bisher nicht gesehenen 'Wahlverwandtschaft' zwischen Bertold Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" und Fritz Langs "Metropolis" soll hier gezeigt werden, dass sich das Verhältnis zwischen Lang als international bekanntem Schöpfer monumentaler Filmepen und Brecht nicht nur mit Vokabeln wie Abgrenzung und Differenz beschreiben lässt. Der Film "Metropolis" und das Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" sind in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe entstanden, vor allem aber gibt es einige thematische und strukturelle Korrespondenzen, die man dahingehend interpretieren könnte, Brecht habe mit seiner kapitalismus- und religionskritischen modernen Tragödie eine Kontrafaktur zu Fritz Langs filmischer Sozial- und Liebesutopie geliefert. Statt es bei einer kontrastierenden Gegenüberstellung zu belassen, kann man aber auch eine unterschwellige Affinität zwischen Brecht und Lang herausarbeiten. Diese Affinität lässt sich im Kern daran festmachen, dass bei Brecht wie bei Lang am Ende ein falsches Opferritual vollzogen wird, um den ob der himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeit drohenden Gewaltexzess zu bannen. Bei Brecht ist die Opferung und anschließende Heiligsprechung Johannas als parodistische Replik auf die pathetische Schlussszene von Schillers "Die Jungfrau von Orleans" gelesen worden. So wie die Kanonisierung Johannas als Heilige der Schlachthöfe für das Publikum offensichtlich das Ergebnis einer zynischen Manipulation durch den Großkapitalisten Mauler ist, so ist auch das happy end bei Fritz Lang, die Versöhnung zwischen Kapital und Arbeiterschaft im Schatten der Kathedrale, falsch, weil das Ritual, durch das der Gewaltexzess kanalisiert und die Versöhnung vorbereitet wird, ungültig ist. Verbrannt wird in Metropolis ein Opfer, das, folgt man der Argumentation René Girards, nicht opferfähig ist: eine Automatenfrau, die als solche nicht Teil der Gesellschaft ist, der weder etwas Heiliges noch Unheiliges anhaftet, sondern die, mit Walter Benjamin gesprochen, die Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise des neuen Medienzeitalters - die mediale Verfasstheit einer entauratisierten Welt - repräsentiert.
Gilles Deleuze ist zwar oft als Philosophiehistoriker hervorgetreten, hat aber offensichtlich keine Heidegger-Monografie verfasst. Ebenso wenig weist sein Werk allzu viele direkte Bezugnahmen auf Heidegger auf. Vielleicht ist diese Einschätzung aber zu oberflächlich. Erst vor wenigen Jahren hat die Philosophin Janae Sholtz in ihrem bemerkenswerten Buch "The Invention of a People" eine erste ausführliche Gegenüberstellung des Denkens von Deleuze und Heidegger unternommen. [..] Das ändert zwar nichts daran, dass kein 'Heidegger und die Philosophie' aus Deleuze' Schreibmaschine vorliegt: Es motiviert aber dazu, nach weiteren Spuren des deutschen Philosophen in Deleuze' Schriften zu suchen. Das letzte mit Félix Guattari zusammen verfasste Buch, "Was ist Philosophie?" (1991), bietet hier reichlich Anhaltspunkte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie darin eine dezidierte Erwiderung und Fortsetzung in Differenz von Gedanken Heideggers stattfindet: Vor allem betrifft das den Streit zwischen Welt und Erde aus dem Aufsatz "Der Ursprung des Kunstwerks" (1936; 1950). Die Kapitel vier und sieben aus "Was ist Philosophie?", obwohl sie auf den ersten Blick bezugslos erscheinen mögen, entwerfen zusammengelesen eine Erwiderung auf Heideggers so berühmten wie problematischen Anspruch an die Dichter, einem geschichtlichen Volk seine Welt zu eröffnen. Nach einer kurzen Wiedervergegenwärtigung der Grundlagen von Heideggers Überlegungen zur Kunst (II) und Deleuze' oft beiläufigen, aber in ihrer Kritik systematischen Bezugnahmen darauf (III) wird zu sehen sein, wie Deleuze und Guattari in ihrer Philosophie der (De-)Territorialisierung dabei nicht nur die Begriffe Welt und Erde verschieben: Die unerhörte evolutionäre Vordatierung eines Anfangs der Kunst beim Tier etwa entzieht Heideggers Kunstwerk-Aufsatz gezielt seine Basis; den Menschen, der dank seiner Sprache privilegiert im 'Offenen' steht und allein Welt besitzen soll (IV). Über die konkreten Konsequenzen und die manifeste Bedeutung dieser Substitution soll zum Ende nachgedacht werden (V).
Am 23. April 1967 hält Theodor W. Adorno im Deutschlandfunk einen Radiovortrag über Stefan George. Es ist nicht das erste Mal, dass Adorno sein ambivalentes Verhältnis zu dessen Dichtung thematisiert: Nachdem er unter dem Einfluss der Zweiten Wiener Schule zwischen 1925 und 1928 einige von Georges Gedichten vertont hatte, 1939/40 den Briefwechsel zwischen George und Hugo von Hofmannsthal besprochen hatte, 1957 auch in "Lyrik und Gesellschaft" ausführlich auf George zu sprechen kam, stellt Adorno in diesen bilanzierenden Überlegungen noch einmal die Frage, was an George überhaupt zu 'retten' sei. Er greift damit eine Problematik auf, die auch Walter Benjamin Zeit seines Lebens beschäftigt hat. [...] Insbesondere in Georges Baudelaire-Übersetzungen löse sich das ein, was wiederum Benjamin von einer gelungenen Übersetzung "forderte" - die rücksichtslose, fast gewalttätige Erweiterung der (eigenen) Sprache, ihr ephemerer Charakter, die beinahe "wörtliche Versenkung in die andere Sprache". Auch wenn Adornos Eloge auf Georges Übersetzungen deren Qualität sicherlich gerecht wird, befremdet doch die Nähe, in die an dieser Stelle Georges Veränderung der deutschen Sprache und Benjamins Reflexionen zur Übersetzung gerückt werden. Adorno übergeht in seiner Überblendung von Georges Praxis und Benjamins Übersetzungstheorie einen zentralen Punkt, dem sich die folgenden Überlegungen widmen wollen: Benjamins (Neu-)Übersetzung Baudelaires samt ihrem Vorwort "Die Aufgabe des Übersetzers" gewinnt aus der polemischen Distanzierung von George und seinem Kreis überhaupt erst Gestalt, sein übersetzerischer Anspruch ist in radikaler Abgrenzung zu George konzipiert. Um Georges antagonistische Rolle in Benjamins Theorie und Praxis der Übersetzung zu verdeutlichen, sollen vor allem der literaturbetriebliche Kontext von Benjamins "Die Aufgabe des Übersetzers", die Akteure, gegen die er sich wendet, sowie die Metaphern und Bilder, in die Benjamin seine Theorie der Übersetzung kleidet, in den Blick gerückt werden. Zunächst gilt es dafür, das komplexe Verhältnis Benjamins zu dem Übersetzervorbild und -antipoden George sowie dessen Kreis zu skizzieren. Ich möchte mich dann insbesondere auf das Bild vom "inneren Bergwald der Sprache selbst" konzentrieren, das Benjamin an zentraler Stelle als subtile Spitze gegen George und dessen Dante-Übersetzung verwendet. An diesem Bild erhellt sich zugleich das von Benjamin herausgestellte distanzierte Verhältnis des Übersetzers zu seinem Material, die sogenannte 'Aufgabe des Übersetzers'.
Archäologie des Arbeiter- und Bastlerstaats : Marc Schweskas Roman "Zur letzten Instanz" (2011)
(2020)
Mit seinem Roman "Zur letzten Instanz" hat der Berliner Autor Marc Schweska 2011 einen lesenswerten und vor allem ungewöhnlichen Roman veröffentlicht. Das liegt nicht daran, dass dieser Roman über die Ostberliner Subkultur der 1980er Jahre letztlich auch ein Berlinroman ist, wie es sie bereits in Überfülle gibt, und auch nicht daran, dass "Zur letzten Instanz" sich immer wieder der Mittel des Schelmenromans bedient. Ungewöhnlich ist Schweskas Roman vor allem, weil er zuallererst ein Bastlerroman ist und sich sowohl inhaltlich als auch formal mit dem Basteln auseinandersetzt. [...] Als Schlüsselfigur im Prozess der Theoretisierung des Bastelns kann Claude Lévi-Strauss gelten. Nachdem der französische Anthropologe in seiner 1962 publizierten Monographie "Das wilde Denken" seine berühmten Ausführungen zur 'bricolage' veröffentlicht hatte, in denen er das Basteln als Ausdruck eines der künstlerischen Tätigkeit nahestehenden 'konkreten Denkens' und den Bastler als Gegenspieler des Ingenieurs bestimmte, avancierte das Basteln zu einem zentralen Konzept strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorie und Theoriebildung und wurde im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als eine maßgebliche Kulturtechnik und als ein zentrales Kulturmodell einer (wie auch immer verstandenen) Postmoderne aufgefasst. "Die Postmoderne", so erklärt etwa Thomas Reinhard, könne deshalb nicht nur als "Periode des Zitats", sondern vor allem auch als "Epoche des Bastlers" charakterisiert werden. In seinem Roman schließt Schweska nun an diesen Diskurs an und zeigt sich mit den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien des Bastelns vertraut. Besonders ist "Zur letzten Instanz" aber vor allem, weil Schweska diese Theorien hier auf die DDR bezieht, der - wie allen unter den Bedingungen des Mangels wirtschaftenden Staaten des 'Ostblocks' - eine besondere Affinität zum Basteln nachgesagt wird. Dadurch wendet sich der Autor nicht nur einer bislang unzureichend beleuchteten Episode der Geschichte des Bastelns zu; vielmehr eröffnet er auch eine ungewohnte Perspektive auf die Geschichte der DDR, indem er diese am Beispiel des Bastelns zu erkunden versucht und sich dafür selbst der Mittel des Bastelns bedient.
Der vorliegende Aufsatz geht davon aus, dass es die vermeintlich unspektakuläre, zugewandte 'Volksnähe' des Heiligen sowie seine Fähigkeiten als Prediger sind, die Michael Köhlmeier an Antonius von Padua faszinieren. Jedenfalls zeugen sowohl Köhlmeiers literarische Texte als auch seine Auftritte als Mythen- und Sagenerzähler von einem besonderen Interesse an Formen des kollektiven Erzählens sowie an der Beziehung zwischen Publikum und Redner. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag zum einen die These, dass Köhlmeiers Erzählung sich als literarische Untersuchung zur Tradition der Antonius-Legenden lesen lässt, deren inhärenten Spannungen sie nachgeht und deren Produktionsmechanismen sie offenzulegen versucht. Es gehört zu den gattungskonstitutiven produktiven Problemen der Legende, dass sie ihren Gegenstand sowohl voraussetzen als auch performativ durch das eigene Erzählen herstellen muss: Die Heiligkeit der Person, von der die Rede ist, bildet zugleich Anlass und Ziel des Erzählens. In diesem zirkulären Projekt muss die Legende zum einen das Verhältnis zwischen individueller Handlungsmacht und göttlicher Vorsehung austarieren - der oder die Heilige muss als Person exzeptionell sein oder es erst werden, wobei ihm oder ihr diese Exzeptionalität als transzendente Auszeichnung zugeschrieben wird. Zum anderen verhandelt die Legende das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv - der oder die Heilige muss sich zwar vom Kollektiv absetzen und abgrenzen, ist aber dennoch angewiesen auf die Anerkennung und Beglaubigung durch eine Gemeinschaft. Während die mittelalterliche Antonius-Biographik dieses triadische Gefüge ausbalancieren, heterogene Überlieferungen harmonisieren und widerständige Elemente tilgen muss, um die Lebensgeschichte des Heiligen zur wirkungsvollen Legende zu modellieren, unternimmt es Köhlmeiers Novelle, die plurale Vielstimmigkeit und immanente Widersprüchlichkeit der Überlieferung wieder zu entfalten. Dieses quasi-archäologische, quellenkritische Verfahren erfolgt allerdings nicht um seiner selbst willen, sondern dient, so unsere zweite These, der Etablierung einer eigenen, alternativen Version der Antonius-Legende. Über die produktive Umschreibung der Prätexte und die imaginative Füllung ihrer Lücken findet Köhlmeiers Novelle auf die alte Frage, wie sich Heiligkeit konstituiert, eine neue, durchaus überraschende Antwort: Die Macht zur Heiligung kommt hier nicht der göttlich inspirierten Rede zu, sondern dem Kollektiv.
In dem vorliegenden Beitrag möchte ich mich anhand der ersten Theorie des deutschsprachigen Bildungsromans, Karl Morgensterns "Ueber das Wesen des Bildungsromans" (1819/20), dem Gegenstand 'Geschlecht' als einem elementaren Bestandteil solcher Theorien annähern, der darin dreierlei vollbringt: er wird erstens zur Produktion des Primärobjekts (Roman) poetologisch angestrengt; zweitens wird er zugleich durch die Verfahrensweise der Texte mitproduziert; und schließlich zersetzt er drittens diese Theorien paradoxerweise von innen. Die Ausgangshypothese ist dabei die folgende: Entgegen ihrem Vermögen ('faculty') (als Theorien), den Formverläufen von Literatur nur noch folgen, sie aber nicht mehr (wie noch Poetiken) vorhersagen zu können, sind Romantheorien vielmehr daran interessiert, deskriptiv und damit präskriptiv zu verfahren, und hilfreich bei dieser Beschreibungsarbeit ist die Vergeschlechtlichung ihres Gegenstandes - wenn nicht immer dezidiert auf der Textoberfläche, so zumindest doch auf der Ebene ihrer Verfahrensweisen. Insofern der Roman und seine Form an sich selbst Formgenese verhandeln und diese Verhandlung ab 1800 zu einer wird, die auch die Formen des Lebens und deren Formung beschreibt, kommt den Theorien, die diese Formen von außen regelgeleitet einhegen wollen, eine Sonderrolle zu. Die Romantheorien tragen in die dem Roman korrespondierende Form des Lebens ein spezifisches Verständnis von Geschlecht ein, womit beide Formen - Geschlecht und Roman - in ein Wechselverhältnis zueinander treten. [...] Und im Falle des Bildungsromans lautet das als Arbeitshypothese: Der Bildungs-Begriff wird operativ dort, wo er zur Theorie wird, und zwar zu einer von ästhetischer Erziehung sowie von literarischer Form, Geschlechter-Form und Lebens-Form. Beginnen möchte ich mit einer historischen und ideengeschichtlichen Verortung Morgensterns; mit Blick auf seine Vorlesungen von 1810 gilt es dabei auch, sein Verständnis von Männlichkeit näher in den Blick zu rücken. Nach einführenden Bemerkungen zu der im Fokus stehenden Theorie des Bildungsromans ziele ich auf die Erläuterung seines Gestalt- und Formenverständnisses ab, um nach der Analyse der Geschlechter-Imagines der Theorie (insbesondere ihrer Verfahrensweisen) abschließend auf diejenigen Stellen des Textes näher einzugehen, in denen sich die Theorie selbst untergräbt.
In den letzten Jahren geriet das Themenfeld 'Literatur und Religion' wieder vermehrt in den Fokus der Forschung. Obgleich im Zuge dessen die Relevanz konfessioneller Identitäten für die im 18. Jahrhundert vorgenommene Umgestaltung des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichem zum Thema wurde, lässt sich doch ein Forschungsdesiderat konstatieren: Die katholische Konfession ist erstaunlich selten Gegenstand der dem 18. Jahrhundert gewidmeten ästhetikgeschichtlichen Untersuchungen, obwohl die Forschung ihre Bedeutung für die Formulierung der frühromantischen Kunstreligion allgemein anerkannt hat. [...] Erst in jüngster Zeit hat Jonathan Blake Fine in einem Aufsatz auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen. [...] Fine verbindet Lavaters Werk explizit mit der frühromantischen Ästhetik, allerdings wird in seinem Aufsatz die konkrete ästhetische Erscheinungsweise des Katholischen, die ja Ausgangspunkt für die romantische Kunstreligion sein soll, nicht analysiert. Mein Beitrag nimmt Fines überzeugenden Hinweis auf und will einen Beitrag dazu leisten, die Umrisse der protestantisch-spätaufklärerischen Wahrnehmung katholischer Praktiken - und damit die Konstruktion einer 'katholischen Ästhetik' aus protestantischer Perspektive - exakter zu fassen. Dazu setze ich einerseits bei Lavaters "Wenn nur Christus verkündigt wird! oder Empfindungen eines Protestanten in einer katholischen Kirche" an, andererseits bei den polemischen Reaktionen, die dieses provozierte. Das 1781 erstmals gedruckte Gedicht schildert, wie der Titel ankündigt, eine katholische Messe und die diese begleitenden Empfindungen des lyrischen Subjekts. Im Zusammenhang mit der Nicolai-Lavater-Polemik wurde das Gedicht den (Berliner) Spätaufklärern zum Beleg für die 'kryptokatholischen' Tendenzen Lavaters. In meinem Aufsatz geht es mir nicht um die ausführlich aufgearbeitete 'Jesuitenriecherei' Nicolais, sondern um das katholisch-ästhetische Programm, welches Lavater in seiner lyrischen Messeschilderung darstellt und das den protestantischen Spätaufklärern zum Ärgernis wurde. [...] Lavaters Gedicht und die drei derb-polemisch kommentierten Nachdrucke gewähren einen Einblick in die protestantisch-spätaufklärerische Konstruktion eines katholischen Verständnisses von Sinn und Sinnlichkeit. Mit anderen Worten: Die zweifache reformatorische Perspektivierung - einerseits die poetisierte Darstellung der katholischen Messe durch den Zürcher Theologen Lavater, andererseits die Rezeption seiner Gedicht gewordenen Schilderung durch die Spätaufklärer - macht es möglich, die Besonderheit einer als katholisch markierten (und damit eben dezidiert nicht-aufklärerischen, nichtprotestantischen) Ästhetik wahrzunehmen und zu analysieren. Davon ausgehend kann die von Fine konstatierte Faszination, die frühromantisch-kunstreligiöse Entwürfe für den Katholizismus empfanden, genauer an als katholisch markierten Praktiken und Sinnlichkeitsvorstellungen festgemacht werden. Dazu will ich im Folgenden in drei Schritten vorgehen. Den ersten Schritt stellt die Analyse von Lavaters Gedicht "Wenn nur Christus verkündigt wird" dar, insbesondere in Hinblick auf die dort thematisierten Besonderheiten katholischer Sinnlichkeit und ihrer Wirkung auf das lyrische Subjekt. Der zeitgenössischen Kritik dieser Besonderheiten widme ich mich im zweiten Schritt: Anhand von Nicolais 1787 publiziertem Gedichtkommentar und der anonym erschienenen Ausgabe aus demselben Jahr will ich analysieren, was an Lavaters Schilderung dem protestantischen Blick zum Ärgernis gereichte und wie sich eine spätaufklärerische Ästhetik implizit gegen ein als katholisch konstruiertes Sinnlichkeitsverständnis konturierte. Abschließend und zusammenfassend werde ich skizzieren, wie sich das durch die protestantische Polemik sichtbar gewordene katholische Sinnlichkeitsverständnis zu den Ästhetik-Entwürfen des 18. Jahrhunderts verhält.
In ihrem Buch "Verzeichnis einiger Verluste" (2018) experimentiert die 1980 in Greifswald geborene Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky mit einer Reihe unterschiedlicher Schreibweisen und Textsorten, darunter auch, in dem Kapitel "Hafen von Greifswald", mit dem sogenannten Nature Writing, das heißt der nichtfiktionalen, literarisch anspruchsvollen Repräsentation von Natur. Da Schalansky das Verfahren in ihrem Prosastück gleichsam in Reinform vorführt, möchte ich ihren Text zum Anlass nehmen und als Bezugspunkt verwenden, um einige Aspekte des Nature Writings aufzuzeigen und zu diskutieren. Diese betreffen sowohl die formale Bestimmung wie die historische Kontextualisierung naturmimetischer Literatur nach der Romantik. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst, noch ohne Bezug auf Schalansky, in groben Zügen die Vorgeschichte des Nature Writings, und zwar mit Blick auf das ästhetische Konzept von Landschaft, skizzieren. Im zweiten Abschnitt beschreibe ich anhand des Beispieltextes zentrale Schreiboperationen, Stilmittel und Vertextungsmuster, die in einem Nature-Writing-Text Naturpräsenz suggerieren. Im dritten Abschnitt möchte ich zeigen, wie sich das initiale Motiv des Nature Writings in Schalanskys Text darin abbildet und verdichtet, dass sich die Verfasserin auf eine bestimmte Weise an die Tradition der romantischen Landschaftsmalerei, verkörpert durch das Werk Caspar David Friedrichs, anschließt und zugleich von dieser abgrenzt. Hierbei rekurriere ich auf den, allerdings mehrdeutigen Begriff der Ekphrasis. Abschließend möchte ich noch kurz auf Einwände eingehen, die gegen das Nature Writing erhoben werden, und Hoffnungen ansprechen, die an das Genre anknüpfen.
Soziologische Theorien weisen von Anfang an, seit Auguste Comte und Max Weber, eine Schlagseite in ihrer Theoriebildung auf und bleiben in ihrer Medienkonzeption beschränkt, wie wir heute wieder in Entwürfen einer Theorie der digitalen Gesellschaft beobachten können. Diese Schlagseite im soziologischen Medienbegriff resultiert nicht nur aus ihrem modernen Blick auf die Gesellschaft, sondern ebenso aus einer medialen Abstraktion; trotz ihrer Empirie sind soziologische Theorien häufig mit einer blinden Stelle in ihrem 'Medienbegriff' behaftet. Zu erinnern sei hier nur an Max Webers Begriff der Rationalität, der höchst abstrakt vom konkreten Lauf der Gesellschaft abgezogen wurde; einer angeblich entzauberten Welt der Moderne, die jedoch in ihrer 'oikonomia' in Wahrheit erst recht vollständig verzaubert auftreten sollte. So blieb und bleibt ihre Modernität, die sie gegenüber der spekulativen, transzendentalen und metaphysischen Philosophie angeblich auszeichnet, ein höchst abstraktes Produkt, das sie freilich in den modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften als etwas höchst Konkretes und Objektives präsentieren oder, aktueller und spezifischer formuliert, statistisch, probabilistisch, stochastisch und algorithmisch errechnen wollen. In diesem medialen Reduktionismus sind heute auch neue soziologische Modelle befangen, die nunmehr die digitale Gesellschaft in einem theoretischen Rahmen unterbringen wollen, dabei aber die letzte verbliebene gesellschaftliche Bodenhaftung verlieren und vollends in einen digital-informatischen Rationalismus abdriften, gegen den dann kein Widerstand mehr möglich ist.