CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Anstatt ideengeschichtlich nach 'Motiven' von Luft und Wind zu fahnden, soll es im Folgenden um eine kultursemiotische Erkundung von Zeichenwelten des Windes, der Luft in unterschiedlichen Kulturen und Epochen gehen, mit einem Schwerpunkt auf der modernen Dichtung. Dabei ist es ratsam, sich an markanten Bruchstellen der Kulturgeschichte zu orientieren. Solche Zäsuren stellen nicht nur semantische Verschiebungen und Wechsel des Windes dar, sondern strukturelle Umbrüche der jeweiligen Zeichenformationen: So können etwa mythische Zeichen, die auf der kulturellen Konvention einer magischen Realpräsenz des Bezeichneten beruhen, zu 'Symbolen' oder - nach Peirce'scher Terminologie - 'ikonischen' Zeichen mutieren, das heißt zu Zeichen, deren Produktion "jenen Schein hervorbringt, den wir 'Ähnlichkeit' nennen". Oder 'Symbole' verwandeln sich - z.B. an der Schwelle zur avantgardistischen Dichtung - in Chiffren und Allegorien, mithin in Zeichen, die durch eine ostentative Kluft zwischen Signifikant, der Zeichenmaterie, und Signifikat, dem strukturellen Bedeutungswert, charakterisiert sind. In semiotischer Perspektive bilden die Zeichenwelten Kombinationen aus verschiedenen Bedeutungsmodalitäten, deren überindividueller Sinngehalt sich nicht in begrifflicher Allgemeinheit auflösen lässt. Nach Umberto Eco verdunkelt die isolierte "Bezugnahme auf einen Referenten" des Zeichens eher dessen Signifikat, weil dann der Referent implizit als verengendes Zeichen fungiert, das das ursprüngliche deutet. Die Signifikate einer Zeichenwelt lassen sich nur klären durch viele andere Zeichen, das heißt "durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen anderen Interpretanten verweist", also durch einen "Prozeß unbegrenzter Semiose".
Der 'brave Soldat' Schwejk - antiheroischer Protagonist in Jaroslavs Hašeks berühmtem Roman - beobachtet auf dem Weg zur Front einen vorbeifahrenden Militärzug mit offenen Waggons: Ein Korporal der Deutschmeister 'mit herausfordernd aufgezwirbeltem Schnurrbart' stützt sich wie in einem 'lebendem Bild' quer auf seine sitzende Mannschaft, schmettert voller Inbrunst das Prinz-Eugen-Lied, lehnt sich übermütig hinaus - und fliegt aus der offenen Waggontür, wobei er 'mit aller Kraft im Flug mit dem Bauch auf den Weichenhebel [schlug], auf dem er aufgespießt hängenblieb'. 'Mit Kennermiene' betrachtet Schwejk neugierig den Leichnam: "Der hats schon hinter sich […] hat sich akkurat aufgespießt […], hat die Därme in den Hosen." Das groteske Ende des Offiziers der Deutschmeister, jenes Ritterordens aus dem 12. Jahrhundert, symbolisiert den Untergang des aristokratischen Kriegerstandes - des Inbegriffs menschlicher Souveränität, die in Gestalt verführerischer Husaren noch Romane und Operetten des 19. Jahrhunderts bevölkerte - in den Höllenfeuern des Maschinenkrieges, zu dem Schwejk und seine Kameraden gerade unterwegs sind. Auch sein geliebter Herr, Oberleutnant Lukasch, ein notorischer Verführer, repräsentiert noch jene aristokratische Souveränität, Glanzstück des feudalen Ständestaates: Hoch zu Roß reitet er nicht nur dem Feind entgegen, sondern zugleich seinem Untergang, der sich in den Materialschlachten des großindustriellen Krieges vollzieht.
Was Schwejk fasziniert beobachtet, ist das finale Stadium des Zusammenbruchs der ständischen Ordnung, der patriarchalischen Autorität, der feudalen Tugenden, der symbolischen Repräsentation, der Hierarchie der Gemeinschaften im Versachlichungs- und Entzauberungsprozess der Moderne. Dabei bewegte Literatur und Philosophie des 19. Jahrhunderts vor allem eine Frage: Was geschieht eigentlich, wenn 'der Knecht' (aus Hegels Phänomenologie des Geistes) - das "durch die Arbeit" erwirkte Selbstbewusstsein mit seinem Primat von Selbsterhaltung und instrumenteller Rationalität - zum Herrn wird, mit den souveränen Eigenschaften des untergegangenen Herrn?
Architektur und Albtraum : Erkundungen zu Horrorhäusern, Geisterstädten und metaphysischen Türmen
(2014)
Auf seiner Flucht aus dem Schreckenshaus seiner Ahnen träumt Clifford Pincheon (aus Nathaniel Hawthornes Roman The House of the Seven Gables von 1851) in der Eisenbahn von einem modernen Nomadentum, das einen vom Schicksal befreien könne: Statt sich zum "Gefangenen von Mauern, Backstein" zu machen, wird der Mensch der Zukunft "nirgends - oder besser - überall […] wohnen". Die Vision, sich vom konkreten Ort, von Geschichte zu befreien und gleichsam in der Zeit sesshaft zu werden, verwirklichte sich nicht allein in den silbernen, stromlinienförmigen Home-Trailern und Mobile Homes. Sie verwirklichte sich auf höherer Stufenleiter in den glänzend geschlossenen Spiegelglas-Türmen, die in den Machtzentren des Kapitals heute zunehmend dominieren. Die dunkel oder metallisch spiegelnden Türme wirken wie in heiliges Öl getaucht, rituell gesalbt, dabei jedoch nicht erhaben, sondern verführerisch, bezaubernd: Die fugenlos glatte, glitzernde Hülle aus Spiegelglas und Metall macht die Bauwerke zu Fetischen, phallischen Signifikanten, zu unsterblichen Ikonen einer Macht, deren innerstes Prinzip eine Ökonomie der Zeit ist. Das Kapital träumt seit je davon, sich vom irdischen Raum der Menschen zu befreien: Mit den Türmen - einer artifiziellen Raum-Enklave - gewinnt der Traum strahlend Gestalt. Hierin verdichtet sich gesellschaftlich und technologisch höchste Mobilität, erstarrt in reiner Gegenwart, der Zeitform der global players. Diese arbeiten an einem Schicksal, das jede Bindung an konkreten, irdischen Raum, an Familien und Völker, an vergangene Geschichte verloren hat. Das ist zweifellos unheimlich, doch auf ganz andere Art als das klassische Horrorhaus.
"Von Ihnen dependier' ich unüberwindlich", schrieb Hölderlin am 26. Juni 1797 an Schiller. Zwei, drei Jahre zuvor hatte er in Jena Schillers Nähe gesucht, sich an Hymnen mit abstraktem Ideen-Pathos nach Schiller'schem Vorbild versucht - deprimierende Erfahrungen. Nicht zuletzt, weil, wie er an Neuffer schrieb, "meine Hymnen mir doch selten in dem Geschlecht, wo doch die Herzen schöner sind, ein Herz gewinnen werden". Bei aller Begeisterung für den 'griechischen Himmel', das antike Griechenland als Traumort göttlicher Schönheit, nimmt Hölderlin die Übermacht des Überliefert-Mustergültigen als "Sieg des […] Toten über das Leben" wahr. Anders als Herder, Hegel oder Friedrich Schlegel protestiert er gegen den Nachahmungsklassizismus à la Winckelmann, gegen "Knechtschaft" durch "das Altertum" nicht im Namen der Historie oder der Geschichtsphilosophie, sondern im Namen der "lebendigen Kraft", des "ursprünglichen Trieb[s]" lebendiger Bildung. "Als bloße Nachahmung eines antiken Musters wäre das Kunstwerk ein Totes; gerade damit es, gleich den Werken der Antike, ein lebendiges Verhältniß habe, muß es darauf verzichten, zu sein wie sie."
Um ein solch "lebendiges" Produktionsverhältnis der Poesie in der Gegenwart zu erreichen, müsste allerdings die bürgerliche Prosa der Verhältnisse überwunden werden, worin der Dichter "vereinzelt", "ausgeworfen [ist] aus dem Garten der Natur", sowie abgeschnitten von jenem "gemeinschaftlichen ursprünglichen Grund", das heißt vom mythischen Grund, der kollektiven Basis-Organisation der Phantasie, die einst die Blüte der griechischen Dichtung und Kunst ermöglichte. Doch der Jakobiner Hölderlin versteift sich nicht darauf, die Mängel der modernen, durch die Französische Revolution entfesselten Wirklichkeit zu beklagen. Er geht vielmehr den Verzweigungen nach, denen jener lebendige Trieb im modernen Weltzustand unterliegt.
Als der Filmproduzent Franco Rossellini 1969 den Kontakt zwischen Pasolini und Maria Callas herstellte, brachte er nicht nur zwei der außergewöhnlichsten Künstler des 20. Jahrhunderts - beide stolz und zerbrechlich, archaisch und modern - für die Arbeit am Set von Pasolinis Euripides-Verfilmung Medea zusammen. Zugleich ergab sich dadurch eine intersubjektive Konstellation, die - im Schmelztiegel einer intensiven, aber tragischen Freundschaft und Zuneigung - den mythischen Unterstrom hervorquellen ließ, der die besondere Existenz und das künstlerische Werk Pasolinis gleichermaßen grundiert und zusammenschmiedet. Es ist das Magma der tellurischen Mächte, das die Verschmelzung von Leben und Poesie zu einer "corporeita pasoliniana", zur pasolinispezifischen "Körperlichkeit der poetischen Aktion" (Giovanni Giudici) erhellen kann, ohne sie einem subjektiven Willkürakt zuzuschreiben.
Im Unterschied zu seinem Führer war Joseph Goebbels, als Minister für Volksaufklärung und Propaganda zugleich oberster Film-Zensor von Nazi-Deutschland, kein Freund von politischen Propagandafilmen. Auch ideologisch plakative Botschaften waren ihm zuwider. In einer Rede vor der Reichsfilmkammer sagt er: "Nicht das ist die beste Propaganda, immer sichtbar zutage zu treten, sondern das ist die beste Propaganda, die sozusagen unsichtbar wirkt, das ganze Leben durchdringt, ohne daß das öffentliche Leben überhaupt von der Initiative der Propaganda irgendeine Kenntnis hat." Wie lässt sich im Genre des Melodramas, das die Nazis neben Komödien bevorzugten, eine 'Propaganda' vermitteln, die dem Machtsystem, den politischen und kriegerischen Zielen des Nazi-Regimes dient? Nicht vor allem dadurch, dass man ideologische Botschaften einschmuggelt, sondern indem man das Unbewusste der Massen ergreift, indem man die Massen in eine mythische Welt taucht, die von Politik und Weltgeschehen scheinbar ablenkt und die - so unsere These - masochistische Dispositionen bedient und verstärkt. Besonders die Ufa-Melodramen mit Zarah Leander zapfen in subtiler Weise masochistische Lustquellen an, bieten entsprechenden Triebregungen phantasmatische Objekte und Tableaux an, die unsichtbar wirken, das ganze Leben durchdringen und öffentlich gar nicht als 'Propaganda' wahrnehmbar sind. Um das zu erkennen, muss man sich von einigen hartnäckigen Vorurteilen gegenüber dem Thema des Masochismus befreien.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete sich eine historisch besondere, womöglich einzigartige Konstellation zwischen Dichtung und Ethnologie, ermöglicht dadurch, dass sich avantgardistische Dichter wie Robert Müller, Alfred Döblin oder Michel Leiris ethnologischen Erfahrungsbereichen öffneten, andererseits eine "strukturale" Ethnographie entstand, die mit den metaphysischen Traditionen des westlichen Denkens ebenso brach wie mit der eurozentrischen Perspektive und der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, lange bevor der
Postcolonial Turn ausgerufen wurde.
Im akademischen Forschungsbetrieb ist es ein kaum bestrittener Gemeinplatz, dass es im Œuvre Federico Fellinis eine "markante Zäsur" gebe, die man um 1960 ansetzt, je nach diskursiver Strategie kurz vor "Otto e mezzo" (1963) oder auf den Spuren Kracauers vor "La dolce vita" (1960), wobei es in der Regel um einen "Bruch mit dem neorealistischen Mainstream" zugunsten einer eher "traumaffinen Schaffensperiode" gehen soll. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, dass es sich hierbei um eine Einteilung handelt, die eher machtgestützten Klassifikations- und Verwaltungsbedürfnissen entgegenkommt, als dass sie der Sache selbst: dem filmästhetischen Werk Fellinis, gerecht würde. Dabei sollte deutlich werden, dass diesem Werk ein mehr oder weniger unbewusstes mythopoetisches System zugrunde liegt, das die formal und narrativ unbestreitbar verschiedenen Filmwerke zu einem in sich schlüssigen Zusammenhang fügt.
Ein 'seriöser' bürgerlicher Spitzenpolitiker sagte auf einem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie, diese sei "schließlich keine Wirtschaftskrise oder Naturkatastrophe". Eine verstörende, aber interessante Aussage. Offenbar sind Techniken, Strategien, Mechanismen der modernen Bio-Macht bereits derart verinnerlicht, dass bei einer solchen Herausforderung jegliche Referenz auf ein womögliches 'Schicksal' sich von vornherein verbietet (selbst wenn das digitalpopulistischen Legendenbauern auf ihrer wahnhaften Suche nach heimlichen Drahtziehern Nahrung gibt). Grund genug, sich zu fragen: Verschwindet in der spätmodernen Welt im Zeichen planetarischer Naturzerstörung und Kapitalverwertung, scheinbar grenzenloser Machbarkeit und globaler Vernetzung das Schicksal? Tritt es möglicherweise inkognito auf? Oder gewinnt 'Schicksal' angesichts des Legitimationsverlustes monotheistischer Religionen und der stetig anwachsenden Rechtfertigungs- und Tribunalisierungszwänge gerade wieder an Bedeutung? Welche Rolle spielen der Zufall, das Erleben natürlicher und gesellschaftlicher Kontingenz? Was prägt eigentlich unsere Vorstellungen von 'Schicksal' im Spektrum zwischen klassischen Tragödien auf der einen, und trivialästhetischer Konfektion (Kolportageroman, TV-Soaps, Heimat-, Bergfilme) auf der anderen Seite? Fragen über Fragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll - unter anderem in chaos- und triebtheoretischen Perspektiven.
Die Zeitspanne, während der Georg Trakl lebte und dichtete (also das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert), war, eingebettet in die Hochphase des europäischen Kolonialismus und des bürgerlichen Heroenkultes, geprägt durch eine Hochkonjunktur des Magischen, Mythischen, Okkulten, wie entsprechende mentalitätsgeschichtliche Studien eindrucksvoll belegen. [...] Gegenüber der 'poésie pur' der Symbolisten, welche jenes Aufleuchten der Worte in ein hermetisches Spiegelkabinett sperrten, zeichnet Trakls Dichtung eine besondere Eigentümlichkeit aus: Mit ihren magischen Zeichen webt sie ein imaginatives Panorama jener 'mythischen Lebenswelt', macht sie diese in ihren wesentlichen Strukturen sinnlich nachfühlbar. Damit gibt sie der Sprache Augenblicke einer gleichsam körperlichen Schwere und Tiefe zurück. [...] Die folgende Reise in die Zeichenlandschaft von Trakls Dichtung, die semiologisch wie ein "einzige[s] Gedicht" zu betrachten ist, sollte nicht zuletzt zeigen, dass das Thema 'immanente Magie' dichterischer Sprache es verdient, sowohl vor einem ausgrenzenden, hybriden Rationalismus als auch vor seiner Vereinnahmung durch okkultistische Esoterik bewahrt zu werden.
Sören Kierkegaards Konzept der Verzweiflung steht im Mittelpunkt von Christiane Voss' medienanthropologischen Überlegungen. Der Beitrag behandelt und verortet die Frage nach der Lebensnot, aber auch nach dem Leiden zwischen Existenzial- und Medienphilosophie. Soll Kierkegaards Verwurzelung in der Philosophie des 19. Jahrhunderts sowie in der christlichen Ethik auch keinesfalls ausgeblendet werden, so argumentiert Voss dennoch dafür, Kierkegaards Subjektivitäts- und Freiheitsverständnis zu aktualisieren und für die Technik- und Medienphilosophie produktiv zu machen. Eine besondere Rolle spielen für Voss die Imagination und Einbildungskraft, auf die sie im Sinne einer medienanthropologischen Haltung rekurrieren will, die weder in neue Anthropozentrismen verfällt, noch einem Posthumanismus folgt, der Fragen der Normativität und Freiheit unbeantwortet lässt. Auf Grundlage der Philosophie Kierkegaards entwickelt Voss eine medienanthropologische Ästhetik, die durch ein selbstreflexives Moment gegenwärtige Technikphilosophien und Ökologien ergänzen will.
Maschinen begreifen : Benjamin, Poesie und Positivismus in der Zweiten industriellen Revolution
(2017)
Der Beitrag legt eine Lektüre des Aufsatzes "Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker" vor. Voskuhl widmet sich dem von Benjamin dargestellten Zusammenhang von industrieller Technik, Poesie und ästhetischer Theorie. Im Zentrum ihrer Analyse stehen seine philosophischen und literaturwissenschaftlichen Reflexionen über den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der zu einer bis dahin beispiellosen Verbreitung und Integration technischer Systeme ins Alltagsleben führt. Anhand eines Vergleichs des Eduard-Fuchs-Aufsatzes mit den wissenschafts- und technikhistorischen Arbeiten des Elektroingenieur Charles Steinmetz stellt sie die Besonderheiten von Benjamins technikhistorischer Darstellungsweise heraus. Seine Überlegungen deutet Voskuhl als den Versuch, die neuen naturwissenschaftlich-technologischen Errungenschaften mit älteren metaphysischen und ästhetischen Auffassungen zu vereinbaren.
Mit der Fanfiction sieht sich die Mediävistik der Chance gegenüber, die Frage nach Entwicklung, Form und Dynamik einer Erzählliteratur, die mit der Unmittelbarkeit des direkten Austauschs veröffentlicht, rezipiert und bewertet wird, zu beantworten: Anders als im tatsächlich mündlichen face-to face-Austausch sind die Texte von Erzählung, Kommentar und Rückmeldung einer Geschichte im Internet zumindest einstweilen auf den Servern der Fanfiction-Webseiten gespeichert und stehen dort der wissenschaftlichen Analyse und Bewertung zur Verfügung. Es ist der Blick auf eine neue Form der Literaturentwicklung und -vermittlung, aber im Vergleich zugleich der Blick auf eine sehr alte Form des Erzählens, die nach jahrhundertelangem Pausieren wieder aktuell ist – zusammen mit dem Postulat ihrer adäquaten Erforschung: Für die Erforschung von Fanfiction als neuem Mediomythos scheint das mediävistische Verständnis von Erzählen und Wiedererzählen hochgradig relevant und die Mediävistik kann umgekehrt möglicherweise im Studium dieses postmodernen Phänomens in aller gebotenen Vorsicht Szenarien mittelalterlicher Erzählkultur modellieren.
In seinen "Paradigmen zu einer Metaphorologie" übertrug Hans Blumenberg den Begriff 'Halbzeug' aus dem Bereich der industriellen in den der philosophischen Produktion und stiftete so eine Metapher für die vorläufigen, nicht vollends durchgearbeiteten Stadien der Text- und Gedankengenese. Denn Halbzeuge sind ihrem Begriff nach vorgefertigte Rohmaterialformen, Werkstücke oder Halbfabrikate einfachster Form, die kein Rohstoff mehr sind, zum fertigen Produkt aber erst noch weiterverarbeitet werden müssen. Ob tatsächlich die "Paradigmen" selbst, wie Blumenberg nahelegte, in diesem Sinne als philosophisches Halbzeug verstanden werden müssen, soll hier nicht Thema sein. Christian Voller geht es vielmehr darum, die Reichweite der Metapher anhand Blumenbergs eigener philosophisch-literarischen Arbeitsweise zu erproben. Dabei denkt er insbesondere an jenen Zettelkasten, der bekanntlich ein elementarer Bestandteil dieser Arbeitsweise gewesen ist.
Weltreiche : zur Darstellung prekärer Arbeit in zwei 'Hotelromanen' von Monica Ali und Ali Smith
(2022)
Two British novels exemplify an observation made analysing a larger corpus of contemporary 'hotel novels': both Ali Smith's "Hotel World" (2002) and Monica Ali's "In the Kitchen" (2009) focus on the hotel as a precarious workplace, with women being most vulnerable to its exploitative structures. The Imperial Hotel in Ali's novel is an architectural relic from the British Empire; a setting, where the migrant workers' labour conditions become evident. The Global Hotel in Smith's novel synthesises globalised and local structures, for instance by subverting the function of a hotel as a guest house accommodating affluent customers from all over the world: a receptionist opens the doors to a homeless woman, while the ghost of a female worker killed in an accident haunts the Global Hotel. The hotel has long served as a political metaphor when it comes to criticising liberal migration politics - especially in Britain, which the conservative MP Kenneth Baker referred to as "a sovereign nation, not a hotel" in 1995. In 2004, Tony Blair - then Prime Minister - famously said that "[w]e will neither be fortress Britain, nor will we be an open house". This paper explores these dialectics of openness and closeness in hotel fiction with a focus on the depiction of labour.
Jugend und Welt : zwei Jugend-Jahrbücher, herausgegeben von Rudolf Arnheim und Edith Jacobsohn
(2014)
1928 und 1929 erschienen zwei Jahrbücher für Kinder und Jugendliche unter dem Titel 'Jugend und Welt', herausgegeben von Rudolf Arnheim und, unter ihrem Geburtsnamen E. L. Schiffer, von Edith Jacobsohn; zu den Herausgebern zählte im ersten Jahrgang zudem noch Cläre With, die vor allem durch Beschreibungen ferner Länder und während der Nazi-Jahre als Schriftleiterin der Zeitschrift 'Koralle' bekannt wurde. Ausgeliefert wurden die Bücher, wie die beiden Rezensionen in der Weltbühne zeigen, offenbar schon Ende 1927 und 1928, damit sie noch in den Weihnachtsverkauf kommen konnten. Kinder- und Jugendliteratur wurden sehr lange als eine Art niedriger und dem klassischen Kanon nicht zugehörige Literatur angesehen. Fast könnte man sagen, sie sei als eine Art Gebrauchsliteratur angesehen worden, wurden die Bücher doch von den Kindern oft bemalt, wenig pfleglich behandelt und später sehr oft einfach weggeworfen. Nur selten fanden diese Bücher den Weg in eine öffentliche Bibliothek, auf dem Antiquariatsmarkt waren dagegen gut erhaltene Exemplare für Liebhaber sehr teuer - was auch für die beiden Bände 'Jugend und Welt' gilt. Dennoch überrascht es, dass sie in das außerordentlich umfangreiche Gesamtverzeichnis der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, das Aiga Klotz 1990 bis 2000 herausgegeben hat, nicht aufgenommen wurden. Einige Texte bekannter Personen aus Literatur und Publizistik, die hier zu finden sind, wurden inzwischen nachgedruckt oder bibliographisch erfasst, die Jahrbücher selbst aber blieben unbeachtet.
Erst in seinen letzten Lebensjahren in Berlin hat Kafka sich intensiver in Kursen der 'Hochschule für die Wissenschaft des Judentums' mit dem Talmud befasst: "Er hört in der Präparandie Professor Torczyner und Professor Guttmanns Vorträge über den Talmud. Er liest leichtere hebräische Texte. Nur dieser Kurse wegen kommt er regelmäßig aus dem stillen Vorort nach Berlin." Aus dieser Erfahrung heraus schrieb Kafka Ende 1923 an Robert Klopstock: "Daß Sie in die Iwriah gehen wollen, ist sehr gut, vielleicht nicht nur in die Hebräischkurse, sondern auch zu der Talmudstunde (einmal wöchentlich!, Sie werden es nicht ganz verstehn, was tut es? Aus der Ferne werden Sie es hören, was sind es sonst, als Nachrichten aus der Ferne)." Was aber heißt bei Kafka 'aus der Ferne'? Wäre nicht auch 'Eine kaiserliche Botschaft', hätte sie den Adressaten erreicht, aus der Ferne gekommen?
Gesichter und Gesichte, im Sinne von Visionen des Gewesenen oder Möglichen, sind in epischen, dramatischen und den filmischen Arbeiten von Samuel Beckett eng miteinander verknüpft. Becketts Arbeiten im Sektor der bewegten Bilder, um die es mir hier geht, umfassen einen Zeitraum von gut 20 Jahren, beginnend mit dem 1963 konzipierten "Film" und endend mit "Was wo" im Jahr 1986, einem Fernsehspiel, das Beckett zusammen mit dem SDR in Stuttgart produzierte. Sehen, Gesehenwerden, Gesicht und Gesichtetwerden, das Auflösen und Auslöschen des Gesichts im dreifachen Wortsinn, nämlich der physischen Erscheinung, des geschauten Bewusstseinsinhalts und des Gesichtssinns sind zentrale Themen der Arbeit auch in diesem Feld.