CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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"Nosferatu – Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte Dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut."
Mit diesen einleitenden Worten, geschrieben auf einer aufgeschlagenen Buchseite, beginnt der Stummfilm "Nosferatu – eine Symphonie des Grauens" von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1922. Worte, die nicht nur auf den im Film fokussierten Vampirismus, sondern – etwa mit der Formulierung "Totenvogel" – vielmehr auf dessen kultur- und kunsthistorische Bezüge zu jahrhundertealten Vorstellungen von satanischen Biestern verweisen. Letztere treten, im Gegensatz zu der dem Film zugrunde liegenden Romanvorlage von Bram Stoker, in Murnaus Inszenierung deutlich hervor. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Figur des Vampirs Graf Orlok weder – wie Siegfried Kracauer postuliert – auf die gesellschaftskritische Interpretation als faschistischer Tyrann noch – im Sinne Lotte Eisners – auf ein Phantasma der deutschen Romantik reduzieren. Vielmehr verkörpert Graf Orlok den Versuch, ein filmisches Wesen zu kreieren, das – wie die seit Jahrhunderten überlieferten Bestien – die Menschen fasziniert und affiziert. So wird mit Graf Orlok, wie Thomas Elsässer anhand des Weimarer Autorenkinos herausarbeitet, ein 'Designkonzept' visualisiert, in dem sich hochkulturelle Kunst und populäre Unterhaltung verbinden. Auf diese Weise soll ein breites Publikum angesprochen und das noch junge Medium Film als eine alle Bevölkerungsschichten erfassende massenmediale Kunstform etabliert werden. Hierzu greift Murnau, wie der Titel des im Filmverlauf gezeigten Vampirbuches deutlich macht, unter anderem auf die christliche Ikonografie der Sieben Todsünden zurück.
Tiere im imperialen Diskurs : die Human-Animal Studies als Unterrichtsparadigma für das antike Rom
(2022)
Steffensen combines human-animal studies with the concept of new political history to explore innovative perspectives for teaching Roman history. He thus provides a framework that allows students to further their understanding of the political dimensions of historical consciousness and to enhance their orientation competency. Students learn to recognize and analyze power structures and relationships in historical and contemporary societies. According to Steffensen, HAS is of utmost significance for the initiation of this process. Animals played important roles in political decision-making processes in ancient Rome, and animals were meaning-making figures in governance discourses. Focusing on the practical and semantic functions of animals in the context of divination and the discourse of decadence, this essay shows that HAS can serve as a starting point for teaching in a way that addresses the formation and utilization of empire. However, Steffensen does not only seek to promote students' understanding of political processes in the past but also hopes to motivate students to assess modern-day politics.
"Schillers praktische Idee der Tragödie." - Sein eigenes Leiden an den Existenzbedingungen des Menschen, der zwischen dem "Zustand" der Gebundenheit an die Widersprüchlichkeiten des Daseins, und der "Person" der befreienden Tätigkeit des Geistes, hin- und herschwebt, hat Hölderlin in Schiller meisterhaft widergespiegelt gesehen. Es ist aber Schillers Fähigkeit des Austragens dieser gespannten Existenzbedingung sowohl in seinen Werken als auch in seinem Leben, die Hölderlin am meisten bewundert hat.
Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege : Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar
(2022)
In her article, "Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege: Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar" ("Spider-Glasses, Dog-Cams, and Walkies with a Goat - Reflections on a Project Seminar on Animal Linguistics"), Pamela Steen describes a linguistics seminar that she taught in the summer semester of 2020 at the University of Koblenz-Landau. The author offers a general classification of pragmatic linguistics in HAS in order to justify its categorization as a sub-discipline of cultural animal studies. Steen pays special attention both to the creative methods participants use to incorporate animal perspectives into their research and to the aspect of empathy for animals. This aspect is not only a central linguistic feature but also relevant to the researcher's perspective. A particularly sophisticated method of empathizing with animals are the "spider glasses" developed by a student of Steen's seminar, Katharina Anna-Lena von Werne. In excerpts from her research report, von Werne describes how she sees the world "through the eyes of a spider" and what personal changes this has brought about for her in relation to nonhuman animals.
Wie der Medienwechsel vom Roman zum Film und die spezifische Medialität von Brief, Buch und Film reflektiert wird, möchte ich an zwei Verfilmungen von Johann Wolfgang Goethes monophonem Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" (1774/87) zeigen. Für Goethes "Werther" verzeichnet die Internet Movie Database 18 Verfilmungen, von denen viele historisierend sind und einige nicht direkt auf Goethes Roman, sondern auf Jules Massenets Oper basieren. Aus den vielen "Werther"-Verfilmungen habe ich zwei ausgesucht, die sich gut ergänzen und über Medialität reflektieren: Egon Günthers historisierende, in der DDR entstandene Verfilmung "Die Leiden des jungen Werthers" von 1976 und Uwe Jansons aktualisierende Adaption "Werther" (D 2008). "Die Leiden des jungen Werthers" ist Egon Günthers letzter Kinofilm in der DDR, der phantasievoll mit der Vorlage umgeht und Systemkritik übt. Mit Uwe Jansons "Werther" analysiere ich eine Verfilmung, die Werthers Geschichte vom 18. ins 21. Jahrhundert versetzt.
Briefe, das Gespräch zweier Abwesender miteinander, spielen in vielen Filmen eine große Rolle. Sie werden eingeblendet oder per 'voice over' vorgelesen, man sieht Lese- und Schreibszenen, die mit der Vieldeutigkeit des Geschriebenen spielen. Der Brief sei, so Christina Bartz, "wegen der kommunikativen Verbindung über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg" "besonders anschlussfähig für den Film", der ebenfalls durch die Montage räumlich und zeitlich Getrenntes zusammenbringt. Im Gegensatz zum Film ist der Brief jedoch kein Massenmedium sondern Individualkommunikation. Das Zeigen des Mediums Brief oder das Ersetzen dieses historischen Mediums durch ein aktuelleres im Film bietet immer auch die Möglichkeit der Medienreflexion. In meinem Beitrag möchte ich anhand zweier prominenter Beispiele zum einen beobachten, wie in filmischen Adaptionen briefgeprägter literarischer Texte mit Briefen umgegangen wird, und zum anderen, wie anhand der Briefthematik eine Medienreflexion stattfindet. Ich stelle dazu zwei Melodramen vor, in denen Briefe und das damit einhergehende Erkennen und Verkennen eine zentrale Rolle spielen: Max Ophüls' "Letter from an unknown woman" (USA 1948), der Verfilmung von Stefan Zweigs Novelle "Brief einer Unbekannten" (1922), und "Atonement" (2007), die Adaption von Ian McEwans gleichnamigen Roman von 2001.
Dans les années 1883-84, Carl Spitteler et Wanda de Sacher-Masoch ont habité en même temps à La Neuveville, pendant environ neuf mois. On ignore s'ils se connaissaient ou se rencontraient; sur la base des trois lettres publiées ici, une familiarité ne peut pas être exclue. Deux ans après la parution de son oeuvre à clef, "Meine Lebensbeichte. Memoiren" (Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1906), Wanda de Sacher-Masoch écrivait à Spitteler, sous le pseudonyme de K. v. Medhurst, en lui demandant de trouver la sincérité et la vérité - à ses yeux - dans les mémoires. Les réponses de Spitteler sont introuvables, mais selon K. v. Medhurst et ses allusions, ses questions et ses suppositions, il semble que Spitteler ait eu de bonnes raisons de cacher quelque chose, probablement au regard de sa connaissance d'un rapport - peut-être intime - avec Wanda de Sacher-Masoch. L'Autrichienne, quant à elle, n'avait pas le courage de parler sans déguisement et sans masque.
"Er schrieb mit sicherer Gelassenheit, von rechts nach links; seine Gewandtheit im Aufstellen von Syllogismen und im Ausspinnen weitläufiger Paragraphen hinderte ihn nicht, die kühle Tiefe des Hauses, das ihn umgab, wohltuend zu empfinden." So lautet der Beginn von Jorge Luis Borges' Geschichte Averroës auf der Suche. Der arabische Arzt und Philosoph Ibn Ruschd, bei uns Averroës genannt, sitzt in seinem Haus in Córdoba, jener Stadt, von der es heißt, sie habe bereits im 10. Jahrhundert eine halbe bis eine Million Einwohner gezählt, habe über 80 000 Werkstätten und Geschäfte, 900 öffentliche Bäder, 300 Moscheen und 50 Krankenhäuser besessen. Hier fließen die Geistesblüten von Okzident und Orient zusammen und kulminieren in einem Jahrhundert des Aufschwungs, das wenig später der Zerstörungswut der Reconquista zum Opfer fallen wird.
Averroës also sitzt in seinem Garten und arbeitet an seinem Werk 'Tahafut-ul-Tahafut' (Zerstörung der Zerstörung), das die Erwiderung auf das 'Tahafut-ulfalasifa' (Zerstörung der Philosophie) des Mystikers Al-Ghazali darstellt. Ein leichtes Unbehagen überkommt ihn, nicht wegen der Auseinandersetzung mit Al-Ghazali, sondern wegen eines Problems, das Averroës mit seinem Aristoteles-Kommentar hat, es sind die zwei Worte "Komödie" und "Tragödie" aus der Aristotelischen Poetik, die niemandem in der islamischen Welt etwas sagen. Wie der Zufall es will, gerät Averroës unwissentlich in den Bannkreis der Wahrheit: Bei einem Abendessen mit dem berühmten Reisenden Abulcásim Al-Ashari berichtet dieser von einem eigenartigen, bemalten Holzhaus in China, in dem maskierte Gestalten eine Geschichte aufführten, ein Theaterstück also. Keiner der Anwesenden kann sich einen Reim darauf machen, auch der Reisende selbst nicht.
Daß der Lyriker Thomas Kling ein besonderes Verhältnis zur Zeitgeschichte hatte, ja geradezu von ihr besessen gewesen
war, ist in der noch recht übersichtlichen Sekundärliteratur durchaus bemerkt worden. Dabei dominiert jedoch die Vorstellung, dieser Bezug sei erst Ende der neunziger Jahre aufgekommen, kulminierend in Klings großem Poem "Der Erste
Weltkrieg" im Buch "Fernhandel". So sieht sein langjähriger Lektor Christian Döring darin sogar das entscheidende Element seiner Gesamtentwicklung [...] Einiges spricht dafür, daß dem nicht so ist. Vielmehr war Kling in seiner gesamten Lyrik-Produktion von Beginn an auf historisehe Themenkreise fixiert,
brachte immer wieder Motive aus jüngerer oder älterer Vergangenheit in seine Gedichte ein und setzte diese in oft kontrastierende Relationen zu Aspekten der Gegenwart - Medialität und Mittelalter. Ohnehin in zenierte Kling das Gedicht als Sprachrollenspiel, das Dialekte, Ideogramme, Slang, Fragment- und Spezialsprachen integriert. Und eine gewichtige Stimme in diesem polyphonen Referenzgeflecht gebührt der Historie.
Wir sind heutzutage mit Bildern menschlichen Leids mehr als vertraut. [...] Doch was sind die historischen Ursprünge dieses Topos? Wie lassen sich die diskursiven Tropen, die unsere moralischen und affektiven Begegnungen mit dem humanitären Bild bestimmen - die 'Mitleidsmüdigkeit', der Zwang hinzusehen -, durch die Geschichte der Ikonographie des Leidens verfolgen? Die Darstellung gefährdeter Seeleute nimmt in dieser Geschichte einen besonderen Platz ein. [...] Wie hat sich diese Ikonographie im Laufe der Zeit entwickelt? Welche Art von moralischem Subjekt setzen solche Darstellungen als Betrachter voraus und welche Art von Reaktion lösen sie bei diesem aus? Diese Bilder entstanden parallel zur Entwicklung der sozialen und kulturellen Hegemonie des Bürgertums und der des 'modernen' Subjekts, der Privatperson im Sinne des Liberalismus. Das Selbstverständnis dieser Figur (und ihre Klassenzugehörigkeit) hingen zunehmend von einer Reihe von Annahmen über ihre moralische Weltanschauung ab. Bilder von Schiffbrüchigen können uns also viel über die Entstehung dieses modernen Subjekts, die Geschichte der Emotionen und ihre Beziehung zur Moral erzählen.
Die Tagung "Vom Gehen und von Übergängen in den Künsten" konzipiert und geleitet von Uta Degner und Hildegard Fraueneder, fand am 16. Juni 2023 am Programmbereich "Figurationen des Übergangs" der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst (Paris Lodron Universität Salzburg / Universität Mozarteum Salzburg) statt. Anhand von konkreten künstlerischen Arbeiten aus den Feldern Literatur, Musik und Kunst wurde das transformative Potential von Übergängen entlang der Fragen nach der Bedeutung von Gerichtetheit oder Richtungslosigkeit beim Gehen, den Beziehungen des sich bewegenden Subjekts und der Umgebung und der Situierung von Wahrnehmung und Reflexion zueinander vorgestellt und diskutiert.
Die Vorstellung, das berüchtigte Herrenrecht bestehe noch, wird bei Beaumarchais ebenso vorausgesetzt, wie bei Voltaire, obwohl keiner von beiden wirklich daran glaubte. Denn es handelt sich um eine Legende, die offenbar bewusst aufgefrischt wurde, um das Publikum zu empören. Dass dem so und nicht anders war, lässt sich nachweisen, wenn man 'Figaros Hochzeit' mit 'Le Droit du Seigneur' vergleicht und dazu auch noch Voltaires weitere Aussagen über das angebliche oder vermeintliche Feudalrecht heranzieht.
Präzise zeichnet Schillers bürgerliches Trauerspiel also die spezifischen absolutistischen Verhältnisse in einem deutschen Kleinstaat Ende des 18. Jahrhunderts: die Machtverschiebungen am Hof durch den Aufstieg einer gut ausgebildeten Verwaltungselite (Präsident), den Konkurrenzdruck innerhalb des dritten Standes, der sowohl aufstrebende Beamte hervorbrachte (Wurm) wie von Verelendung bedrohte Kleinbürger (Miller). Auffallend ist, wie differenziert Schiller dabei die soziale Verortung seiner Figuren besonders über Kleidungs-Codes regelt. Keine Farbe, kein Kleidungsstück, keine Requisite ist beliebig. An den unterschiedlichen Kleider-Zeichen, mit denen die beiden männlichen bürgerlichen Figuren, Miller und Wurm, markiert werden, wird dies anschaulich [...].
Zwischen 'Umwelt' und 'milieu' : zur Begriffsgeschichte von 'environment' in der Evolutionstheorie
(2014)
Wohl kaum ein Begriff ist derzeit ähnlich aufgeladen, belegt und machtvoll wie der des auch ins Deutsche übergehenden 'environment'. Er ist allgegenwärtig, zum theoriestrategischen wie handlungsleitenden Instrument geworden und geht über seine angestammten Fachgebiete im Bereich der Biologie und der Ökologie sowie die Vielfalt umweltpolitischer Programme weit hinaus. Die ersten Schritte auf diesem Weg der Ausweitung, die den Begriff derzeit auf unterschiedlichsten Gebieten plausibel macht, sollen im Folgenden nachvollzogen werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf sein Verhältnis zu zwei benachbarten Begriffen gelegt werden, die zwar häufig zur Übersetzung herangezogen werden, dadurch aber ihre eigene Spezifik und historische Tiefe zu verlieren drohen: 'Umwelt' und 'milieu'. Werden diese drei Ausdrücke füreinander ein- oder gar miteinander gleichgesetzt, vermischen sich ihre in entscheidenden Punkten voneinander abweichenden Theorietraditionen. Ein begriffsgeschichtlicher Blick auf die Etablierung von 'environment' in der britischen Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts soll diese bislang viel zu selten beachteten Komplikationen verständlich machen - angesichts seiner momentanen Ausweitung, in der alle drei Begriffe selbstverständlich zu werden drohen.
Eine Dichterfreundschaft hat zwischen Gerhart Hauptmann und Paul Ernst nicht bestanden, nicht einmal eine kontinuierliche persönliche Beziehung. Dennoch soll hier kein abstrakter Vergleich zwischen zwei Autoren unternommen werden, deren Werke vielleicht zu einer bestimmten Form der Zusammenschau einladen, sondern ist tatsächlich die Rekonstruktion der Bedeutung geplant, die die beiden Generationsgenossen über einen längeren Zeitraum füreinander hatten. Es geht um die wechselseitige Wahrnehmung und Bewertung ihrer Positionen und Personen einschließlich der zugehörigen biographischen Voraussetzungen, und es kann keinesfalls überraschen, dass dabei die Momente der Kritik und Ablehnung, ja Abstoßung überwiegen. Denn natürlich stehen Gerhart Hauptmann und der vier Jahre jüngere Paul Ernst für unterschiedliche literarische Richtungen. Die Literaturgeschichte verbucht den einen als prominentesten Repräsentanten des Naturalismus im deutschen Sprachraum, den anderen als Begründer und charakteristischsten Vertreter der gegen diesen Naturalismus gerichteten neuklassischen Bewegung. Eine andere unsere heutige Auffassung bestimmende Differenz und Disproportionalität ist damit eng verbunden: Während dem Dramatiker Hauptmann schon in jungen Jahren spektakuläre öffentliche Aufmerksamkeit und ökonomische Prosperität zuteil wurden, die auch alle späteren Fehlschläge überstanden, ist Paul Ernst, der sich - jedenfalls bis 1918 - gleichfalls in erster Linie als Dramatiker verstand, zu Lebzeiten nie aus seiner Nischenexistenz herausgetreten.
Dinge, denen besondere Eigenschaften oder Wirkungsweisen zugeschrieben werden, tauchen in der mittelalterlichen Literatur allenthalben auf. Sei es, dass sie einem anderweltlichen Bereich entstammen wie Siegfrieds Tarnkappe im Nibelungenlied oder der Paradiesstein im Alexanderroman, sei es, dass eigentlich 'gewöhnliche' Dinge in den Fokus der Erzählung rücken wie der Schmuck der Jeschute in Wolframs Parzival oder Brünhilds Gürtel - in bestimmten Konstellationen werden Dinge zu 'Mitspielern', deren handlungsdeterminierende Macht derjenigen der menschlichen Protagonisten um nichts nachsteht. Dass Dinge 'handeln', ist in den Texten des Mittelalters keine Seltenheit.
Melinda Nadj Abonji hat als erste Schweizer Schriftstellerin sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis gewonnen. Der Paradigmenwechsel in Bezug auf einen Umbruch in der bisherigen nationalkulturellen "Meistererzählung", der sich auch in der Schweiz schon länger angekündigt hat, ist damit deutlich eingetreten – und dies, während sich das Land in den letzten Jahren immer mehr vom restlichen Europa abschottet und seine Identität vermehrt in rückwärtsgewandten Kulturwerten sucht. Ausgehend von einer Analyse der narrativen Dramaturgie und des wiederkehrenden Erinnerungsmotivs wird die Verhandlung hybrider Kulturformen in dem Roman untersucht und das mnemografische Feld von "Tauben fliegen auf" – eine Art "dritter Ort" (Bhabha) – beschrieben. Untersucht wird, in welchem Spannungsverhältnis sich Erinnerung und Rekonstruktion zur Konstituierung neuer kultureller und sprachlicher Räume befinden und wie Abgrenzungen und Gegenüberstellungen vollzogen werden, um "Eigenes" oder "Fremdes" zu erkennen oder zu relativieren.