CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Nach wie vor ist die Geschichte der ästhetischen und auch der poetologischen Debatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was ihre Breite und Heterogenität angeht, ein blinder Fleck der Forschung. Das überrascht angesichts der Dynamik der Verschiebungen innerhalb der Paradigmata des Schönen nach 1800, die der erstarkenden Bedeutung des Sehens im Horizont medialer Formerweiterungen ebenso Rechnung trägt wie der philosophischen Ausrichtung der Phänomenologie, der wachsenden Bedeutung der Psychologie und auch dem steigenden Einfluss von wissenschaftlichen Ordnungen auf die Künste. Allenthalben verschaffen sich neue Konzepte des Schönen, der Kontinuität, der Brüchigkeit und der Kritik, des Verhältnisses von Idee und Realität, von Phänomen und System, von Erscheinung und Abstraktion Ausdruck und werden wiederum in Ästhetik 'betrachtet' und eingeordnet.
In diesem Beitrag möchte ich mich auf zwei Texte beschränken, an denen die Parameter einer Ästhetik des Niederen eruiert werden sollen: Georg Büchners "Woyzeck" (entstanden 1836/37) und Annette von Droste-Hülshoffs "Die Judenbuche" (1842). Bei Büchner und Droste-Hülshoff handelt es sich um Literaturschaffende, die traditionell unterschiedlichen Polen des literarischen Feldes - der sozialkritisch-engagierten und der sogenannten 'Biedermeier'-Literatur - zugeordnet werden, deren Werk sich allerdings gleichsam durch eine literaturhistorische Uneindeutigkeit auszeichnet. Wie von der Forschung zunehmend herausgestellt worden ist, weist Büchners und Droste-Hülshoffs Schaffen eine die epochalen Grenzziehungen überschreitende Modernität auf: Büchners "Abgesang auf die Illusionen des Idealismus mit seinem Glauben an die Geschichte, das historische Subjekt, die Vernunft und den Fortschritt" steht diametral zum Selbstverständnis der Vormärz-Literatur, durch Agitation und Intervention die Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, weshalb in dem Autor immer wieder "mentalitätsgeschichtlich, aber auch in der Prägnanz seiner sprachlichen Bilder ein Vorläufer der Moderne" gesehen wird. Gleichfalls haben neuere Forschungsansätze gegen das Klischee der konservativen Heimatdichterin für Droste-Hülshoffs Werk "Charakteristika einer Modernität [herausgearbeitet], wie sie dann vor allem mit der Klassischen Moderne in Verbindung stehen, […] Selbstreflexivität, Identitäts- und Sprachkrise, Avantgardismus in der Form, Subjektivierung, Psychologisierung, Relativierung, Differenzierung." Die Ko-Lektüre der beiden Texte vermag also zum einen ästhetische "Nähe- und Distanzverhältnisse" zwischen zwei Literaturschaffenden zutage zu fördern, die in der Forschung selten zusammengebracht werden, und so einen Raum für die Neuverhandlung der traditionellen literaturgeschichtlichen Klassifikationen ihres Werks zu schaffen; zum anderen regt der Blick auf das 'unzeitgemäße' Autorenduo zu einer Neubewertung des literaturhistorischen Orts und des Modernitätscharakters der Literatur zwischen Goethezeit und Realismus an. Dahingehend werden im Weiteren "Woyzeck" und "Die Judenbuche" im Hinblick auf unterschiedliche Merkmale, die eine Ästhetik des Niederen begründen, untersucht. Dieser Merkmalskatalog soll auf der Grundlage von Erich Auerbachs Studie "Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur" (1946) erstellt werden. Auerbachs Darlegungen zur Geschichte des Realismus in der abendländischen Literatur liefern dem Erkenntnisinteresse dieses Beitrags konzeptuelle Impulse und sollen der literaturhistorischen Verortung der Ästhetik des Niederen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mehr Schärfe verleihen.
In ihrem Buch "Verzeichnis einiger Verluste" (2018) experimentiert die 1980 in Greifswald geborene Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky mit einer Reihe unterschiedlicher Schreibweisen und Textsorten, darunter auch, in dem Kapitel "Hafen von Greifswald", mit dem sogenannten Nature Writing, das heißt der nichtfiktionalen, literarisch anspruchsvollen Repräsentation von Natur. Da Schalansky das Verfahren in ihrem Prosastück gleichsam in Reinform vorführt, möchte ich ihren Text zum Anlass nehmen und als Bezugspunkt verwenden, um einige Aspekte des Nature Writings aufzuzeigen und zu diskutieren. Diese betreffen sowohl die formale Bestimmung wie die historische Kontextualisierung naturmimetischer Literatur nach der Romantik. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst, noch ohne Bezug auf Schalansky, in groben Zügen die Vorgeschichte des Nature Writings, und zwar mit Blick auf das ästhetische Konzept von Landschaft, skizzieren. Im zweiten Abschnitt beschreibe ich anhand des Beispieltextes zentrale Schreiboperationen, Stilmittel und Vertextungsmuster, die in einem Nature-Writing-Text Naturpräsenz suggerieren. Im dritten Abschnitt möchte ich zeigen, wie sich das initiale Motiv des Nature Writings in Schalanskys Text darin abbildet und verdichtet, dass sich die Verfasserin auf eine bestimmte Weise an die Tradition der romantischen Landschaftsmalerei, verkörpert durch das Werk Caspar David Friedrichs, anschließt und zugleich von dieser abgrenzt. Hierbei rekurriere ich auf den, allerdings mehrdeutigen Begriff der Ekphrasis. Abschließend möchte ich noch kurz auf Einwände eingehen, die gegen das Nature Writing erhoben werden, und Hoffnungen ansprechen, die an das Genre anknüpfen.
"Die Untermieterin" ist Hanna Kralls erster und einziger Roman. International bekannt wurde die Autorin aber bereits 1977 durch die Veröffentlichung ihres Buches zum Aufstand im Warschauer Ghetto. Auf Deutsch erschien es in der Bundesrepublik unter dem Titel "Schneller als der liebe Gott" und parallel in der DDR unter dem Titel "Dem Herrgott zuvorkommen", bevor es infolge der Zensur ihrer Schriften in Polen auch in Ostdeutschland zensiert wurde. Im Zentrum steht Marek Edelmann. Die von ihm, dem einzigen überlebenden Kommandeur des Aufstandes im Warschauer Ghetto, entworfenen Kategorien, allen voran seine Unterscheidung zwischen "hell" und "dunkel", übertrug Krall auf ihren Roman "Die Untermieterin", wo die Unterscheidung gar den ethischen Kern des Werks bildet.
Zur Affinität des Sehens : neue Tendenzen einer visuellen Ästhetik in Adalbert Stifters "Haidedorf"
(2020)
Zum Ende des 18. Jahrhunderts setzt in der Literatur- und Kunstproduktion eine neue, visuell motivierte Tendenz ein: Die Affinität des Sehens. [...] Optische (Bild-)Effekte sind insbesondere bei Adalbert Stifter zugegen - und spiegeln seine Tätigkeit als Maler und Schriftsteller. [...] Stifter kombiniert seinen realistischen Anspruch mit wissenschaftlichen Kenntnissen und liefert zugleich ein ästhetisches Konzept der Naturschilderung. Um dieses Phänomen zu ergründen, liegt eine Untersuchung der Novelle "Das Haidedorf" nahe, die als dritte Erzählung im ersten Band der gesammelten "Studien" (1844) erschien. Da die Buchfassung von der früheren Journalfassung (1840) abweicht, ist ein vergleichender Blick angezeigt. Ferner ist das bildkünstlerische Schaffen des Schriftstellers zu beachten, das den Detailrealismus in Form von Studien, Gemälden und Zeichnungen vorgibt. In der Synopse der beiden Textvarianten soll die visuelle Ästhetik, speziell die Affinität des Sehens, neu konturiert und erarbeitet werden. Ergänzend wird eine Analyse der gemalten "Felsstudie" (1840) vorgenommen, die stilistische Parallelen zum Erzähltext hat. "Das Haidedorf" öffnet nicht nur die Sicht auf akribisch erfasste Naturphänomene und -bilder, sondern formt überdies eine Allegorie auf die Dichtung. Dichtung und (bildende) Kunst treten so in ein striktes Verhältnis: Während der Protagonist und Poet als Repräsentant für die Dichtung fungiert, nutzt der Text typische Strategien des bildenden Künstlers. In der Journalfassung tritt das "Motiv der Berufung zum Propheten und Dichter" markanter hervor. Zur "Heimat der Poesie" wird schließlich die schwäbische Heide, obschon ihr die Figur für einen längeren Aufenthalt im Orient fernbleibt. Diese Alteritätserfahrung verändert das figurale Befinden und somit auch das Verhältnis zur Landschaft. Die Novelle entwirft ein ästhetisches Paradigma, das die optische Wirkung der Handlung auf verschiedenen Ebenen darstellt. Dieser Beitrag soll die prägnanten Tendenzen der visuellen Ästhetik aufspüren, an Stifters Beispielen dokumentieren und synoptisch zusammenführen.
Zu Hegel nicht ohne Fichte
(2020)
Geht man die Philosophiegeschichte treu durch wie der Zeiger das Ziffernblatt an der Wanduhr, so weiß man bald nicht mehr, wo man ist. Das kommt den Hegel-Leser an, erinnert er sich noch, was bei Fichte stand, und lässt sich nicht täuschen von der brausenden Kant- und Fichte-Polemik des jungen Privatdozenten, als der sich selbst noch suchte. Bald wusste er besser, was ihn auf seinen Weg gebracht. Es gibt Polemiken in der Philosophie, wie von Leidenschaft getrieben, und am heftigsten gegen den im Denken Nächsten. Hegels Anfänge waren Kant- und Fichte-Abfertigungen gewesen. Kant und Fichte, eben 20 Jahre nach ihren epochemachenden Schriften wurden sie schon für Zurückgebliebene erklärt. Nicht Weltblick für den schöpferischen Geist der Zeit werde geöffnet von der transzendentalen Logik und deren von Fichte daraus gebildeten idealistischen Handlungstheorie. Nur schmale 'Reflexionsphilosophie der Subjektivität' komme hier mit ewig unbefriedigtem Sollen, statt auf das Weitertreibende in der Sache Geschichte selbst zu sehen. Die beiden jungen Schwaben, nach Jena, ins Zentrum des die Schulmetaphysik zurücklassenden Kantianismus gekommen, sie schrieben Philosophie wie Eroberer, die ihre geistige Herrschaft antreten wollen. Das hohe Sendungsbewusstsein für die eröffnete neue Lehre gehörte zur an sich altaufklärerischen Überzeugung, dass Philosophie - nicht mehr Religion - uns eine menschheitsführende Weltsicht öffne. Die Frage blieb, am schärfsten zwischen Hegel und Fichte, ob Philosophie vorangehe und den Weg weise, so dass auch real nach deren Programm gehandelt werden solle, oder doch nur den je geschehenen Schritt begreife und ihn anzuerkennen lehre. Aber in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen der 20er Jahre schilderte Hegel dann die Logik des Konstruktionsprinzips 'Arbeit' in der Fichte'schen Wissenschaftslehre detailliert; noch immer kritisch, aber als die ernste Sache bei einem, der etwas gefunden habe, das mit uns fortgehe. Im Schlusskapitel der "Phänomenologie des Geistes" (1807) hatte er schon die Parallel-Wege der (europäischen) Menschheit von Ideal- und Realgeschichte ganz im Duktus des Fichte'schen Praxisbegriffes konstruiert, bis hin zum Ich-Kennwort. Das Gerüst der Hegel'schen Geistphilosophie steht überhaupt auf dem Fundament des Fichte'schen Handlungs- und Vergegenständlichungsgedankens.
Sozial- und politikromantische Einbildungen haben eine lange, vielleicht sogar unendliche Lebensdauer, vor allem - aber nicht nur - in den Massenmedien. Zu solchen Vorstellungen gehört, dass die Oper vor allem im 19. Jahrhundert eine revolutionäre und systemkritische Wirksamkeit entfaltete oder die Komponisten dies zumindest beabsichtigten. [...] Die Opernzensur, so wird umgekehrt geschlossen, sei dazu dagewesen, all dies zu unterdrücken. Und die freiheitsliebenden und aufgeklärten Komponisten hätten einen steten Kampf gegen die Zensoren zu führen gehabt. Das hier skizzierte Bild der Operngeschichte darf man, auch wenn es immer noch in wissenschaftlichen Kontexten erscheint, als groben Unfug bezeichnen. [...] Viel wichtiger als das politische Argument war sowohl im 18. wie im 19. Jahrhundert das moralische Argument von Zensoren gegen einzelne Opern.
Kafkas Romanfragment "Das Schloß" wird üblicherweise nicht mit einem persönlichen Handlungsspielraum oder Emanzipation in Verbindung gebracht. Und doch lohnt es sich, den Roman neu zu betrachten und die Frage zu stellen, ob man sich K. nicht auch als einen glücklichen Menschen vorstellen kann, dem sich durchaus ein Raum für Agency öffnet. Zwar ist die Schlosslandschaft, in der K. sich bewegt, alles andere als frei, und doch wird der Roman durch zahlreiche Ereignisse bestimmt, in denen K. auf eigentümliche Weise frei wirkt. [...] K.s Agency zeigt sich demnach vor allem dann, wenn man sich nicht so sehr auf seine absurde Unfreiheit, sondern eher auf seine absurde Freiheit konzentriert. Dieser Perspektivwechsel soll mit Hilfe des Konzepts des Institutionenromans vorgenommen werden. Es eignet sich nicht nur dazu, K.s Gefangensein auf dem Schlossterritorium zu analysieren, sondern ebenso, seinen geschickten Befreiungskampf in den Blick zu bekommen, indem man das Zusammenspiel von Arbeit und Müßiggang in unterschiedliche institutionelle Kontexte einordnet. K.s Freiheit taucht so in unübersichtlichen Schichtungen und Zusammenhängen auf und K. versteht sie zu nutzen, indem er sich, wie Kant es fordert, mit Entschlossenheit und Mut seines eigenen Verstandes bedient. Aufgrund der Gegenmacht des Schlosses kommt es aber auch zu 'Bedienungsfehlern' des Verstandes. Deshalb erzählt der Roman neben K.s Erfolgen auch von den Widerständen und Rückschlägen beim optimistischen Gebrauch der Kant'schen Aufklärungsformel. Den theoretischen Rahmen meiner Untersuchung bilden Konzepte, welche die Unterdrückung (Campe), Aushebelung (Vogl) und Förderung subjektiver Agency (Rancière) zum Thema haben.
Wende
(2020)
Wer heute bezogen auf die deutsche Geschichte von 'der Wende' spricht, meint die im Herbst 1989 in der DDR beginnenden und mit deren Anschluss an die Bundesrepublik endenden politischen Umwälzungen. Zwar favorisieren damalige Akteure und manche Historiker dafür pathetischere Bezeichnungen wie 'Freiheitsrevolution' oder das vom damaligen Westberliner Bürgermeister Walter Momper am Tage nach der Maueröffnung geprägte, etwas sperrige Oxymoron 'friedliche Revolution'. Doch gerade die ostdeutsche Alltagssprache hat diese nie übernommen, vielleicht, weil im DDR-Sprachgebrauch 'Revolution' mit sozialem Fortschritt, mit etwas grundsätzlich Neuem verbunden war. Dass 'Wende' zur nahezu neutralen Bezeichnung dieser Prozesse werden würde, war zeitgenössisch keineswegs absehbar.
Weimarer Beiträge 66/2020
(2020)
Die Weimarer Beiträge sind eine Zeitschrift für Literaturwissenschaft, aktuelle ästhetische Theorie und Kulturwissenschaft. Zu Ihren Schwerpunkten gehören moderne Literatur im Rahmen anderer Künste und Medien, die Wechselbeziehungen von Literatur, philosophischer und ästhetischer Reflexion sowie die kritische Analyse der Gegenwartskultur.
The paper engages with the works of Thomas Kling (1957-2005) and elaborates on the specific incorporation of history in Klings poetics. Kling was both known for his wild style of lyrical performance as well as for his vast knowledge of history. Kling aptly puts the style of his lectures in the tradition of the "histrion", the actor in ancient Rome. The paper argues that the connection of history and the theatricality of the histrion becomes fundamental to his poetics. History is for Kling a material that combines linguistic, cultural and literary references that need a performative elaboration. The paper traces this constellation of performativity and history within Klings early poems and essays. It then turns towards a reading of his poems "Manhattan Mundraum" and "Manhattan Mundraum Zwei". In these poems Kling intertwines the performative aspects of his poetics with an inquiry into the history that has shaped the island of Manhattan and the language of its "Mundraum".
This chapter argues that paying attention to the weather and its associated processes of geological, biological, and social weathering can destabilize knowledge traditions that insist on dichotomies. Looking to specific histories and current conditions in Guyana and Suriname, this chapter shows how notions of weathering can accommodate a wide range of referents, ranging from the weathering of rock to socio-political and historical afterlives of violent colonial displacements.
The essay investigates the meteorological phenomena represented in Dante Alighieri's Commedia and their interrelation with the subjectivity of the dead in Hell, Purgatory, and Heaven. Examining how the dead weather the afterlife and how the elements affect them, in turn, the essay takes the complex enantiosemy of the word 'weathering' as a conceptual guiding thread for the exploration of dynamics of exposure ('Inferno'), vulnerability ('Purgatorio'), and receptivity ('Paradiso').
The chapter engages the nature-culture divide with the generative ambivalences of weathering in both language and physics. Taking the different uses of the enantiosemic and ambitransitive verb as indicative of the human's fraught relationship with its environment and itself, it analyses multiple ways in which 'weathering' can involve subject-object relations, objectless subject-predicate relations, or even subjectless processes, and proposes to think them with mechanics, thermodynamics, and chaos theory.
Wie kann man sich auf etwas beziehen, das sich einfach nicht sagen lässt? Melanie Unseld hat herausgestellt, dass "Salomons Singespiel als künstlerisch-autobiographische Selbstreflexion und als Markierung der eigenen Liminalität zu verstehen [ist], als Versuch einer künstlerischen Selbstverortung, entstanden in einer isolierten Exilsituation, in der Selbstverortung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellte." Wo das Politische und eine extreme Form von Zensur korrektes, den Normen entsprechendes Kommunizieren nicht mehr zulassen, diese Situation aber gleichzeitig das Bedürfnis auslöst, ein Medium des gelingenden Selbst(er)sprechens zu finden, erscheint (kulturelle) Identität auch als ein performativer Akt, in dem die Herstellung und Darstellung der eigenen Geschichte nicht mehr klar zwischen Fiktionalität und Faktualität trennen kann, sondern spezifisch eigene Formen des Selbstentwurfs findet. Das macht Elisabeth Böhm im Folgenden anhand von Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" nachvollziehbar.
Was macht Rhythmus? Eine Figur des Übergangs zwischen Literatur und Musik : Veranstaltungsbericht
(2020)
Rhythmen geben Struktur - unseren Arbeitswelten, unserem Zusammenleben, den verschiedenen Tätigkeiten unseres Alltags. Zugleich ist "Rhythmus" ein schillernder Begriff in gegenwärtigen Debatten der Wissenschaften und der Künste. Er ist als analytische Kategorie einerseits, als Konzept künstlerischer Praktiken andererseits ungemein attraktiv, und das, verfolgt man seine Geschichte bis in die Antike, quasi seit jeher. Was aber jeweils gemeint ist, wenn von Rhythmus die Rede ist, welche ästhetischen Phänomene damit erfasst werden sollen, welche theoretischen Vorannahmen dabei im Spiel sind, ist angesichts der Vielfalt der Verwendungsweisen dieses Begriffs und der zahlreichen Kontexte seines Gebrauchs alles andere als eindeutig.
Im Folgenden möchte ich Mundts Schrift in ihren Hauptmomenten vorstellen und dabei schlaglichtartig derartige Schnittstellen erhellen: die Idee einer großen, die modernen Differenzerfahrungen aufhebenden Vermittlung und deren politische Implikationen (1.); die Möglichkeiten einer politischen Artikulation im Rahmen der philosophischen Ästhetik des Vormärz (2.); die dynamische Begriffsordnung der "Aesthetik", deren Bewegungsemphase und das zugleich bemerkbare Erproben formativer Kräfte (3.); Phantasie und Idealisierung (4.) und schließlich den für Mundts Schrift wichtigen Begriff des Bildes (5.). Die Verbindungslinien, die sich zwischen Mundts "Aesthetik" und der Ästhetik des Jahrhunderts zeigen werden, sind dann zugleich Ausweis von Kontinuitäten, die sich zwischen den beiden Jahrhunderthälften, zwischen Vormärz und Nachmärz erstrecken.
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges blühte das deutschsprachige Berufsschauspiel auf - und mit ihm auch das Marionettentheater. Beide agierten in denselben Räumen und fußten auf demselben Repertoire, das hauptsächlich aus dem Englischen und Niederländischen, seltener aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen übertragen wurde. Da es in Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden keine professionellen Dramatiker gab, bearbeiteten die Prinzipale die Texte meist selbst oder übertrugen die Aufgabe einem angehenden oder abgeschlossenen Akademiker gegen Lohn. Der Einfluss des evangelischen Schultheaters und des katholischen Jesuitentheaters ist dagegen zu vernachlässigen, da deren Texte nicht für eine professionelle Aufführung konzipiert waren bzw. einen übermäßigen szenischen Aufwand verlangten. Auf der Suche nach neuen Texten wurden dagegen die Opernsammlungen von Cicognini und anderen Librettisten, deren Werke überwiegend im höfischen Kontext entstanden waren, aufmerksam studiert. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Puppen- und dem Schauspielertheater bestand in der Betriebsorganisation. Man konnte eine Marionettenbühne bereits mit einem Bruchteil des Personals einer Schauspieltruppe betreiben. Dies senkte die Betriebskosten und erweiterte die Auftrittsmöglichkeiten. So spielten die Marionettenspieler nicht nur an Höfen und auf Rathäusern, auf Jahrmärkten und Messen in Bretterbuden und Gasthäusern. Sie waren auch in den Vorstädten und selbst in kleinen Dörfern zu finden. Für die Genehmigung waren ausschließlich die Kommunen zuständig. [...]
Vorwort
(2020)
Lange waren Formkonzepte dem Zug der Zeit entzogen, um dann am Ende des 18. Jahrhunderts, und prominent in Goethes Naturforschung, massiv unter ihren Einfluss zu geraten. Wenn Goethes Überlegungen zu Morphologie und Metamorphose Manifestationen der im späten 18. Jahrhundert auf breiter Front beobachtbaren Verzeitlichungsprozesse darstellen, drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis von Zeit und Form in der als Zeitkunst verstandenen Literatur des Autors wirksam wurde.
Noch bevor Begriffe wie Immanenz, Realität oder Unmittelbarkeit zu gängigen Gegenständen der Ästhetik werden konnten, entwickelt Weiße ein System, in dem er der Realität und dem Hässlichen einen Platz einräumt. So stellt sein Werk ein Zeugnis der Anfänge dieser Entwicklung dar, die bereits wenige Jahre später fester Bestandteil der Ästhetiken wurde. Dies blieb jedoch nicht ohne Folgen für die Rezeption seines eigenen Werkes, in der nur selten Weißes eigene Argumentation eine Rolle spielte, der Fokus vielmehr auf die Ergebnisse gerichtet war, die bei den Nachfolgern in der Regel konsequenter und stringenter ausgeführt worden waren. Nichtsdestotrotz stellt gerade dieses frühe umfassende Werk Weißes ein interessantes Dokument des Beginns eines Paradigmenwechsels im Nachdenken über das Schöne im Vormärz dar, dessen Tragweite sich bei Erscheinen von Weißes Abhandlung noch nicht abzeichnete. Der folgende Beitrag möchte diese initialen Weichenstellungen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Ästhetik beleuchten, wobei besonderes Augenmerk auf dem Moment der Gleichzeitigkeit liegen soll, die das Potential des Neuen, bisher so noch nicht Gedachten, mit den Denkweisen der Goethezeit versöhnen soll. Und nicht zuletzt könnte die Betrachtung dieses frühen Entwicklungsstadiums auf dem Weg zu einer modernen Ästhetik auch Aufschluss geben über das Verhältnis der beiden konträren literarischen Tendenzen des politischen und des restaurativen Schreibens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Es legt sich nicht unmittelbar nahe, dass sich eine Alttestamentlerin von ihrem Fach her zu Zensur äußert. Schließlich ist das, was wir heute unter Zensur verstehen, vorrangig mit der Kontrolle von Massenmedien verbunden, die es in der Form zu biblischen Zeiten nicht gab. Zensur im Sinne kontrollierender Lenkung von Information und Deutungshoheit über Fakten durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Institutionen und Machthaber gab und gibt es freilich überall, wo Menschen zusammenleben und sich eine soziale Ordnung bzw. Hierarchie herausbildet. So will dieser Beitrag in einem interdisziplinären Kontext einige grobe historische und theologische Linien vom alttestamentlichen Verbot, andere Gottheiten zu verehren, über die ikonographische Zensur hin zu erlaubten, religionspolitisch aber völlig inkorrekten sprachlichen Gottesbildern nachzeichnen.
Jean-Luc Nancy ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Philosophen Frankreichs. Stark beeinflusst von Martin Heidegger, Georges Bataille und Jacques Derrida, setzt er sich in seinen zahlreichen Schriften vor allem mit der deutschen Philosophie und Literatur auseinander. Das Gespräch wurde im September 2020 per E-Mail auf Französisch geführt.
Das Internet findet auf unterschiedlichste Weise Eingang in den Film: Digitale Formate wie Webserien, Podcasts oder sogar Tweets werden im Medienwechsel Grundlage filmischer Adaptionen, filmische Experimente mit interaktiven und virtuellen Technologien generieren neue, zwischen Film und Computerspiel angesiedelte Medienkombinationen, transmediale Erweiterungen führen auf verschiedene Arten Film- und Serienuniversen im digitalen Raum fort und intermediale Bezüge erzählen durch die Imitation einer digitalen Ästhetik nicht (nur) über das Altermedium, sondern oft auch durch das andere Medium. Zu letzterer intermedialer Kategorie gehörende Phänomene der Thematisierung, Evozierung oder Simulierung sollen hier im Kontext der Darstellung des Internets analysiert werden. Aufgrund der Ubiquität digitaler Medien im Alltag spielen seit einigen Jahren neuere Technologien als Bezugsmedien eine zentrale Rolle in vielen Filmen und Serien. Filmische Internetanwendungen werden dabei vor allem als grafische Benutzeroberfläche, als Nutzungsschnittstelle zwischen Anwender und technischem Gerät visualisiert, die Repräsentation der Hardware erscheint meist nachrangig. Nicht die Darstellung von Computern und Smartphones, sondern die Inszenierung von vernetzten Systemen, Räumen und Kommunikationsstrukturen steht daher im Fokus dieses Artikels. Eingegangen werden soll in diesem Zusammenhang insbesondere auf intermediale Evozierungen des Altermediums durch die Nachahmung digitaler Ästhetiken vermittels des Formenrepertoires des Films, simulierte Screen- und Desktopfilme und auf die Darstellung der dominant schrift- und zeichenbasierten digitalen Kultur durch die Integration von Schrift im Filmbild. Begonnen wird die Untersuchung mit einer Betrachtung von visuellen Metaphern und Strategien der Sichtbarmachung virtueller Räume.
The title of the conference that took place in the Dance Studies department of the University of Salzburg on January 23rd and 24th - Post-utopia and Europe in the performing arts - was an invitation to grapple not only with the subject matter announced, but also with the very conception of its terms. The interdisciplinary contributions to the conference - from dance studies, musicology, literature, cultural policy and film studies - presented a multifaceted range of ideas both about Europe and European-ness and about (post-)utopia, pushing and pulling the notions in a tense field of reflection.
'Die Tradition der Unterdrückten', schreibt Walter Benjamin in seiner achten These "Über den Begriff der Geschichte", 'belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht'. Die nachstehenden Bemerkungen sind der Versuch, einen solchen Begriff zu entdecken. Weil sie um ein Problem der Hermeneutik kreisen, teilen sie in gewisser Weise die unangenehme, aber notwendige Eigenschaft der Hermeneutik, immer anzusetzen, nie aber anzukommen. Die Gefallenen haben ihr Vorrecht auf die Wahrheit verloren. Ich unternehme Streifzüge, keine Vermessungen der Welt unter dem Mond.
Der wichtigste Vermittler Lukians im deutschen Sprachraum im 18. Jahrhundert, Christoph Martin Wieland, machte die Stadt Abdera in seiner Geschichte der Abderiten zum Schilda der Antike. Und mit Bezug auf diese sublimierten Schwankerzählungen allzu menschlicher Irrsale eines Gemeinwesens von Dummköpfen bildete Kant einige Jahre später wiederum den Begriff des "Abderitismus". Damit bezeichnete er diejenige Auffassung des Gangs der Weltgeschichte, der zufolge in den menschlichen Angelegenheiten bloß ein Auf und Ab vergeblicher Bemühungen und bodenloser Torheiten zu beobachten sei. Kant hielt diese Vorstellung für moralisch unerträglich. Die "zum Besseren fortschreitende" Struktur des historischen Geschehens sollte zur Abwehr des Abderitismus regelrecht bewiesen werden. Vom Tragödienfieber zur Geschichtsphilosophie: sobald der Faden einer Trope einmal angesetzt ist, spinnt sie sich von selbst weiter. Die "Daseinsmetapher" (Hans Blumenberg) der Ansteckung lässt uns nicht los und wird auch die gegenwärtige Pandemie weiterhin begleiten.
Die fragmentierte und scheinbar kontingente Struktur von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" folgt, so soll hier gezeigt werden, nicht zuletzt auch einem besonderen Zeitregime. Der Roman erprobt vor allem in seiner um Wilhelm und Lenardo gruppierten Handlung Formen des analeptischen Erzählens, das die Ereignisse nicht chronologisch-linear, sondern in wiederholten Rückgriffen und Zeitschleifen entwickelt. Dieses Erzählen 'von' und 'in' Vorgeschichten folgt einem Schema, das Goethe in den homerischen Epen vorgeprägt sieht, das aber auch mit Zeitreflexionen aus seinen geologischen Studien korrespondiert.
In der Kritik geht das immer wiederkehrende Lob des rumänischen Schriftstellers Emil Cioran, wenn er auf Französisch schreibt, damit einher, dass seine rumänische Vergangenheit nicht berücksichtigt wird. Ein Teil der Kritik schafft dabei eine einsprachige Darstellung seiner Schriften. Wenn Cioran seine Schreibpraxis evoziert, etabliert er eine Rhetorik, deren Zweck es ist, an seinem Image zu arbeiten, um im französischen Literaturbereich Erfolg zu haben. Nachdem er sich mit einer faschistischen Bewegung in Rumänien beschäftigt hat, verbindet er ständig Sprache, Ideologie und Identität, um sich in Frankreich verändert und reuig zu zeigen. Dieser Artikel verteidigt somit die Betrachtung der gesamten mehrsprachigen literarischen Karriere von Cioran, wenn wir seine Arbeit so objektiv und vollständig wie möglich angehen wollen.
Fast zweieinhalbtausend Jahre nach dem Entstehen der sophokleischen Tragödie greift Max Frisch diesen Stoff in seinem Roman "Homo faber" (1957) auf: Nicht nur werden "Oedipus und die Sphinx" explizit genannt, auch erbt der Roman, der als Ich-Erzählung gestaltet ist, die Motive Inzest, Blindheit und Hybris und spielt in Form ausführlicher Rückblenden die analytische Struktur an, durch die sich die Mythenverarbeitung der antiken Tragödie auszeichnet. Diese Bezüge auf den Ödipusstoff wurden in der Forschung breit gewürdigt. Im vorliegenden Beitrag widme ich mich in diesem Rahmen besonders dem Gattungswechsel von der Tragödie zur Ich-Erzählung. Wie zu zeigen ist, erteilt Frisch der tragischen Notwendigkeit durch ihre Transformation in die Ich-Erzählung eine Absage, indem er jeglichen Bezug auf eine tragische Notwendigkeit dem Kalkül seines Erzählers zurechnet. Zwar inszeniert sich Walter Faber, Hauptfigur und Ich-Erzähler des Romans, beständig selbst als mythologischer Analphabet; doch setzt er das tragische Verkennen des unschuldig-schuldigen Helden als Deutungsmuster seiner eigenen Biographie ein. Verdeckt wird dadurch, so zeigt die kritische Lektüre der Selbststilisierung des Erzählers, zum einen die eigene Schuld am Inzest mit der Tochter und an ihrem Tod, zum anderen die einstige Ablehnung des noch ungeborenen Kindes, die den späteren Inzest erst ermöglicht. Mit der beabsichtigten, jedoch nur vermeintlich vollzogenen Abtreibung spielt Frisch, so meine ich, auf die Vorgeschichte im Ödipusmythos an - auf den versuchten Mord am eigenen Kind durch Laios. Ursächlich dafür, dass Ödipus als ein Fremder nach Theben zurückkehrt, ist nämlich, dass er als Kind von seinen Eltern ausgesetzt wurde und wider Erwarten überlebt. Wollte Laios mit dieser Tat eigentlich der Prophezeiung, sein Sohn werde ihn töten, entgegenwirken, so sorgt er gerade dafür, dass sich der Orakelspruch erfüllt. Auch in Frischs Roman ist es die Ablehnung des Kindes, die dafür verantwortlich ist, dass sich Vater und Kind unerkannt wiederbegegnen. Das tragische Nichtwissen, das der Ich-Erzähler beständig für sich in Anspruch nimmt, ist lediglich deren Folge. In "Homo faber", so meine These, gibt sich 'Laios' für 'Ödipus' aus. Diese Strategie zur Distanzierung von Schuld im biographischen Erzählen steht in Zusammenhang mit dem subtilen, doch wesentlichen Zeitbezug des Nachkriegsromans. Frischs "Homo faber" setzt sich zum einen mit der Verdrängung der Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft auseinander, zum anderen reflektiert er als ein Technik-Roman den Zusammenhang von Rationalität - die in der Angst vor dem Tod wurzelt sowie in den Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Natur mündet - und Lebensfeindlichkeit als Geringschätzung des nachkommenden Lebens. Es ist diese Disposition, die in der Figur Faber Gestalt gewinnt und daher zunächst herauszuarbeiten ist.
This essay examines Agota Kristof's use of the French language in a French-Hungarian edition of her poetry entitled "Clous / Szögek" ("Nails"). Furthermore, the close reading of her collected poems and her autobiography "L'Analphabète" ("The Illiterate") reveals the complexity of Kristof's writing and her creative way to move between the two languages. The analysis of her syntax, her dynamic choice of verbs and the modalities of negation brings to light discursive caracteristics of the Hungarian language, her mother tongue. Lexical nuances reveal the emotional dimension concealed in Agota Kristof's texts while the phonetic dimension of her poetry creates a particular poetic voice. Consulting the archives of the writer preserved in Bern has confirmed the importance of Agota Kristof's linguistic exploration. Close reading of her texts in both languages reveals how childhood memories activate her first language and how her mother tongue helps her to remember past events.
Die Auseinandersetzung mit Stefan George war für Theodor W. Adornos philosophischen Werdegang entscheidend. Dieser Befund wird durch eine einfach quantitative Analyse bestätigt: Georges Name erscheint in Adornos "Gesammelten Schriften" 468 Mal. Zum Vergleich: Kafka wird 302 Mal, Goethe 298 Mal genannt. Gleichwohl hat die Forschung, trotz einiger Einzelstudien zur George-Rezeption Adornos, die Systematik und Struktur seiner George-Lektüre bislang nicht hinreichend herausgestellt. Adornos oft konstatierte Ambivalenz, die Georges philosophische 'Rettung' motiviert, erklärt sich aus seiner Doppelposition als Angehöriger der linken Frankfurter Intelligenz auf der einen, als Komponist der Zweiten Wiener Schule auf der anderen Seite - eine sozialgeschichtliche Konstellation, vor deren Hintergrund sich das Zusammenspiel dreier Problemfelder vollzieht: Erstens handelt es sich bei Adornos George-Lektüre um die Übertragung der materialistisch-dialektischen Methode auf die Kunstbetrachtung; diese hängt zweitens mit dem Problem des 'Klassischen' zusammen; drittens mit Adornos musikalischer Beschäftigung mit George. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, die Verflechtung dieser Problemfelder darzustellen und damit die Logik von Adornos komplexem Verhältnis zu George zu erhellen.
The essay confronts the question of weathering by considering its excess to the conceptual dimension and relating it to what Jacques Derrida names (the) 'trace'. The study of the 'logic' of weathering/the trace is confronted with Giorgio Agamben's critique of Derrida's project. Their two different conceptions of language, of its presuppositional structure, and of its order of 'metaphysical presence' are considered, in particular by turning to Werner Hamacher's work on these and related matters.
Anna Simon-Sickley zeigt in ihrem Beitrag die historischen Verflechtungen des Begriffs des 'Anthropozäns' mit den Diskursen von Energie und Entropie. Die Gefahren einer semantischen Rückprojektion reflektierend, kann sie deutlich machen, wie die heute 'totalisierende Metapher' des Anthropozäns bis in die Diskurse der Energie und Entropie zurückreicht. Energie erscheint dabei begrifflich als Einheitswährung, mittels deren Natur einzig als auszubeutende Ressource (fossile Brennstoffe) thematisiert wird. Mit der Thermodynamik legt die Umweltforschung den Schwerpunkt auf Effizienz, Produktion und Abfall. Das wachsende Bewusstsein, dass Energie Geschichte strukturiert, erweist sich als eine Perspektive, die für die Geschichtsschreibung des Anthropozäns von entscheidender Bedeutung geworden ist. Mit ihm soll sich das wissenschaftliche Thema des Menschen vom Kontext der Geisteswissenschaften zum Kontext der Wissenschaften verschoben haben. Menschliche Systeme und Kulturen werden im Anthropozändiskurs als geologische Kräfte verstanden und erscheinen als geochronologische Epochen naturwissenschaftlich exakt berechenbar.
Where Haas sees the narrative dividing into "Streberwitz" and "Kriegsdarstellung" I see something more like a division between 'Witz' and 'Krieg' per se. The point and the provocation of the novel, in my view, is that Kehlmann declines to bring these two strata together, or rather: that he first insists on bringing them together, by forcing Tyll and the Thirty Years War to inhabit the same work, and then refuses to synthesize them into anything like a higher unity. The irony of the fool, in Tyll, does not acquire gravity or depth by virtue of its relationship to a reality whose hidden truths it emphatically does not reveal; and the reality of war does not find redemption or sublimation in art.
Gilles Deleuze ist zwar oft als Philosophiehistoriker hervorgetreten, hat aber offensichtlich keine Heidegger-Monografie verfasst. Ebenso wenig weist sein Werk allzu viele direkte Bezugnahmen auf Heidegger auf. Vielleicht ist diese Einschätzung aber zu oberflächlich. Erst vor wenigen Jahren hat die Philosophin Janae Sholtz in ihrem bemerkenswerten Buch "The Invention of a People" eine erste ausführliche Gegenüberstellung des Denkens von Deleuze und Heidegger unternommen. [..] Das ändert zwar nichts daran, dass kein 'Heidegger und die Philosophie' aus Deleuze' Schreibmaschine vorliegt: Es motiviert aber dazu, nach weiteren Spuren des deutschen Philosophen in Deleuze' Schriften zu suchen. Das letzte mit Félix Guattari zusammen verfasste Buch, "Was ist Philosophie?" (1991), bietet hier reichlich Anhaltspunkte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie darin eine dezidierte Erwiderung und Fortsetzung in Differenz von Gedanken Heideggers stattfindet: Vor allem betrifft das den Streit zwischen Welt und Erde aus dem Aufsatz "Der Ursprung des Kunstwerks" (1936; 1950). Die Kapitel vier und sieben aus "Was ist Philosophie?", obwohl sie auf den ersten Blick bezugslos erscheinen mögen, entwerfen zusammengelesen eine Erwiderung auf Heideggers so berühmten wie problematischen Anspruch an die Dichter, einem geschichtlichen Volk seine Welt zu eröffnen. Nach einer kurzen Wiedervergegenwärtigung der Grundlagen von Heideggers Überlegungen zur Kunst (II) und Deleuze' oft beiläufigen, aber in ihrer Kritik systematischen Bezugnahmen darauf (III) wird zu sehen sein, wie Deleuze und Guattari in ihrer Philosophie der (De-)Territorialisierung dabei nicht nur die Begriffe Welt und Erde verschieben: Die unerhörte evolutionäre Vordatierung eines Anfangs der Kunst beim Tier etwa entzieht Heideggers Kunstwerk-Aufsatz gezielt seine Basis; den Menschen, der dank seiner Sprache privilegiert im 'Offenen' steht und allein Welt besitzen soll (IV). Über die konkreten Konsequenzen und die manifeste Bedeutung dieser Substitution soll zum Ende nachgedacht werden (V).
Wie lässt sich die Dramenkonstellation bewerten und einordnen? Hat man es mit der "Melodramatik bizarrer Exaltationsakte" zu tun? Oder mit einem Fortschreiben von "Büchners Radikalisierungsprogramm der Sozialkritik"? Oder mit "Anklängen ans Schicksalsdrama"? In der Tat: Das Stück bezeugt ein Katastrophenwachstum, wirkt pantragisch. Dieser Einakter lebt von einer Dramaturgie, die schnörkellos ins Ziel geht. Von vorn herein ist das Stück fünfter Akt. Die Katastrophe, die soziale Katastrophe, scheint vorprogrammiert. Dabei fließen verschiedene Traditionsstränge ineinander. Motivgeschichtlich geht es um das Hiob-Motiv, um das des Bettlers, um Verkennung und Wiedererkennung, um einen Vater-Sohn Konflikt, um den 'unbekannten Gegner', um Geschwisterliebe. Literargeschichtlich kombiniert das Stück aufklärerische Ansätze einer Ästhetik des Hässlichen mit Ideen-, Sprach- und Pathoselementen des Sturm-und-Drang. Ebenso schließt es sich mit seinen pessimistischen Zuspitzungen an die Schauerromantik und die Neuerungen der Schicksalstragödie an. Ebenso klingt ein Byron'scher wie jungdeutscher Zerrissenheits- und Rebellionsgestus an. Sozialgeschichtlich gesehen, bildet die 'soziale Frage' den inhaltlichen Kern. Was schauerdramatisch stilisiert wirkt, ist realistisch. Das Stück erweist sich bis in konkrete vermeintlich schauerdramatische Details hinein als ungeschminkte Sozialchronik und packende Sozialanklage gleichermaßen.[...] Die Tendenz des Stücks ist sozialkritisch und kirchenkritisch - und es zeigt unverkennbar Tendenzen von religiös-christlicher Weltverneinung. Diese Weltverneinung ist aber keine traditionell-pietistische, die erstens weiß, dass in jedem Fall eine schönere und bessere Welt wartet, und zweitens mit dem Verweis auf das bessere Jenseits das weniger bessere Diesseits stets noch zu meistern vermag. Sie basiert nicht auf der Intensivierung angelernter christlicher Gewissheiten, sondern auf dem Wanken dieser Gewissheiten. Es ist eine moderne, eine existentialistisch anmutende Weltverneinung. Nicht weil das Jenseits und weil das Gottesreich so verlockend wären, erscheinen sie als einziger Ausweg. Sie erscheinen als einziger Ausweg allein deshalb, weil das Irdische grundsätzlich pervertiert ist. In dieser Diagnose der Verderbtheit des Irdischen überschneiden sich, so scheint es, mindestens drei verschiedene Diskurse: erstens ein anthropologisch-geschichtstheoretischer Sündenfalldiskurs, der die menschliche Geschichte per se als Abweg vom göttlichen Schöpfungsplan ansieht, zweitens ein anti-institutioneller und staats- und kirchenkritischer, der wahre Moral und wahre Religion den pervertierten Institutionen von Staat und Kirche entgegensetzt, und drittens ein sozialkritischer, der Armut und Elend der Moderne vehement anprangert. Ob dieses soziale Elend von Wiese in gewisser Weise effektvoll funktionalisiert wird oder ob es tatsächlich Movens seines Einakters war, ist schwer auszumitteln. In jedem Fall wird sein Sozialdrama situiert in einem Geflecht religiöser Verstörung. Denn mit dem Zweifel an dem Irdischen wächst der am Überirdischen. Die Akteure, geworfen in Grenzsituationen wie Krankheit, Schuld und Tod, stellen auf ihre Weise Sinnfragen höchsten Ranges. Antworten finden sie nicht, und es bleibt bei wachsender Skepsis, gar Angst und Verzweiflung.
Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf "erstaunliche Parallelen" zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den "gegenwärtigen Entwicklungen". [...] Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht "um den Preis der Enthistorisierung" allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide.
Der Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde von den Zeitgenoss*innen als markante Epochenwende erfahren. [...] Versteht man die Stil- und Kitschdiskurse um 1900 als aufeinander bezogen, erscheinen der "Wille nach Stil" und die Abwertung anderer ästhetischer Positionen als Kitsch allerdings nicht nur als Abgrenzungs- und Distinktionsversuche, sondern auch als Krisenlösungsstrategien zur Bewältigung der einschneidenden gesellschaftlichen wie ästhetischen Veränderungsprozesse der Epochenwende.
One of the theoretical tensions that has arisen from Anthropocene studies is what Dipesh Chakrabarty has called the 'two figures of the human', and the question of which of these two figures of the human inheres in the concept of the Anthropocene more. On the one hand, the Human is conceived as the universal reasoning subject upon whom political rights and equality are based, and on the other hand, humankind is the collection of all individuals of our species, with all of the inequalities, differences, and variability inherent in any species category. This chapter takes up Deborah Coen's argument that Chakrabarty's claim of the 'incommensurability' of these two figures of the human ignores the way both were constructed within debates over how to relate local geophysical specificities to theoretical generalities. This chapter examines two cases in the history of science. The first is Martin Rudwick's historical exploration of how geologists slowly gained the ability to use fossils and highly local stratigraphic surveys to reconstruct the history of the Earth in deep time, rather than resort to speculative cosmological theory. The second is Coen's own history of imperial, Austrian climate science, a case where early nineteenth-century assumptions about the capriciousness of the weather gave way to theories of climate informed by thermodynamics and large-scale data collection.
Die Habsburgermonarchie lässt sich von heute aus betrachtet als transnationales Projekt begreifen, das mit seinen Vorzügen, aber auch mit seinen Problemen vielfach an die EU erinnert. Im "Mann ohne Eigenschaften", der am Vorabend des Habsburgerreiches spielt, genauer: im zweiten Teil des Romans, "Seinesgleichen geschieht", wird die letztlich gescheiterte Suche nach einer verbindenden transnationalen Idee - jenseits der Akzeptanz eines gemeinsamen Monarchen - geschildert. Unter anderem hieran knüpft Menasse in seinem Roman an und transponiert damit - so die These der vorliegenden Untersuchung - Musils Roman auf die Ebene der EU, so dass sich Menasses Roman als 'Mann ohne Eigenschaften 2.0' apostrophieren lässt. Dies scheinen auf den ersten Blick auch die deutlichen Verweise auf den "Mann ohne Eigenschaften" in der "Hauptstadt" besagen zu wollen: So wird nicht nur das Werk mehrmals ausdrücklich genannt, sondern auch dessen berühmte Eröffnungspassage parodiert. Das allzu Offensichtliche des Bezuges wie auch die Komik, die mit im Spiel ist, suggerieren dem Leser leicht fehlende Tiefe. Diese Spur soll hier jedoch ernstgenommen werden; im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Bezüge auf Musils Hauptwerk bei Menasse in ihrer Tiefe auszuloten. Zunächst werden die Parallelen zwischen der musilschen "Parallelaktion" und dem "Jubilee Project" in der "Hauptstadt" untersucht. Danach soll den Spuren von Musils Unterscheidung zwischen "Wirklichkeitssinn" und "Möglichkeitssinn" und damit dem Utopischen als einer den Zeitgeist transzendierenden Kraft in der "Hauptstadt" nachgegangen werden. Abschließend treten Prolog und Epilog in den Fokus der Untersuchung und es wird versucht zu klären, was es mit dem rätselhaften Schwein dort auf sich hat.
This chapter explores the intrinsic relationship between weather/weathering and the imaginary of the sea, which features in the work of artist Arthur Bispo do Rosário. Bispo was a black man who spent most of his life in psychiatric institutions. There is an important interplay between his psychotic deliriums and the production of hundreds of objects, many of them ships or forms that relate to the sea. These objects open up a discussion on decoloniality as they are embedded with marks left by the transatlantic slave trade.
The resistance of aesthetics consists in the mode of experience that art affords, which promotes individual consciousness and political awareness by exploding the dualisms with which we tend to simplify things: centralization and decentralization, totality and fragmentation, communism and neoliberal capitalism, dictatorship and democracy. Although the formal complexity and ambiguous compositions met in works by the likes of Picasso, Woolf, and Schönberg most obviously support this sort of experience, it can be drawn out of all art to various degrees. Indeed, what distinguishes these modernists from the artists who came before and after them is how they set aesthetic experience as the aim of artistic production. But no work of art can be reduced either to the whole or to the sum of its parts; either to systematicity or to formlessness. Strictly speaking, the opposing ideals of classical and critical aesthetics are not two distinct aesthetic positions, but the theoretical limits between which art unfolds. By analogy, totalitarian governance and social atomism are not oppositional political materializations, but the two extremes at which politics ends.
Radiating exposures
(2020)
The brief explorations of radiation exposures presented within this essay draw primarily from nuclear art and culture and contribute to the field of nuclear aesthetics, which has long been fixated on the problem of visibility and the representation of nuclear residues. The examples draw primarily from photographic technologies and other aesthetic registers that capture visual residues of radiation. The challenges of nuclear aesthetics are also political and social. This constellation of objects and inquiries is meant to explore the fraught political, environmental, and social relations between radiation, visibility, toxicity, through the concept of exposure. They offer feminist glimpses into other ways of thinking exposure, as it develops in relation to (often imperceptible) toxicity that is not inscribed into a logic that partitions the passive victim of suffering from some pure or unaffected subject. They are examples that are both forms of exposure specific to the nuclear while also, perhaps, helping to expose more nuanced and complex ways of understanding forms of exposure that extend beyond nuclearity.
Prophetische Politik
(2020)
"Prophetische Politik" verkündet während existentieller und politischer Krisen einen radikalen Wandel mithilfe religiöser Sprache. Der Begriff bringt zwei unterschiedliche semantische Felder zusammen. Zum einen das der Prophetie, die in allen Religionen durch Individuen repräsentiert wird, die man als Sprachrohr des Göttlichen betrachtet. Ob heidnisch oder monotheistisch, männlich oder weiblich, antik oder modern, Propheten sind immer Lehrer und Kritiker, mahnend und scheltend. Nie schrecken sie davor zurück, ihre Meinung zu äußern, auch nicht in Lebensgefahr. Das zweite Feld ist das der Politik: Ausgehend von der Idee der polis und der politeia steht die Politik seit Thomas Hobbes für die staatliche Beziehung zwischen Volk und Souverän, für ein vereinigendes Zwangsverhältnis, das die Angst und den Krieg "aller gegen alle" im "Naturzustand" überwindet. Indem sie den Mächtigen die Wahrheit sagt, markiert prophetische Politik Momente der Überschneidung dieser Semantiken. Sie schöpft ihre Legitimität aus einer höheren Macht - sei es die Wahrheit oder göttliche Autorität. In Krisenzeiten wagen es die Propheten, auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und neue, radikale Wege zu verkünden. Mag prophetische Politik heute auch anachronistisch erscheinen, so hat sie das revolutionäre Potential ihrer langen und wechselhaften Geschichte keineswegs eingebüßt.