CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Seit mehreren Jahren ist in der Literaturwissenschaft die Rezeption und Adaption evolutionsbiologischer Ansätze en vogue. Eine wichtige These dieser Richtung besagt, dass Produktion und Rezeption von Literatur und ästhetische Erfahrung auf biologisch begründeten anthropologischen Konstanten beruhen. In diesem Beitrag wird der evolutionsbiologische Ansatz in der germanistischen Literaturwissenschaft dargestellt und eine kritische Analyse einiger Adaptionen geliefert. Die Besonderheit der germanistischen 'evolutionsbiologischen' Theoriebildung wird in Zusammenhang mit der jüngeren Geschichte der Disziplin gestellt und es wird gefragt, wieweit der Zugriff auf naturwissenschaftliche Konzeptionen eine Reaktion auf die Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz von Literaturwissenschaft ist.
Schnittstellen zwischen Chaostheorie, soziologischer Systemtheorie und empirischer Literaturtheorie
(2009)
Dieser Beitrag präsentiert einige Berührungs- und Abstoßungspunkte von Theorieansätzen, die von konstruktivistischen Prämissen geleiteten sind und der chaostheoretischen Literaturwissenschaft, wie sie sich in den vergangenen zwanzig Jahren in ihrer Praxis darstellt. Ich gehe in meinen Ausführungen davon aus, dass die Überschneidungen, insbesondere in Hinblick auf die Theorieimporte und -anklänge aus den Naturwissenschaften und der Soziologie, aus kulturanalytischer Perspektive von Bedeutung sind. An ihnen ist zu beobachten, in welchem Maß Objektbereich und Disziplin (Literatur und Literaturwissenschaft) zu Instrumenten kultureller Selbstbeobachtung und Selbstvergewisserung werden.
"Marie von Ebner-Eschenbach. Básnířka tří staletí / Dichterin dreier Jahrhunderte 1830 - 1916 - 2016". Internationale Tagung in Brno, 21.-23. April 2016
Über Fächer-, Sprach- und Landesgrenzen hinweg wurde bei der Konferenz Marie von Ebner-Eschenbach. Básnířka tři staletí/ Dichterin dreier Jahrhunderte (1830 - 1916 - 2016) in Brno (Brünn) vom 21. bis zum 23. April 2016 das Leben und Werk der in Mähren geborenen österreichischen Schriftstellerin beleuchtet. Vom sozialhistorischen Ansatz über die Werkanalyse bis hin zur Präsentation der Tagebücher war die Konferenz eine vielfältige Demonstration des regen Interesses an dem Forschungsgegenstand.
In dieser Arbeit wird der Interrelation zwischen kulturellen, kognitiven und kommunikativ-sprachlichen Phänomenen nachgegangen. Kulturelles prägt nicht nur das enzyklopädische Weltwissen, sondern beeinflusst auch die Sprache als System und den Sprachgebrauch. Kulturelles Wissen manifestiert sich in den Bedeutungen bestimmter Lexeme, in kulturgeprägten Weltwissensrepräsentationen, als Handlungsmusterwissen und Verhaltensstereotypkenntnis, sowie in Präferenzen für die Selektion, Anordnung und Kombination von sprachlichen Systemelementen lexikalischer wie morphosyntaktischer Art zu Textsortenexemplaren. Die der Übersetzungstätigkeit daraus erwachsenden Schwierigkeiten werden differenziert durchleuchtet.
Wenige Themen haben die Germanistik in jüngster Zeit so beschäftigt wie das Verhältnis von Bibel und Literatur. Für die Auseinandersetzung mit den Texten des deutschen Barock – so könnte man meinen – bietet diese Diskussion wenig Innovationspotential, ist auf deren religiöse Verankerung doch stets verwiesen worden: "Barockdichtung", so fasst es Erich Trunz zusammen, "gehört zu einer noch fraglos christlichen Welt: sie weiß sich zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht, denkt den Himmel über sich und die Hölle unter sich. Das gibt ihr große Themen." Aber die in den letzten Jahren zum Thema erschienenen Untersuchungen fragen weniger nach den 'großen Themen', sondern verschieben die Perspektive: Sie problematisieren die Konstituierung des literaturwissenschaftlichen Gegenstandbereichs entlang der Differenzlinie 'ästhetisch vs. religiös', fragen nach der literarischen Faktur biblischer Texte, aber auch danach, wie das Verhältnis von Bibel und Literatur theoretisch gefasst, mit welchem Modell dieser komplexe Austausch umschrieben werden kann.
Vor diesem Hintergrund nun soll ein – dieser verschobenen Perspektive verpflichteter – Blick auf die Sonn- und Feiertagssonette des Andreas Gryphius geworfen werden. Die vorgegebene Kürze des Beitrages fordert dabei eine Fokussierung: Untersucht wird zunächst, wie über literarische Autorschaft vor der Folie des biblischen Textes in einem der Gründungstexte der deutschsprachigen Perikopenlyrik und in zwei programmatischen Texten Gryphius' reflektiert wird. Anschließend soll der Versuch unternommen werden, in konkreter Auseinandersetzung mit dem Sonett vom Sontag des schlummernden Helffers einige Facetten des Bezuges der Gryphius’schen Gedichte auf den biblischen Text und dessen Auslegungstraditionen zu skizzieren.
Ausgehend von Benjamins Analogie von Nervenbahn und elektrischer Leitung konzentriert sich der Beitrag auf eine der wichtigen Fragen, die im "Passagen-Werk" behandelt werden, nämlich ob mit der modernen Technik eine Verbindung von organischer und technischer Sphäre vorliegt oder ob die Technik vielmehr als eine denaturierte Natur anzusehen ist. Um diesem Aspekt nachzugehen und die Besonderheit von Benjamins technikphilosophischen Reflexionen herauszustellen, vergleicht Wolfsteiner sie mit Hannah Arendts Handlungstheorie und Max Benses Entwurf einer informationstheoretischen Ästhetik. Die Aktualität von Benjamins Techniktheorie wird abschließend anhand der Science and Technology Studies (STS) in der Nachfolge Bruno Latours und der technikphilosophischen Schriften Gilbert Simondons erörtert.
Die Nibelungenparodie, die, soweit uns bekannt ist, zuvor noch nicht publiziert wurde, ist in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse: zum einen als ein literarisches Debüt einer weiblichen Autorin und angehenden jungen Wissenschaftlerin Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, zum anderen als interessantes und aufschlussreiches Zeitzeugnis. So finden sich an mehreren Stellen Anzeichen einer Ironisierung des heroischen Männlichkeitsideals der Nibelungen und einer Entlarvung des germanischen Heldentums, parodistische Akzente, die zur aufkommenden Rassenideologie um 1930 markant quer liegen. Zugleich werden in augenzwinkernder Kontaktaufnahme mit dem Zuschauer bzw. Leser Elemente aus dem damaligen studentischen Leben wie der Besuch des Kleist-Seminars oder die beliebte Freizeitgestaltung mit Paddelbootausflügen auf der Lahn integriert, die einen Einblick in das damalige studentische Leben bieten. Im Text fungieren sie zudem als humoristische anachronistische Momente, die immer wieder zum Schmunzeln verführen. Darüber hinaus erweist sich die Nibelungenparodie als ein dichtes intertextuelles Gewebe mit zahlreichen Anspielungen, versteckten intertextuellen Referenzen und wörtlichen Zitaten aus den Opern Richard Wagners sowie Werken von Heinrich von Kleist, Adelbert von Chamisso und anderen Vertretern der klassisch-romantischen Tradition.
Das wissenschaftliche Interesse auf dem Feld der Komparatistik ist in den letzten Jahren in der Türkei – auch dank wachsender Institutionalisierung des Fachgebietes – stark gestiegen. Ein Kennzeichen dafür ist der V. Internationale Kongress der Komparatistik. So treffen sich alle zwei Jahre Literaturwissenschaftler aus der ganzen Welt auf dem Internationalen Kongress der Komparatistik in der Türkei.
Schon die Überschrift dieses Berichtes führt in die Thematik der Tagung ein. Wie soll es möglich sein, fünfzig Beiträge in einen knappen Report zu fassen? Die Struktur könnte einer Bildergalerie gleich sein, bei der es eine Gesamtwahrnehmung gibt, und dann wird das Spotlight fokussiert und die Vorhänge der persönlichen Vorlieben beiseite gezogen. Das Genre des Tagungsberichtes würde dann selbst zur Verschleierung werden, indem es die Beiträge vorsortierte, den Eröffnungsabend wichtiger machte als den Rest, die Vorträge über die Diskussionen und Pausengespräche erheben und eine definierende kanonische Lesart der Tagung vortragen würde. Stattdessen bemühen wir uns im Folgenden, zwei Blickwinkel auf die Tagung miteinander zu korrelieren, um so eine Verblendung unserer subjektiven Erfahrungen anzubieten.
Der Beitrag untersucht die für den Protagonisten Dr. Franz von Stern vorherrschenden (Un-)Möglichkeiten des Erinnerns in Angelika Meiers dystopischem Klinikroman "Heimlich, heimlich mich vergiss". Dabei wird argumentiert, dass der Subjektstatus des Protagonisten verloren gegangen ist, weil durch die Technisierung des Körpers und Geistes des Arztes Erinnerungen ausgelöscht wurden und dadurch ein fehlendes Bewusstsein für die eigene Geschichte entstanden ist. Der Beitrag zeigt, dass das vergangene Handeln erinnert und das zukünftige reflektiert werden muss, um Einfluss auf die Zukunft nehmen zu können. In diesem Zusammenhang werden die im Roman aufgenommenen und kritisierten gesellschaftlichen Entwicklungen der Selbstoptimierung, des Gesundheitsdispositivs und des problematischen Verhältnisses von Arbeit und Leben diskutiert. Es wird veranschaulicht, wie Meier mit ihrer Dystopie die Leser:innen dazu zwingt, innezuhalten und über ihre, die Zukunft mitprägende, Gegenwart zu reflektieren.
Monologic dialogues and dialogue structures in Wedekind's 'Frühlings Erwachen' A drama presents a plot which is constituted through dialogues between the characters. This article therefore attempts to explore several instances of dialogue from Wedekind's 'Frühlings Erwachen' by conversationalanalytical means; such an approach facilitates a clear description of the characters' failures in their interactions. This in turn reveals the specific features of literary dialogues from this period, which are constituted in writing and thus precisely planned; an author not only imitates acts and actors via a play's dialogues, but fundamentally creates and moulds the characters through dialogue.
In Musils essayistischem Erzählstil hat die Erzählinstanz - mehr noch als direkte oder indirekte Figurenrede und Bewusstseinsdarstellung in Form von innerem Monolog oder erlebter Rede - tragenden Anteil an der erzählerischen Figurencharakterisierung. Wie Gunther Martens in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse des "Mann ohne Eigenschaften unlängst gezeigt hat", existieren "bei Musil sehr viele erklärende Hinweise auf das Ungewusste und das Unbewusste der Figuren, wobei es sich eher um ein soziales als um ein psychologisches Unbewusstes handelt." Die im Folgenden unternommene Sozioanalyse der in ihrer Relevanz für den gesamten romanesken Handlungsaufbau bisher meist unterschätzten Figur des Generals Stumm von Bordwehr kann über weite Strecken direkt auf die Bemerkungen der Erzählinstanz zurückgreifen und die erhaltenen Informationen durch eine angemessene Berücksichtigung indirekter Charakterisierungsformen sinnvoll ergänzen, denn "Musil charakterisiert seine Nebenfiguren vor allem über ihre unfreiwilligen Tics, Reflexe und Gewohnheiten." [...] Aus den Überlegungen sollte insgesamt Folgendes ersichtlich werden: Die umsichtige literarische Gestaltung eines "zivilen Habitus" sowie das damit einhergehende tölpelhafte Auftreten des "unmilitärischen" Generals, der als Vertreter der "Pastoralmacht" im Romankontext eine figurale Verkörperung des "strukturellen Herrschaftsmodus" der Moderne darstellt, ermöglichen Stumm von Bordwehrs Funktion als "tätiges Werkzeug" des kakanischen Militarismus bzw. als Vertreter der "auf den Krieg hinarbeitenden gesellschaftlichen Kräfte". Mit dieser subtilen literarischen Habitusformung gelingt Musil nicht nur eine erzählerisch überzeugende Motivierung des geplanten romanesken Handlungsverlaufs, sondern zudem eine bestechende Analyse entscheidender sozialer Entwicklungstendenzen des 20. Jahrhunderts.
Mystische Blendung : zu Gustav Theodor Fechners Selbstversuchen und seinem panpsychistischen System
(2005)
Vielleicht könnte man behaupten, daß im Fall Fechner die humanwissenschaftliche Erkenntnisbeziehung modellhaft zum Vorschein kommt, modellhaft nämlich in ihrer, wie Michel Foucault sagt, doppelten Qualität, "gleichzeitig gefährlich und gefährdet" zu sein, und in ihrer Eigenart, den Menschen als ihre Möglichkeitsbedingung und ihren positiven Gegenstand auszuzeichnen, als "Subject und Object der inneren Erfahrung zugleich", wie es in den Elementen der Psychophysik (1860) heißt. Fechner entwickelte als erblindeter Selbstbeobachter nicht nur eine Theorie über die Blindheit als solche, sondern über die an und für sich: die Blindheit des Sehens für seine eigenen Möglichkeitsbedingungen, die eine Blindheit des denkenden Ichs beim Denken seiner selbst vorstellt. Dem Auge, das ohne Vermittlung oder prothetische Unterstützung sich selbst nicht erblicken kann, kommt hierfür in doppelter Hinsicht eine Schlüsselfunktion zu. Denn was sowohl dem anschaulichen als auch dem begrifflichen Denken undenkbar bleiben muß, obschon es erkannt werden soll, wird zu einem Gegenstand von Dichtung oder Experimentalwissenschaft.
Die Vorstellung vom Sehen als körperinnerem, kognitivem Prozess erlaubte es zum einen die Außenwelt als von der Wahrnehmung unabhängig und damit Geister als existent zu imaginieren. Zum anderen löste sie literarische Suchbewegungen nach dem Möglichkeitsspektrum des Sehens aus, wie die Robert Musils in den 1910er Jahren. Burkhardt Wolf beschreibt dessen literarische Experimente als Fortsetzungen seiner experimentalpsychologischen Sehversuche: In "Monsieur le Vivisecteur" befasst er sich damit, wie man die vorschnellen Assoziationen des Auges zügeln könne; in der Novellensammlung "Drei Frauen" ging es ihm um Störungen des Funktionsfeldes von Wahrnehmung, Gefühl und Weltbezug. Für beide Auseinandersetzungen mit dem Sehen im Text waren Musils Wahrnehmungsversuche am Tachistoskop entscheidend. Insbesondere der Text "Das Fliegenpapier" lässt erkennen, wie sehr der Impuls für Musils Schreiben in der Störung des Sehens lag. Seine Texte können somit, so Wolf, als fiktionale Sehversuche, als Experimentalanordnungen des Sehens aufgefasst werden.
Die Geschichte der Folter und die der Märtyrer, das zeigt nicht erst Gallonio, gehen Hand in Hand. Bereits im Mittelalter bezeichnete 'cruciatus' auch die Folter und die Pein, ebenso wie das mhd. 'Marter' aus dem Leiden Christi über das Blutzeugnis die Bedeutung Folter entwickelt hat. Rein begrifflich landeten somit die Passion und das Martyrium wieder dort, wo sie ihren Ausgang genommen hatten: in der Geschichte des Rechts und seiner Zeugen. Im Martyrium ist immer schon ein gewisser Juridismus am Werk: Es beginnt mit einer Konfrontation vor Gericht, vollzieht sich in einer spezifischen Verbindung von Zwang und Zeugenschaft und bezeugt zuletzt, in seiner eschatologischen Dimension, die Hoffnung auf eine weltgeschichtliche Wiederherstellung des Rechts. Vergleichbar aber sind Folter und Martyrium auch darin, dass sie beide 'diskursive Praktiken' im strengen Sinn darstellen: Beide bestehen in einem Sprechakt, der durch einen Akt körperlicher Gewalt beglaubigt werden muss. Erst unter der Folter kommt das Bekenntnis oder Geständnis ganz zu sich, und so sehr die Marter und das Martyrium gerade über die sprachlose Evidenz der Schmerzen 'sprechen' machen, so sehr produzieren sie weitere Diskurse: Zuvorderst entstehen Protokolle der peinlichen Befragung oder des Bekenntnisses; und zuletzt wird ein rechtsgültiges Urteil oder aber die kanonische Beurteilung darüber zu den Akten genommen, ob es sich um einen Pseudomärtyrer, um ein gescheitertes Martyrium oder um einen wahren Blutzeugen gehandelt hat. In beiden Fällen sind es Schmerzen oder Leiden, die positiviert und - nach Maßgabe einer weltlichen oder geistlichen Macht - in einer Wahrheit aufgehoben werden. Somit ist selbst jene Selbstautorisierung, die die 'confessores' der ersten Stunde auszeichnet, nur von Gnaden einer Diskursgewalt, welche rechtsgültige Verbrecher 'ex post' in Leidende ('pathontes') und diese in Zeugen ('martyres') verwandelt. Im Archiv der Märtyrer lässt sich dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Diskurspraktiken schon am Grundstock der frühchristlichen Märtyrerakten studieren: Zuweilen als Briefe verfasst und als solche an die gesamte expandierende Christenheit adressiert, vermischen sie Augenzeugenberichte und Dokumente, Urkunden und Fälschungen, Glaubensunterweisungen und Erzählungen, Protokolle und authentische Textzeugen. Stets präsentieren sie eine juristische Fallgeschichte und statuieren aus ihr ein heilsgeschichtliches Exempel. Als Gallonios Kollegen an der Wende zum 17. Jahrhundert die Märtyrerakten historisch-kritisch bearbeiteten, vereinigten sie die verstreuten Textzeugnisse und brachten die diskursive Ordnung der Blutzeugnisse auf den neuesten Stand. Martyrologie ist so gesehen immer auch eine fortlaufend aktualisierte Ableitung der Heils- aus der Rechtsgeschichte.
Der vorliegende Beitrag rekonstruiert anhand eines bisher in der Forschung kaum beachteten Textes Schernikaus den Weg, den dieser geht, um mit ästhetischen Mitteln "die welt [zu] verändern". In seinem Theaterstück "Die Schönheit", das im Dezember 1987 im Berliner SchwulenZentrum (SchwuZ) durch das Tuntenensemble "Ladies Neid" uraufgeführt wurde, gibt schon der Titel die Frage nach der Ästhetik vor. Das Theaterstück "Die Schönheit" stellt die Frage nach Schernikaus schriftstellerischer Schönheit. Schernikaus Schönheit, das ist zu zeigen, ist nicht Zierrat für sein politisches Anliegen, sondern seine Schönheit ist selbst der Bereich, in dem "die welt veränder[t]" wird.
Der Beitrag untersucht die Poetik des anonymen um 1929 erschienenen pornografischen Lyrikbandes "Die braune Blume". Der Text wird im obszönen und pornografischen literarischen Diskurs kontextualisiert. Seine Poetik ist, wie die Analyse zeigt, von einer restriktiven ökonomischen Regel geleitet und von einer einzigen Metapher bestimmt. Im Rückgriff auf Slavoj Žižeks Identifizierung des MacGuffin von Hitchcock mit Lacans Objekt klein a wird die Metapher der braunen Blume als poetisches Floralobjekt gelesen
Stefan Zweig entwickelt in "Castellio gegen Calvin" (1936) die These, dass Machtformen, die Lebensprozesse mit Zwang regulieren und elementare Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken, Widerstände hervorrufen, die letztlich die Emanzipation und Entfaltung des Unterdrückten forcieren. Am Beispiel des Liberalismus ursprünglich autoritär geprägter calvinistischer Gesellschaften veranschaulicht der 1934 nach London emigrierte Autor die Dialektik von Unterdrückung und deren Überwindung. Er thematisiert ein Verhältnis von Leben und Politik, das Michel Foucault mit dem Begriff der "Bio-Politik" bezeichnet. Dieser Begriff, der vor allem in jüngerer Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt, beschreibt eine spezielle Form politischer Herrschaft, die sich durch "verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerungen" kennzeichnet. Die Anwendung dieser 'biopolitischen' Disziplinierungstechniken bringt nach Foucault einen speziellen Machttyp, die "Bio-Macht", hervor, die sich zu einem Prinzip aller modernen Staaten entwickelt und somit nicht nur auf Extremfälle zu beschränken ist. [...] In diesem Beitrag soll untersucht werden, inwiefern Stefan Zweig in "Castellio gegen Calvin" anhand der Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats biopolitische Herrschaft thematisiert. Ausgehend von einigen Überlegungen zu dessen Komposition und der Schwierigkeit einer eindeutigen gattungstheoretischen Zuordnung wird Zweigs Darstellung von Calvins Herrschaft hinsichtlich der politischen Unterwerfung und Kontrolle des Lebens analysiert. Die Untersuchung schließt mit Blick auf den parabolischen Charakter des Textes, der eine Erklärung dafür bietet, warum Zweigs Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats aus dem 16. Jahrhundert Charakteristika eines Machttyps aufweist, der sich nach Foucault erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt.
Beinahe auf die Seite genau in der Mitte seines Aufsatzes Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Dichtung (1766) kommt Gotthold Ephraim Lessing auf den literarischen Stil der Evangelien zu sprechen. In einer höchst verdichteten Passage vergleicht er die Beschreibung der Leiden Christi mit John Miltons Paradise Lost (1667). Die Art und Weise wie Lessing die beiden bedeutenden Textkorpora ins Verhältnis setzt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen lässt sich die Passage vor dem Hintergrund von Lessings grundsätzlicher Einstellung zu biblischen Texten lesen, wie er sie ausdrücklicher in seinen theologisch orientierten Schriften formuliert. Bedenkt man jedoch den Kontext der Gegenüberstellung innerhalb des Laokoon, d. h. innerhalb einer in erster Linie poetologischen Debatte, so eröffnet sich eine erweiterte Sichtweise. Über den Status der Heiligen Schrift in der christlichen Glaubenspraxis hinaus, ergeben sich Hinweise darauf, wie Lessing das Verhältnis zwischen Poesie und den verschiedenen biblischen Texten einschätzte. Zudem ließe sich aus der genannten Passage auf Lessings Verständnis von der literarischen Verarbeitung biblischer Stoffe sowie letztlich auch darauf schließen, welche Funktion Lessing literarischen Werken in der Glaubensvermittlung zuschreibt.
In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war, radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Zugleich scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren. Dieser Doppelstrebigkeit wird im Folgenden unter dem Leitbegriff des Rätsels nachgegangen. Letzterer lässt sich hierbei auf seinen zweifachen altgriechischen Ursprung zurückführen, auf 'griphos' ('Fischernetz, Schlinge': Ratespiel) und 'ainigma' ('dunkle Andeutung': das Rätselhafte). Das Rätsel wird in der Theologie seit jeher - in der Philosophie vermehrt in der Moderne – mit dem Gesicht (in seiner Doppeldeutigkeit von gesehenem und sehendem Gesicht) assoziiert, dessen Les- und Lösbarkeit es einer hermeneutischen Bewährungsprobe unterzieht. An zwei philosophischen Werken soll in einem ersten Schritt dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Lösungsbewegungen von Auflösung und Erlösung nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches 'Also sprach Zarathustra' (1883–1885) und Franz Rosenzweigs 'Stern der Erlösung' (1921) sowie seinen "nachträgliche[n] Bemerkungen" hierzu in "Das neue Denken" (1925).
Ein blinder Fleck mag eine vereinzelte Fehlerquelle sein: ein weißer Fleck auf einer sonst gut kartographierten Fläche. Der blinde Fleck, mit dem es Christa Wolf zu tun hat, ist eher Teil und Makel der menschlichen Konstitution. Zu nahe(liegend), um in unseren Blickkreis treten zu können, gehört er der Anatomie unseres Wissens und Unwissens an; und was es mit diesem 'unser' und 'Un'- auf sich hat, liegt ebenfalls im Dunkeln. Wüssten wir, was und wo er ist, wäre er - wären wir - nicht mehr blind. Nicht, dass er uns ganz so unzugänglich ist wie Kants Ding an sich; er ist vielmehr 'an und für uns' da. Dank vor allem der breiten Rezeption der Psychoanalyse ist er uns, zumindest als Redensart, geläufig. Inwieweit er sich aufklären lässt, steht auf einem anderen Blatt. Dessen Erforschung stellt eine unabschließbare Aufgabe im Sinne von Freuds "unendlicher Analyse" dar. Als literarische Erbin deutsch-protestantischer Seelenprüfung ist Christa Wolf dieser 'Berufspflicht' beharrlich nachgegangen. Oder besser: sie wurde von ihr umgetrieben. Denn ihre Arbeit am blinden Fleck ist immer zugleich die daes blinden Flecks gewesen. Daher die böse Erfahrung, die sie eines Tages mit ihm machen sollte. Trotz einer jahrzehntelang geübten Gewissensforschung, die den Verhören der Stasi in nichts nachstand, stieß sie in deren Archiven eines Tages auf einen eigenen blinden Fleck. Und zwar einen, den sie am allerwenigsten an sich dulden konnte. Für solche Begegnungen hat Freud die Begriffe des "Unheimlichen" und der "Nachträglichkeit" geprägt. Es geht dabei immer um die "Arbeit" des Unbewussten.
Der Beitrag untersucht anhand von Amazon-Kundenrezensionen zu Werken Judith Hermanns die Beweggründe für deren Verwendung. Dabei wird ersichtlich, dass eine Abgrenzung zur professionellen Literaturkritik vorhanden ist und durch mindestens sechs folgende Gründe ergänzt werden muss: (1.) virtuelle Hilfsbereitschaft, (2.) Nacherzählung des Inhalts, (3.) Wertung und Kaufempfehlung, (4.) Beschreibung des Lektüreprozesses mit Empfehlung für Art und Weise des Lesens, (5.) Kommunikationsmittel zwischen Kunden und Autorin sowie (6.) vernichtender Umgang mit Hörbüchern.
Zur Forschungs- und Quellenlage, S. 2 Lesefähigkeit, S. 6 Alphabetismus und Schule, S. 6 Exkurs: Die Schulbildung in Est- und Livland, S. 9 Erwachsenenbildung, S.151 Lesemöglichkeiten, S. 11 Die Stellung der Obrigkeit, S. 11 Die Volksaufklärer, S. 15 Zur Distribution aufklärerischer Volksliteratur, S. 20 Lesebereitschaft und –Bedürfnis, S. 24 Soziale Situation der Landbevölkerung, S. 24 Zur psychischen Struktur des Bauern, S. 26 Zum bäuerlichen Erwartungshorizont, S. 29 Die bäuerliche Lektüre, S. 34 Das Vorlesen, S. 35 Neue Tendenzen am Jahrhundertende, S. 36 Industrialisierung und Pauperisierung, S. 36 Der Schock der Revolution, S. 39 Anmerkungen, S. 44 Literaturverzeichnis, S. 53
Traditional philology in Japan (kokubungaku) is often described, both at home and abroad, as having a phobia of theory. The literary scholar often speaks the same language as the poet, and in many cases, as in the second edition of Iwanami Literary Studies (Iwanami Kōza Bungaku, 1975–1976), they are one and the same person. However, a closer look at Japanese literary studies since the translation of Eagleton´s Literary Theory in 1985 reveals that this paradigm has already started to shift. The publication of the third edition of Iwanami Literary Studies, and in particular the supplement Literary Theory (Bungaku Riron, 2004) distinctly reflects this shift, at least among the younger generation of literary scholars. In my paper I will show not only the shift to theory in recent Japanese literary studies, but also that theory itself (as it is used in Japan) has experienced that worldwide movement described as the “cultural turn.” In order to prove this observation I will take a closer look at the contemporary English, German and Japanese discourse on literary theory and, in particular concepts such as contingency, (new) contextuality, and culturalism.
In trying to study the idea of landscape (fukei) in Japanese waka-poetry, one may find oneself confronted with a great variety of concepts. All of these share commonalities in that they are not at all defined, that their meaning depends on personal usage (at the level of the producer, as well as of the researcher who often speaks the same language), and that they can be understood on a wide spectrum between the two extreme positions marked by fiction and reality (without, of course, any scientific concept about what fiction and reality might be). Although European traditions are coping with the concept of landscape in an aesthetical and philosophical way, there is no such comparable tradition in traditional Japanese literary history (kokubungaku). Because of this, there is no satisfactory way to conceptually understand waka-landscape, since the very basic key-term itself is not mutually accessible. European and Japanese concepts of landscape may not, therefore, be able to be brought together. To have an international scientific discussion on landscape (found in every culture historically and up to the present), it is necessary to develop a concept of landscape which is not only an issue of arts, aesthetics or philosophy, but also the subject of anthropological approaches and cultural studies. In this paper, I attempt to develop a concept of landscape, which is based on constructivism and the psychology of perception and memory. I will also show how constructivist thought has gained great popularity in German social and cultural studies.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Wir möchten im folgenden den Versuch unternehmen, das zu skizzieren, was wir die 'philologische Frage' nennen. Darunter verstehen wir die Frage nach dem epistemischen Status philologischer Theorie und der daraus resultierenden Praxis: Auf welche philologischen Traditionen und theoretischen Prämissen nehmen die hier versammelten Texte Bezug, in welchem Kontext stehen sie? Auf welche Ziele wird die philologische Tätigkeit hin ausgerichtet – wie wird das 'Erkenntnisinteresse' der Philologie definiert? Welches Autorschaftskonzept und welches Textverständnis werden zugrunde gelegt? Der Ausgangspunkt all dieser Fragen ist die etymologische Bedeutung des Begriffs „philologia“, gefasst als 'Liebe zum Wort'. Der Philologe ist demgemäß ein Wort-Liebhaber. Doch was heißt hier 'Liebe'? Und was ist überhaupt ein Wort?
Unsere Ausgangsthese ist, dass sich die unterschiedlichen methodischen Zuspitzungen und Richtungswechsel, die die Philologie seit ihrer disziplinären Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert erlebt hat, als Parametrisierung des Verhältnisses von Konjektur und Krux beschreiben lassen. Anders gewendet: Konjektur und Krux markieren die Grenzen eines epistemischen Bezirks, der von unterschiedlichen philologischen Methodenpolitiken konfiguriert wird. Die sich daraus ergebende "disziplinäre Matrix" an Verfahrensweisen, die den Anspruch erheben, 'Methode' zu sein, hat insofern politischen Charakter als die Entscheidung für bzw. gegen eine bestimmte Verfahrensweise implizit oder explizit ein Interesse verfolgt, das in aller Regel über das Anliegen einer bloßen Textrekonstruktion entschieden hinausreicht: Es geht darum, die Bedingungen festzulegen, unter denen eine philologische Aussage als 'wissenschaftlich qualifiziert' gelten darf.
Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike […] Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. […] Im Folgenden möchte ich […] der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab? Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen? Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei?
Die Reflexion der Grenze zwischen Text und Nicht-Text findet zumeist ‚am Rahmen’, nämlich im Paratext, statt. Insbesondere die „Vorredenreflexion“ […] will bei den Lesern das „Fiktivitätsbewußtsein“ […] für den nachfolgenden Text wecken. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie dieses Grenzbewusstsein entsteht. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass Paratexte – vor allem Vorworte – einen Zugang zum Haupttext eröffnen, indem sie sich selbst als Übergangszone in Szene setzen: als Übergangszone, in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden. Die Rede vom Paratext als Übergangszone impliziert neben dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit auch eine Form der Bewegung, durch die diese Übergangszone überhaupt erst konstituiert wird. Es handelt sich […] um eine „Praktik im Raum“ […] durch die der Leser – die Leserin – den Weg aus der realen Lebenswelt in die fiktionale Welt des Textes finden soll. Dieses paratextuelle travelling möchte ich im Rekurs auf Jean Paul beschreiben – ein Schriftsteller, der wie kein anderer eine Vielzahl spielerischer Praktiken im paratextuellen Raum entwickelt hat. Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass Jean Paul mehr Wert auf seine Paratexte als auf seine Texte legt. Zugleich, und dies scheint mir für das Thema Raum und Bewegung in der Literatur interessant zu sein, fällt auf, dass Jean Paul im Rahmen seiner Paratexte ostentativ Raummetaphern bemüht.
Anrufbeantworter und Online-Chat sind zwei telekommunikative Phänomene unseres hoch-technisierten Alltags, die auf eigentümliche Weise zwischen Stimme und Schrift changieren. Der Anrufbeantworter dient – wie die Mailbox des Handys – der Aufzeichnung von gesprochenen, flüchtigen Äußerungen. Aufgrund ihrer Wiederholbarkeit gewinnen diese Äußerungen einen gewissen Schriftcharakter – sie befinden sich sozusagen im Übergang zwischen "medialer Mündlichkeit" und "konzeptioneller Schriftlichkeit". Der Online-Chat stellt das Komplementärphänomen zum Anrufbeantworter dar: Er ist eine Kommunikationsform zwischen vernetzten Computern, die schriftlich erfolgt, aber den Charakter von mündlichen Äußerungen hat, da die Kommunikation synchron verläuft. Der Online-Chat befindet sich so besehen im Übergang zwischen medialer Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit. Die Besonderheit von Anrufbeantworter und Online-Chat liegt aber nicht nur in der spezifischen Art, wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit interferieren, sondern darin, daß diese Interferenz unter dem Vorzeichen der Telekommunikation steht. Wodurch zeichnet sich Telekommunikation aus? Durch den wunderbaren Moment der Verbindung. Dieser Moment wird im folgenden der Bezugspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift sein.
Geht man davon aus, die Aufgabe der Philologie sei eine – wie auch immer geartete – »historische Textpflege«, die auf die »Ermittlung und Wiederherstellung von Texten« abzielt, dann steht die Aufgabe der Wiederherstellung in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Lesbarmachen und der Bewahrung eines Texts: In welchem Maße darf man in einen überlieferten Text eingreifen, um ihn lesbar zu machen? In welchem Maße muss man einen Text in seiner überlieferten Form bewahren? Die Formulierung ›in welchem Maße‹ macht deutlich, dass es sich um eine Frage der Angemessenheit handelt, deren Antwort zum einen davon abhängt, mit welchen Schwierigkeiten sich die Aufgabe der Wiederherstellung des Textes konfrontiert sieht, zum anderen von der gerade vorherrschenden ›Methodenpolitik‹, die gleichsam als »stilgemäßer Denkzwang« fungiert. Konjektur und Krux markieren dabei – so haben wir einleitend erklärt – zwei komplementäre Positionen, zwischen denen die Methodenpolitiken der Editionsphilologie changieren. Die Konjektur, gefasst als »plausible Vermutungen zur Verbesserung des Textes«, ist eine inferentielle Intervention, um einen lücken- oder fehlerhaften Text wieder herzustellen mit dem Ziel, ihn lesbar und verstehbar zu machen. Die Krux, gefasst als indizierte Nicht-Intervention, bewahrt den Text in seiner Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit – auch auf die Gefahr hin, dass Lesbarkeit und Verstehbarkeit darunter leiden.
Dilettantische Konjekturen
(2009)
»Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt«, schreibt Max Weber in […] »Wissenschaft als Beruf«, »sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.« […] Anstatt zu fragen, wann eine Erkenntnis als »wissenschaftlich qualifiziert« gelten kann […] beschreibt Weber die Einstellung […] des Wissenschaftlers […]: Ein leidenschaftliches Erkenntnisinteresse für seinen Untersuchungsgegenstand haben – ist das nicht genau die Haltung, die den Enthusiasten, den Liebhaber, den Amateur, sprich, den Dilettanten auszeichnet? […] Inwiefern kann Leidenschaft zum Beruf des Wissenschaftlers qualifizieren? […] »Nun ist es aber Tatsache: daß mit noch so viel von solcher Leidenschaft, so echt und tief sie sein mag, das Resultat sich noch lange nicht erzwingen läßt. Freilich ist sie eine Vorbedingung des Entscheidenden: der ›Eingebung‹«. […] Offenbar verwendet Weber die Formulierung ›Eingebung‹ synonym mit dem Begriff ›Einfall‹, dessen Resultat die ›Konjektur‹ ist. Im Anschluss an die beiden Zitate aus Webers Aufsatz stellt sich in meinen Augen nicht nur die Frage, welche Rolle die Leidenschaft für den berufenen Wissenschaftler spielt, sondern auch inwiefern der Umgang mit Konjekturen und Einfällen zugleich den Unterschied zwischen Fachmann und Dilettant markiert. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.
Seit einigen Jahren ist nicht nur eine Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang zu beobachten, sondern auch die stete Klage über Theoriemoden zu hören, die dazu führen, dass bestimmte Schlüsselbegriffe inflationär gebraucht – und damit gleichsam ver-braucht werden. Schlüsselbegriffe, die weniger für ein konzises Forschungsprogramm, sondern eher für ein Bündel von Herangehensweisen und Aufmerksamkeitsfokussierungen stehen: Zeichen, Diskurs, Differenz, System, Medium, Performanz, Körper, Materialität fungieren als "Travelling Concepts'', die den Prozess der Theoriebildung in Gang halten, dabei allerdings auch deutliche Verschleißspuren davontragen – so wie, um im Bild zu bleiben: der Reisekoffer. Freilich treten nicht nur Begriffe, sondern (Blumenberg lässt grüßen!) sehr häufig auch Metaphern die Reise auf den verschlungenen Wegen der Kulturforschung an. Diese Metaphern sind mehr als Vehikel, sie sind Motoren, genauer gesagt: Katalysatoren von Theoriebildungsprozessen, durch die sowohl Gegenstandsbereiche als auch Herangehensweisen (und damit verbunden: Fragestellungen) modelliert werden. Zwei dieser Metaphern möchte ich im folgenden Untersuchen: Hybridität und Aufpfropfung.
"Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte?", fragt Jacques Derrida in seinem 1972 erschienen Aufsatz 'Signature evenement contexte', um kurz darauf festzustellen: "Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen." Zitieren wird hier als eine Bewegung des Herausnehmens aus einem Kontext und Einfügens in einen anderen Kontext beschrieben - und für diese doppelte Geste, die dem Akt des Zitierens zugrunde liegt, verwendet Derrida die Metapher der Pfropfung: "Auf dieser Möglichkeit möchte ich bestehen", heißt es in 'Signatur Ereignis Kontext': der "Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens [greffe citationelle], die zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört". Damit wird die Pfropfung zu einer Figuration, zu einer Verkörperung dessen, was im Akt des Zitierens und durch den Akt des Zitierens geschieht, wobei den Anführungszeichen eine besondere Funktion zukommt: Sie signalisieren, dass das Zeichen oder die Zeichenkette, die zwischen Anführungszeichen gesetzt wurden, anders interpretiert werden soll als sie bisher interpretiert wurde. Anführungszeichen signalisieren also einen Wechsel des "Deutungsrahmens". Das gilt für einfache Anführungszeichen, die eine ironische Distanzierung signalisieren ebenso wie für die doppelten Anführungszeichen. Die doppelten Anführungszeichen zeigen nicht nur einen Wechsel des Deutungsrahmens an, sondern sie zeigen auch an, dass das, was zwischen die doppelten Anführungszeichen gesetzt wurde, nicht von dem stammt, der spricht oder schreibt. Sie zeigen ein 'von jemand anderem' an: sei es, um diesem anderen damit die Ehre der Urheberschaft zu geben und damit zugleich sein Copyright zu respektieren; sei es, um dem anderen die Verantwortung für das, was zwischen den Anführungszeichen steht, zuzuschreiben. Insofern zeigen doppelte Anführungszeichen zugleich die Distanz und die Differenz zwischen zitierendem Subjekt und zitiertem Subjekt an.
Im Folgenden möchte ich das gerade angedeutete Spannungsfeld zwischen Kopie und Original unter medien- und kulturhistorischen Vorzeichen thematisieren. Meine Hypothese ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem 'Copy and Paste' respektive 'Cut and Paste' als einer Strategie der Texterzeugung und der Kulturtechnik der Pfropfung: einem ursprünglich botanischen Verfahren, bei dem Praktiken des Schneidens, Klebens und Kopierens eine wesentliche Rolle spielen. Dabei möchte ich insbesondere zeigen, wie sich das 'Prinzip Pfropfung' in der Interaktion mit den 'Trägermedien' von Originalen und Kopien realisiert – vor allem mit Blick auf jene 'Papierpraktiken', die mit den Kunst-Strategien der klassischen 'Avantgarde'-Strategien reüssieren: der Collage, der Montage, der Assemblage; Praktiken, die, glaubt man Antoine Compagnon, Echos einer "geste archaïque du découper-coller" sind, die der Logik des 'Cut and Paste' folgen.
Den Romanen des "philosophischen Schriftstellers" Italo Calvino lassen sich grundlegende Fragen der zeitgenössischen Ästhetik entnehmen. Sie eröffnen einen Horizont, innerhalb dessen sich auch das theoretische und literarische CEuvre des "Roman-schreibenden Philosophen" Umberto Eco bewegt, ja es scheint fast, als befänden sich die Werke beider in einem Dialog. Jedes lebendige Kunstwerk ist, wie Eco betont, ein Kunstwerk in Bewegung, offen für neue interpretative und kommunikative Möglichkeiten sowie für neue Möglichkeiten des ästhetischen Genusses. Der Interpretationsprozeß gleicht einer Pendelbewegung zwischen der "Offenheit" der Rezeptionsmöglichkeiten und der "Geschlossenheit" bzw. Bestimmtheit des Werkes durch seine Struktur. Der Interpret steht demnach innerhalb einer nicht stillzustellenden Bewegung. in deren – immer erneut notwendigen – Nachvollzug er sowohl Erkenntnisse über die "kombinatorischen Möglichkeiten des Codes" gewinnt, als auch über "die Codes (...) einer bestimmten Periode der Kunstgeschichte." Daher ist es die Aufgabe der semiotischen Interpretation eines ästhetischen Textes, "das strukturierte Modell für einen unstrukturierten Prozeß eines kommunikativen Wechselspiels" zu liefern. Für Eco ist die Interpretation ein pragmatisch-hermeneutischer Prozeß, der im "Taumel der Möglichkeiten" bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten ausschließt und andere privilegiert. Ein "epochales" Kunstwerk ist nach Eco eine "epistemologische Metapher", es repräsentiert ein "diffuses theoretisches Bewußtsein", das von den wissenschaftlichen und ästhetischen Theorien seiner Zeit gespeist wird. Dies gilt in besonderem Maße für die Romane Calvinos und Ecos: Der "Held" ihrer Romane ist der Interpretationsprozeß im Spannungsfeld zwischen Autor, Text und Leser. Dabei geht es um die Frage: Wie wird sich der Interpret im Verlauf der Interpretation seiner Rolle als Interpret bewußt? Die Absicht Ecos und Calvinos ist eine aufklärerische: Sie wollen einen "neuen Leser" schaffen, der sich seiner Rolle als Leser bewußt ist und der die Verantwortung für seine Lektürekonzeption übernimmt. "Ein Text will für seinen Leser zu einem Erlebnis der Selbstveränderung werden".
Die Neuartigkeit des hier gewählten Ansatzes besteht darin, Komiktheorie, Wissenschaftslogik und Sprachphilosophie so aufeinander zu beziehen, daß die komische Abweichung als Resultat diskursiver Dummheit beschrieben werden kann. In diesem Zusammenhang soll die Entfaltung des Peirceschen Abduktionsbegriffs dazu dienen, die bei der "komischen Abweichung von der Norm" zusammenspielenden anthropologischen, kulturellen und diskursiven Theorien des Lachens und des Komischen unter einem einheitlichen systematischen Gesichtspunkt zu explizieren. Dies wirft insofern ein neues Licht auf die bisherigen Komiktheorien, als diese die komische Unangemessenheit in erster Linie als Abweichung von konventionalen Normen begriffen hatten, deren offensichtlichste Form die karnevaleske Verkehrung ist. Dagegen werde ich mit Blick auf die "Logik der Abduktion" zeigen, daß die komische Unangemessenheit als karnevalisierende Verkehrung der ökonomischen Leitprinzipien abduktiven Folgerns aufzufassen ist – und zwar hinsichtlich der psychologisch motivierten Denkökonomie des einzelnen, der forschungslogisch motivierten "Economy of Research" und der dialogisch-kommunikativ motivierten "Ökonomie des Diskurses".
Heute kann man eine ambivalente Tendenz beobachten: Zum einen wird in soziologischen, aber auch in literatur-und kulturtheoretischen Ansätzen der Aspekt der Differenz stark gemacht. Zum anderen ist ein anti-dichotomischer Denkstil zu beobachten, der, wie Zygmunt Bauman in seinem Buch Moderne und Ambivalenz schreibt, "das Prinzip der Opposition selbst, die Plausibilität der Dichotomie, die es suggeriert, und die Möglichkeit der Trennung, die es fordert", in Frage stellt (80).
In eben diesem Sinne erklärt Bruno Latour in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen, Kultur solle nicht länger als ein Artefakt begriffen werden, das wir "durch Ausklammern der Natur produziert haben". Latours These lautet daher: "Es gibt nur Naturen/Kulturen" (138). Das heißt, eine durch Binde- respektive Schrägstrich verbundene, historisch variable Vernetzung von Naturen und Kulturen. [...]
Ich möchte vorschlagen, den Bindestrich durch das Modell der Aufpfropfung zu beschreiben, genauer gesagt: als Interferenz von Pfropfungs- und Hybridmodell Um es vorweg zu nehmen: Ich gehe davon aus, dass das Modell der Pfropfung eine zweifach codierte Wissensfigur ist: Die Pfropfung steht zum einen für ein Ensemble kulturtechnischer Verfahrensweisen, durch die Naturdinge auf spezifische Weise in Kulturdinge transformiert respektive im weitesten Sinne des Wortes 'übersetzt' werden; zum anderen steht sie für ein Ensemble kulturtheoretischer Denkweisen, die diese Transformations- respektive Übersetzungsprozesse als Kulturmodell beschreiben: als Verbindungs-, als Vernetzungsformen zwischen Natur und Kultur, aber auch zwischen Kulturen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen, möchte ich im Folgenden zwei Fragekomplexe skizzieren, die mich momentan beschäftigen- im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts, das den Arbeitstitel: Greffologie trägt.
Konjektur
(2016)
Zu Beginn seines Buches 'Die Kunst der Vorausschau' umreißt Bertrand de Jouvenel nicht nur sein Projekt der "Futuribles", das er als Alternative zu Ossip K. Flechtheims "Futurologie" in Anschlag bringt, sondern reflektiert auch das Vokabular seiner Untersuchung – insbesondere den Begriff der Vermutung, der in der französischen Ausgabe titelgebenden Charakter hat: 'L’Art de la Conjecture' heißt Jouvenels 1964 erschienenes Buch im Original – und spielt damit explizit auf Jacob Bernoullis 1713 erschienene 'Ars Conjectandi' an. Stand coniectura im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denken als Chiffre vorläufiger menschlicher Mutmaßung im Gegensatz zu überzeitlichem göttlichem Wissen, so findet mit Bernoulli eine radikale Mathematisierung der "Konjekturalphilosophie" statt: Die 'Conjectura' ist als "wahrscheinliche Meynung, so aus gewissen Umständen entstehet und herrühret", nunmehr das Ergebnis einer komplexen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, die, losgelöst von empirischen Raum-Zeit- Verhältnissen, als kontingentes Spiel möglicher Ereignisse in möglichen Welten kalkuliert werden. Damit nimmt die Konjektur – wörtlich: das 'Zusammenwerfen' – einen epistemischen Zwischenraum im Spannungsverhältnis von Spekulation und Kalkulation ein, der ihre epistemologische Stellung bis heute bestimmt: Die 'Ars Conjecturandi' wird zur Grundlage von statistischen Theorien, "for assessing the probability of hypotheses in the light of data". Das heißt zugleich: Der Charakter der Konjektur wird nicht mehr allein durch die spekulative Annahme möglicher Ereignisse konfiguriert, sondern durch komplexe Kalkulationen, denen die Aufgabe zufällt, die mögliche Welt der Mutmaßung mit der wirklichen Welt zu verzahnen – vermittelt über eine "Zwischentätigkeit", nämlich das "Bauen von Modellen", die gleichsam ein Repertoire von präsumtiven Vorannahmen bereitstellen. Der Wechsel von einer Erkenntnistheorie, die ihre Wahrheiten im Rekurs auf eine göttlich gesicherte Weltordnung ermittelt, hin zu einer Erkenntnistheorie, die bloß vorläufige Wahrheiten in Relation zu selbst gebauten Modellen finden kann, impliziert einen Wechsel im "konjekturalen Paradigma". Aus einem mantischen Divinationskonzept, das anhand von signalhaften 'Vorzeichen' den göttlichen Willen zu erraten sucht, wird ein profanes Konzept des Aufstellens von Hypothesen, das sich bei der Deutung symptomatischer Anzeichen an den kalkulierbaren Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit orientiert – und zwar sowohl im Rahmen von Diagnosen als auch im Rahmen von Prognosen.
Der Beitrag widmet sich bedrucktem Papier, das Müll geworden ist. Dabei wird den unterschiedlichen Gründen für die Müllwerdung von Texten nachgegangen: von technischen Mängeln bis zum Makel mangelnden Publikumsinteresses. Umgekehrt geht es aber auch um die Textwerdung von Papier-Müll: eine Operation, die an der Nullstufe intertextueller Produktivität zu beobachten ist- und die die Strukturenliterarischer Wert- und Unwert-Produktion sichtbar macht.