CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Refine
Year of publication
Document Type
- Article (1576)
- Part of a Book (1249)
- Review (419)
- Part of Periodical (301)
- Book (191)
- Conference Proceeding (59)
- Report (44)
- Preprint (11)
- Periodical (7)
- Other (5)
Language
- German (3872) (remove)
Keywords
- Literatur (423)
- Rezension (299)
- Deutsch (166)
- Rezeption (146)
- Geschichte (142)
- Begriff (139)
- Vergleichende Literaturwissenschaft (136)
- Ästhetik (133)
- Übersetzung (131)
- Benjamin, Walter (127)
Institute
- Extern (178)
- Neuere Philologien (4)
- Universitätsbibliothek (4)
- Präsidium (2)
- Sprach- und Kulturwissenschaften (1)
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Désinvolture
(2018)
Das Wort 'Désinvolture' hat Ernst Jünger erstmals mit gedanklicher und historischer Substanz gefüllt: Er hat aus dem in Deutschland kaum bekannten Fremdwort einen Begriff mit sozialanthropologischer Ausrichtung gemacht, um eine Haltung zu kennzeichnen, für die er offenbar kein angemessenes deutsches Wort finden konnte. Sonst hielt er sich mit der Verwendung von Fremdwörtern sehr zurück. Obwohl er die französische Variante wählte, hat das Wort eine Entsprechung im Italienischen, die er in einer seiner Explikationen erwähnt ('Desinvoltura'), und eine im Spanischen, die er in einer weiteren durch ein Bacon-Zitat mitteilt ('Desenvoltura'). Der Schwerpunkt liegt also in der Romania, in der die Haltung, auf die Jünger hinauswill, offensichtlich stärker ausgeprägt war als in anderen Sprachräumen.
Coming-out / Outing
(2018)
Im Deutschen hat sich ein Anglizismus eingebürgert, der aus zweien eins macht; die ursprüngliche Bedeutung von Coming-out wird dabei auf Outing übertragen. Das "Anglizismen-Wörterbuch" definiert 'outen' als "homosexuelle Personen, insbes. Prominente, gegen ihren Willen in der Öffentlichkeit bloßstellen, indem man ihre Homosexualität preisgibt"; 'Outing' als "Bloßstellen von homosexuellen Personen, insbes. von Prominenten, gegen deren Willen in der Öffentlichkeit". Während der Eintrag zu 'Coming out' im selben Wörterbuch gerade eben eine halbe Seite lang ist, finden sich zu 'outen' und 'Outing' mehr als anderthalb Seiten. So sehen Erfolgsgeschichten aus. Denn das Verb 'outen' hat lexikographisch signifikante Bedeutungserweiterungen erfahren, so dass gleich drei weitere Bedeutungen angegeben werden, "kleine Schwächen, Schönheitsfehler etc. von Prominenten gegen deren Willen öffentlich bekanntmachen", und schließlich: "von sich selbst (unfreiwillig) in der Öffentlichkeit zugeben, daß man in einem best. Bereich in seinem Lebenswandel von der Mehrheit abweicht, bes. Schwächen oder Vorlieben hat". Das Wörterbuch weiß um die Fährnisse des translingualen Verkehrs und fügt erläuternd hinzu, das outen als reflexives Verb in englischen Wörterbüchern nicht existiert, '*to out oneself' ist nicht möglich. Das intransitive 'to come out' lässt sich weder syntaktisch noch semantisch mit dem transitiven 'to out somebody' kurzschließen. Wenn 'outen' aber auch "von sich selbst in der Öffentlichkeit zugeben, daß man homosexuell, bisexuell etc. ist" bedeuten kann, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Outing Coming-out vollständig verdrängt haben wird. Mehr und mehr ist heute so auch schon von Selbst-Outing die Rede.
Charaktermaske
(2018)
Als Kompositum zweier Nomen erscheint der Ausdruck 'Charaktermaske', so wie etwa auch 'Begriffsgeschichte' oder 'Verblendungszusammenhang', "spezifisch deutsch". Aber auch im Deutschen wirkt er sperrig und fremdartig, weil die Bedeutungen der beiden zur Einheit gebrachten Substantive in Spannung zueinander stehen und sowohl historisch wie funktional auseinanderweisen. Marx macht sich in seiner Umwertung des Begriffs diese Spannungen zunutze. Der semantisch neu besetzte Ausdruck wird bei ihm zum "Träger von Dissonanz" und übernimmt damit Funktionen eines Fremdwortes, wie Adorno sie in seinem Aufsatz "Wörter aus der Fremde" beschrieben hat. Dazu gehört die Zerstörung des "Schein[s] der Naturwüchsigkeit", die Marx durch ein Verfahren der Verfremdung des vermeintlich Vertrauten bewirkt. Hergestellt wird sie durch einen frappierenden Terrainwechsel, nämlich die Übertragung aus der Sphäre des Theaters bzw. der Ästhetik in den Kontext der politischen Ökonomie. Die emphatische Metaphorisierung konstituiert eine Art "innersprachliches Ausland", das nicht nur Fremd-, sondern auch Muttersprachlern die Arbeit der 'Übersetzung' abverlangt, um sich den Begriff verständlich zu machen.
Begriffsgeschichte
(2018)
Die jüngeren Aufbrüche und Umbrüche haben den Begriff 'Begriffsgeschichte' nicht unberührt gelassen: "Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse hat sich mittlerweile der Terminus historische Semantik interdisziplinär etabliert." Die Ausnüchterung des Begriffs im Terminus, der Begriffsgeschichte in der historischen Semantik, hilft bei der Abwehr prekärer und vielleicht auch gar nicht mehr zeitgemäßer Fragen, zumal der notorischen nach dem 'Begriff des Begriffs' der Begriffsgeschichte. Paradoxerweise drängen sie aber wieder, wenn sich die Begriffsgeschichte selbst historisch zu werden beginnt. Und da neben Interdisziplinarität und Internationalisierung auch Historisierung unabdingbar zum Ausweis wissenschaftlicher Geltung und Aktualität gehört, kommt Begriffsgeschichte um ihre Selbsthistorisierung gerade jetzt, zu Zeiten ihres späten Ruhmes, nicht herum.
Die Wendung 'avant la lettre' führt mitten ins Epizentrum jener Fragen, die sich mit den derzeitigen Öffnungen und Umbrüchen in den Methoden der Begriffsgeschichte stellen. Sie gehört ins Register des Unübersetzbaren, auch wenn man sie in Barbara Cassins "Dictionnaire des intraduisibles" (2004) vergeblich sucht. Denn sie wird im Deutschen oder Englischen gleichbedeutend verwendet wie im Französischen. Es handelt sich zudem um eine metaphorische Formulierung - ein Tatbestand, der allerdings oft hinter ihrem fremdsprachlichen Charakter zurücktritt. Denn es wird nicht vielen bekannt sein, dass die Formulierung in ihrer wörtlichen Bedeutung dem Bereich der Drucktechnik entstammt. Und schließlich verweisen Modus und Bedeutungsgehalt von 'avant la lettre' auf Fragen, die mit dem Vorbegrifflichen oder aber dem Unbegrifflichen zusammenhängen.
Autonomie
(2018)
Bei 'Autonomie' handelt es sich um einen alten Begriff mit altgriechischen und lateinischen Wurzeln, der in der Moderne zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden ist. Parallelausdrücke wie 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit', 'Eigengesetzlichkeit', 'Mündigkeit', 'Unabhängigkeit', 'Autarkie' sowie Komplementär- und Gegenbegriffe wie 'Heteronomie', 'Fremdbestimmung', 'Abhängigkeit', 'Bevormundung' verweisen auf ein weitverzweigtes Wortfeld ('Prädestination-Willkür', 'Determinismus' bzw. 'Naturalismus-Freiheit', 'Dogmatismus-Kritizismus', 'Realismus-Idealismus', 'Transzendentismus-Immanentismus', 'Autarkie-Interdependenz' bzw. 'Globalisierung') mit langer (Verflechtungs-)Geschichte. Der Begriff zirkuliert heute als Nomaden- und Grenzgängerbegriff in verschiedensten, einander gegenseitig befruchtenden Feldern (Politik, Pädagogik, Kunst, Kultur, Ökonomie, Medizin, Ökologie, Robotik etc.). Er interagiert als interdisziplinärer oder transversaler Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie z. B. Identität) und fördert wechselseitige Übertragungen zwischen ethisch-politischen und anderen Semantiken.
Apokalypse
(2018)
"Die Apokalypse" ist fester Bestandteil unserer Vorstellungswelt, wo sie landläufig für Katastrophen- und Untergangsszenarien aller Art steht oder schlicht für das "Ende der Welt". Als Bildungsgut, als kulturelles Kapital, gilt dagegen die Kenntnis, dass das griechische ἀποκάλυψις eigentlich "Offenbarung" bedeute. Genaugenommen bezeichnet es das Auf- (ἀπο) bzw. Hochheben eines Schleiers (καλύπτρα). Die Substantivierung des zugehörigen Verbs καλύπτειν, "verhüllen" ist κάλυψις. Die präziseste Übersetzung wäre also "Entschleierung" oder, wenn der abgeleitete abstrakte Sinn betont werden soll, "Enthüllung" - das lateinische 'revelatio'. [...] Seine biblisch-monotheistische Karriere beginnt das Wort in der Septuaginta, der ersten jüdischen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die auch für die Verfasser des Neuen Testaments der Standardtext wird.
Bei der exklusiven Alternative ist nur eines von beiden machbar. Diese Semantik, die nur eine von beiden Möglichkeiten zulässt, wird transparent in der lateinischen Ursprungsbedeutung 'alter' - der eine von beiden. Im Fremdwort 'alternieren' ist diese Bedeutung 'zwischen zwei abwechselnd' noch erkennbar, die im Prinzip allerdings zwei gleichwertige Lösungen impliziert. Die Wortprägung 'Alternative' - als Kompositum aus 'alter' ("der andere") und 'nativus' ("geboren, auf natürlichem Weg entstanden") - existiert im klassischen Latein noch nicht, sondern stellt eine relativ späte adjektivische Variante im Mittellateinischen dar und erscheint seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Texten als Adverb 'alternative', mit beginnendem 18. Jahrhundert wurde dann das auslautende '‑e' aufgegeben und adjektivischer Gebrauch möglich. Umgangssprachlich wird der Ausdruck zwar häufiger unpräzise in einem vageren Sinne verwendet und meint dann nicht nur genau zwei, sondern ganz unbestimmt mehrere Möglichkeiten ("es gibt doch viele Alternativen"), aber in der politischen Rhetorik der Gegenwartssprache dominiert auch im Sprachgebrauch jene logisch, linguistisch und etymologisch fundierte Bedeutung des Terminus. Wenn also der Begriff im politischen Kontext auftaucht, zeigt er - sprachwissenschaftlich gesagt - diese binäre Opposition, und wenn er hier personalisiert, eignet ihm auch diese antagonistische Zuspitzung und kompromisslose Polarisierung.
Agent
(2018)
Seit einiger Zeit tümmeln sich Agenten in der deutschen Sprache, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Äußerst beunruhigend ist, dass sich dort sowohl 'virtuelle' als auch 'reale Agenten' finden, die in 'agentenbasierten Modellierungen' für die Simulierung der Interaktion in sozialen Netzwerken und als 'Bio-Agenten' in Form von Ameisen, deren Staaten 'Multiagentensysteme' repräsentieren, oder Schlauchpilzen (der Art 'Fusarium oxysporum') tätig sind, die Kokapflanzen noch bis tief in den Amazonas hinein verfolgen - und ganz unvermutet als 'Agenten des Wandels' im Ruhrgebiet wieder auftauchen, diesmal allerdings als Bezeichnung für eher harmlose Ökoprojekte. [...] Nach dem Beginn der Aufklärung hat sich der 'agent' bis ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein auch noch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen fast viral vermehrt.
Fremdwörter haben einen hohen epistemischen Stellenwert, denn sie lenken die Aufmerksamkeit auf die unhintergehbare Sprachlichkeit, Kulturgebundenheit und Historizität des Wissens. Ziel des Bandes ist es, begriffs- und übersetzungsgeschichtliche Aspekte der Zirkulation von Begriffen zwischen den Sprachen zusammenzuführen. 52 Fallstudien beschäftigen sich mit Wörtern, die in andere Sprachen gewandert sind und sich dort - aus ganz unterschiedlichen Gründen - festgesetzt haben.
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dokumentiert die Beiträge zu dem Workshop "Politische Ikonologie - Begriffsgeschichte - Epochenschwellen", den das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung am 24. und 25. November 2017 im Warburg-Haus Hamburg veranstaltet hat. Der Workshop befasste sich mit Übertragungen, Überschneidungen, Ablösungsprozessen zwischen Begriffsgeschichte und (politischer) Ikonologie. Dabei sollte der historische Index in deren Verhältnis in wenigstens doppelter Hinsicht bedacht werden: Einerseits ging es um die Frage, wie die von Aby Warburg und seinem Umfeld ausgehenden Bild- und Semantiktheorien mit den in der Begriffsgeschichtsforschung thematisierten Epochenschwellen umgehen, andererseits darum, wie und warum die Ikonologie im 20. Jahrhundert selbst zum favorisierten Instrument wird, um den kulturellen und politischen Bedeutungswandel zu fassen.
Reinhart Kosellecks Bildnachlass dokumentiert dessen jahrzehntelange Forschungen zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes und der Geschichte des Reiterdenkmals, einschließlich seiner leidenschaftlichen Fotopraxis. Kaum bekannt und von besonderem Interesse für das hier verfolgte Rahmenthema "Politische Ikonologie - Begriffsgeschichte - Epochenschwellen", zeugt dieser reiche Fundus aber auch von intensiven kunstgeschichtlichen und kunsttheoretischen, mitunter kunstphilosophischen und bildwissenschaftlichen Interessen des Bielefelder Historikers, die dieser Zeit seines Studiums und keineswegs nur parallel zu seiner historischen Arbeit verfolgte. Denn diese Spuren führen tief in das historische Denken Kosellecks hinein, und sie zeigen, dass dessen Blick bei aller konkreten Bildarbeit nie dem Sichtbaren allein galt, sondern immer auch dem Unsichtbaren, dass er sich das Unsichtbare - geschichtliche Strukturen und Prozesse, geschichtliche Zeit und Bewegung, schlicht Geschichte - in der Sichtbarkeit des mentalen wie konkreten Bildes zu vergegenwärtigen und in die Sichtbarkeit des anschaulichen Textes zu überführen suchte. Dabei hat die Aufarbeitung von Kosellecks Bildnachlass mit Blick auf sein historisches Werks ein komplexes Bedingungsverhältnis und eine erstaunliche Verquickung sprachlich-diskursiver und sinnlich-bildlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen ans Licht gebracht, die es unter anderem erlauben, konkrete Verbindungslinien zwischen der spezifisch Koselleck'schen Begriffsgeschichte und bestimmten Bereichen der Kunst, Kunstgeschichte und Kunsttheorie zu ziehen. An dieser Schnittstelle setzt der vorliegende Beitrag an und lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf Bedeutung und Einfluss des Wiener Kunsthistorikers Werner Hofmann (1928–2013), dessen zentraler Wirkungsort die Hamburger Kunsthalle werden sollte. Hofmann soll dabei beispielhaft für einen bemerkenswerten Schwerpunkt betrachtet werden, auf den sich Kosellecks Interessen im Bereich der Kunst und der Bilder konzentriert zu haben scheinen: den Zusammenhang von Bild und Zeit.
Leistung
(2019)
Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Begriffe seiner Selbstbeschreibung hervorgebracht: Die 'Leistungsgesellschaft' ist eine dieser gängigen Selbstzuschreibungen, die sich im Kern auf einen Begriff zurückführen lassen: 'Leistung' erscheint auf den ersten Blick als klar zu fassen - wenn nicht sogar mathematisch-physikalisch präzise definiert als 'Arbeit pro Zeit'. Doch erschöpft sich das Bedeutungsspektrum des Leistungsbegriffs in dieser Formel? Was will eine Gesellschaft von sich aussagen, wenn sie sich als 'Leistungsgesellschaft' versteht? Jasmin Brötz geht im Folgenden auf Nina Verheyens populärwissenschaftliche Vorschau (Die Erfindung der Leistung, München 2018) auf ihr Habilitationsprojekt ein. [...] Grundlegende These des Buches ist, dass in der Gesellschaft Leistung gemeinhin als "individuelle Leistung" verstanden wird. Kollektive Anteile an einer Leistung, so Verheyen, werden dabei systematisch ausgeblendet. Die Autorin wirbt daher für ein "soziales Leistungsverständnis", das kollektive Aspekte von Leistung ebenso berücksichtigt, wie es ein Bewusstsein für das historisch gewachsene und wandelbare Konzept von Leistung entwickelt. Diesen eigenen normativen Anspruch verbindet sie mit einem konstruktivistischen Ansatz, indem sie die Zuschreibungen von Leistung dekonstruiert und darüber hinaus ganz im Sinne von Foucault Leistung als Mittel der Disziplinierung und Hierarchisierung hinterfragt.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Diversität: Bemerkungen zur Begriffsgeschichte der Diversität ausgehend von drei Sammelbänden
(2019)
Auffallend an der Geschichte des Begriffs der Diversität ist die Spannung zwischen der sehr langen Geschichte seines Gebrauchs und seinem dementsprechend sehr weiten Anwendungsbereich einerseits und der spezifischen Signalwirkung in der politisch-sozialen Sprache seit den 1980er Jahren andererseits. Bis zu dieser Zeit erscheint der Ausdruck in den großen deutschsprachigen Enzyklopädien meist nur mit einer kurzen Erläuterung seiner Bedeutung als "Verschiedenheit". Bereits in der Antike fungiert dieses Wort allerdings - ebenso wie die in seinem semantischen Umfeld stehenden Ausdrücke 'ποικiλία' und 'varietas' - als ein Wertbegriff, und zwar vor allem im Kontext der Ästhetik. Das Bunt-Schillernde, das die primäre Bedeutung von 'poikilia' im Griechischen ist, wird von Platon zwar noch abgelehnt, weil es etwas Oberflächliches sei, das nur für Kinder und Frauen Unterhaltung biete und von dem Eigentlichen, das in die Tiefe geht, ablenke. Später, besonders in der römischen Antike, avanciert die Darstellung von Vielfalt aber zu einem zentralen Prinzip der Ästhetik (so dass die Vielfalt ein "römisches Prinzip" genannt wurde). Erklärt wird dies mit politischen und kulturellen Entwicklungen wie der Verfasstheit des römischen Reiches als ein Vielvölkerstaat, der den vielfältigen Sinnenfreuden nicht abgeneigten römischen Alltagskultur (der Oberschicht) und nicht zuletzt dem Polytheismus. Auch in den christlichen Kontext wird die Vorliebe für Vielfalt übernommen und der eine Gott über die Vielfalt der Erscheinungen seiner Welt gepriesen. Dieser Hintergrund des Begriffsfeldes bildete eine Bedingung für die Konjunktur des Ausdrucks Diversität am Ende des 20. Jahrhunderts. Falko Schmieder beleuchtet anhand von drei in den letzten Jahren erschienenen Sammelbänden, wie diese Konjunktur sich entfaltete.
Zukunft
(2019)
In seiner Monographie zum Konzept der Zukunft hat sich Lucian Hölscher (Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016) einer Schlüsselkategorie aus dem Begriffsfeld der Zeit zugewandt, das im Wörterbuch der "Geschichtlichen Grundbegriffe" auffällig wenig bearbeitet ist. Das Thema der Zeitlichkeit ist dem Buch dabei selbst eingeschrieben, weil es sich hier um die aktualisierte und deutlich erweiterte Neuauflage einer Studie handelt, die erstmals im Jahre 1999 publiziert wurde. [...] Das Grundgerüst der Gliederung in vier größere Epochenabschnitte, beginnend mit dem Zeitraum von 1770 bis 1830, hat Hölscher beibehalten. Dem Themenschwerpunkt der vorliegenden FIB-Ausgabe entsprechend soll im Folgenden vor allem die Darstellung der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts - also nach Hölschers Einteilung des Zeitraums von 1890 bis 1950 und der Zeit seit 1950 - betrachtet werden, denen etwa zwei Drittel des Buches gewidmet sind.
Innovation
(2019)
Der kanadische Wissenschaftshistoriker Benoît Godin legte im Jahre 2015 die erste umfassende Begriffsgeschichte von 'Innovation' vor, die sich im Wesentlichen auf englisch- und französischsprachige Quellen bezieht. Falko Schmieder beschäftigt sich nun mit der ersten begriffsgeschichtlichen Studie zur Verwendung von 'Innovation' im Deutschen, Susanna Webers "Innovation. Zur Begriffsgeschichte eines modernen Fahnenworts". Den aktuellen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung einer enormen Reichweite und Expansion des Begriffs in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen.
Hegemonie
(2019)
Perry Andersons jüngstes Buch "Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs" ist ein Beleg für die internationale Konjunktur der Begriffsgeschichte und speziell für deren zunehmend globale Ausrichtung. Die Geschichte des Begriffs, die Anderson erzählt, berührt nämlich "acht oder neun verschiedene Nationalkulturen". Sie hat voneinander unabhängige Ursprünge, die in der griechischen Antike und in der noch älteren chinesischen Zhou-Dynastie liegen. Anderson hält fest, dass die lange und komplexe Bedeutungsgeschichte von 'Hegemonie' in den aktuellen Verwendungen zumeist ignoriert wird oder nicht mehr präsent ist; seine Überzeugung ist aber, dass wir diese Geschichte des Begriffs "verstehen müssen, um seine Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen". [...] Die Gegenwart spielt für die Begriffsgeschichte aber auch deshalb eine besondere Rolle, weil der Begriff Hegemonie ungeachtet seiner langen Geschichte erst in jüngerer Zeit eine allgemeinere Bedeutung erlangt hat; im englischen Sprachraum liegt der große Sprung in den 1990er Jahren, in Deutschland dürfte das ähnlich sein. In dem "maßgeblichen Kompendium 'Geschichtliche Grundbegriffe'" hat der Begriff jedenfalls, so Anderson, "signifikanterweise keinen Eintrag" erhalten . Die möglichen Gründe dafür, über die Anderson nicht spekuliert, bringt Falko Schmieder hier zur Sprache.
Heimat
(2019)
Heimat ist ein Begriff, der aktueller ist denn je. Die Süddeutsche Zeitung erklärte im April 2018: "Heimat ist der Debattenbegriff der Zeit." Im Kontext der weltweiten Migrationsbewegungen und der gleichzeitig erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen in Europa spielen 'Heimat' und verwandte Begriffe in den tagesaktuellen Diskussionen immer eine unterschwellige oder auch explizite Rolle: Vom Verlust der Heimat durch Krieg, Vertreibung oder wirtschaftliche Not über das 'Abendland' als konstruierte Heimat und die Angst vor ihrer Islamisierung bis hin zum seit 2018 um 'Heimat' erweiterten Namen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat - es existieren viele Auslegungen und Bedeutungszuschreibungen für diesen Begriff. All diese gegenwärtigen Semantiken von 'Heimat' haben eine Geschichte und einen historischen Ursprung, denen die Sprachwissenschaftlerin Andrea Bastian in ihrer hier von Martin Schlüter besprochenen Untersuchung (Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995) nachspürt.
Die Absicht von Johannes Rohbecks Beitrag ist eine kritische Würdigung der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck. Dabei konzentriert sich Rohbeck auf Kosellecks Untersuchungen über die Historiographie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. [...] Zunächst beginnt Rohbeck mit den Verdiensten Kosellecks um die Geschichtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Da diese Leistung unbestritten ist, beschränkt er sich bei seiner Würdigung auf einige Hinweise. [...] Danach stellt Rohbeck einige begriffsgeschichtliche Behauptungen infrage; hier handelt es sich um philologische Korrekturen zu den Begriffen Fortschritt und Geschichte. Rohbeck zeigt außerdem, dass diese Korrekturen auf Kosellecks grundsätzliche Positionen verweisen. Sodann zielt seine Kritik auf allgemeine Einschätzungen zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Moderne, insbesondere auf die These von der 'Unverfügbarkeit der Geschichte'. Im Gegensatz zu Koselleck glaubt Rohbeck, dass es einige aktuelle und drängende Probleme gibt, die menschliches Handeln erfordern, um wenigstens teilweise in die Geschichte eingreifen zu können.
Globalisierung
(2019)
Wer denkt, Globalisierung habe etwas mit Marktwirtschaft zu tun, irrt nicht. Auf diesen kurzen Nenner ließe sich die ausführlichste begriffsgeschichtliche Studie bringen, die bislang zu 'Globalisierung' vorliegt. Doch wird man mit dieser verknappenden Formel weder dem Phänomen noch der von Olaf Bach 2013 veröffentlichten Studie "Die Erfindung der Globalisierung" gerecht. Denn zu Recht versteht er 'Globalisierung' nicht als einen ökonomischen Fachbegriff, sondern untersucht "Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs".
Begriffe 'nach dem Boom'
(2019)
Mit ihrem Essay "Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970" haben Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael vor über zehn Jahren vielfältige Forschungen und Debatten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgelöst. Anders als Versuche, dieses Jahrhundert mit synthetischen Interpretationen wie der eines 'Weges nach Westen' oder eines Siegeszugs der liberalen Demokratie zu resümieren, beschrieb "Nach dem Boom" die drei Jahrzehnte seit 1970 als einen sozialen Wandel von revolutionärer Qualität. Dieser bis in die jüngste Gegenwart angenommene 'Strukturbruch' bündelt einschneidende ökonomische und sozialhistorische Zäsuren sowie politische und kulturelle Schwellen. Ernst Müller setzt sich im Folgenden mit dem von Ariane Leendertz und Wencke Meteling herausgegebenen Band "Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt a. M./New York 2016" auseinander, der eine begriffsgeschichtliche Prüfung der 'Nach dem Boom-Thesen' vornimmt.
1967, im gleichen Jahr, in dem Richard Rorty seine Bestandsaufnahme zum 'linguistic turn' publiziert, hält Michel Foucault einen Vortrag über 'andere Räume'. Das 19. Jahrhundert, so Foucault, sei die Epoche der Geschichte und der Zeit gewesen, seine Themen waren "Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen". Das 20. Jahrhundert dagegen - für Foucault: die Gegenwart - sei als Epoche des Raumes zu begreifen: "Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten". Der Strukturalismus, so Foucault weiter, sei der Versuch, in diesem Sinne den Zusammenhang zwischen den Elementen nicht mehr als Abfolge, sondern als Ensemble von Relationen zu begreifen, als "Konfiguration". Der Raum, so könnte diese viel zitierte Passage gedeutet werden, wäre gegenüber der Sprache eine noch grundlegendere Kategorie; der 'linguistic turn' dann nur noch eine Variante des 'spatial turn'. In der Lesart von Stephan Günzel, dem Herausgeber des 2010 erschienenen interdisziplinären Handbuches "Raum", erscheint die Sprachwende in diesem Sinne als Teil der Vorgeschichte der späteren "Raumkehren". [...] David Kaldewey nimmt anhand des Handbuches eine über einzelne Autoren und Stichwortgeber hinausgehende Einschätzung der Bedeutung und Karriere des Raumbegriffs in verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern vor.
Nichts ist so prekär wie die Kontinuität und Identität eines Zeichens. Gewiss, die Weiterverwendung eines tradierten Wortkörpers suggeriert Kontinuität auch auf der Inhaltsseite, und die Etablierung eines neuen Wortkörpers suggeriert Diskontinuität, wiewohl ein neuer Wortkörper einen etablieren Inhaltskomplex fortführen und ein alter einen grundstürzend neuen Inhaltskomplex etablieren kann. [...] Kurz und gut: Jegliche Verallgemeinerung über das, was die Leitbegriffe des 20. Jahrhunderts von denen des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist mit Vorsicht zu genießen. Was neu aussieht, muss nicht zur Gänze neu sein, und vice versa. Die ausdrucksseitigen Kodierungen sind selbst bisweilen strategisch, wir haben es mit einer öffentlichen Meinung zu tun, die zunehmend professionell produziert (und auch kurzfristig improvisiert) wird. [...] Es wird also zu fragen sein, ob sich nach dem Ansehensverlust der großen traditionellen 'Bewegungsbegriffe' (sagen wir) Stilmerkmale ausmachen lassen, die charakteristisch sind für die Macht-, Wissens- und Zustimmungspraktiken des 20. Jahrhunderts. [...] Als Sprach- und Kommunikationswissenschaftler versucht Clemens Knobloch, Veränderungen im Konnotationstransfer bei einigen 'modernen' Grundbegriffen auszuleuchten.
Intellektuelle
(2019)
Zumeist im Plural als 'die Intellektuellen', weniger häufig im Singular als 'der Intellektuelle' und kaum je in der weiblichen Form als 'die Intellektuelle', zählt der Begriff zu den Neuschöpfungen im frühen 20. Jahrhundert. Er ist von stark vagabundierender Bedeutung und steht immer auf dem Prüfstand. [...] Akademiker, Ideenträger, Geistesführer, das sind nur drei und dazu sehr unterschiedliche Bedeutungen, auf die der Begriff 'Intellektuelle' verweist, als er um 1900 in Deutschland zu zirkulieren beginnt. Diese Zirkulation wird im Folgenden entlang der neueren Intellektuellenforschung unter drei Aspekten betrachtet: Zuerst wird die in Deutschland einflussreiche 'Schimpfwortgeschichte' als Abwehrgeschichte französischer Traditionen aufgegriffen, es werden aber auch die mit Beginn des 20. Jahrhunderts für den deutschen Sprachraum nachweisbaren positiven Semantiken und Aneignungsformen betrachtet (I); im Anschluss werden Forschungswege der Soziologisierung wie der diskursanalytischen Behandlung des Intellektuellenthemas verzeichnet, zugleich wird noch einmal an Reinhart Kosellecks Konzept von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte erinnert (II); schließlich wird das gesteigerte Interesse an einer präzisierenden und differenzierenden Intellektuellengeschichte seit den 1970er Jahren beschrieben, um einige Linien zu gegenwärtigen Verwendungskontexten zu ziehen (III).
Netz / Netzwerk / Vernetzung
(2019)
Netz, Netzwerk und Vernetzung sind zu Schlüsselbegriffen für die Wissensorganisation der Gegenwart geworden. Wir begegnen uns im Netz, sind vom Netz gefangen, abhängig, begeistert und vor allem mit und durch Netzwerke verbunden; wir flirten, streiten, kaufen dort. Unsere Kühlschränke befinden sich in regem Austausch mit unseren Autos, Nachttischlampen, Kaffeemaschinen sowie den Firmen und Regierungen, die sich für diese Datenflut begeistern können. Dass wir vernetzt sind, würde gemeinhin niemand mehr bestreiten. Doch der Hang zur Vernetzung geht über den Cyberspace hinaus. Denn nebenbei betreiben wir fleißig Networking, halten Ausschau nach wertvollen Kontakten, begreifen das Netzwerk als effiziente wie raumrelativierende Kooperationsform und kartographieren komplexe Abläufe mithilfe feingliedriger Netzwerkmodelle. Dieser Umstand hat in den letzten Jahren viele geisteswissenschaftliche Arbeiten zur Reflexion angestoßen. Peter Fritz geht im Folgenden hauptsächlich auf zwei neuere Studien (Alexander Friedrich: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, Paderborn 2015; Sebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, Berlin 2016) ein, die die Dominanz von Netzen und Netzwerken in der Gegenwart als Ausgangsbeobachtung wählen, aber unterschiedlich mit dieser Gegenwartsdiagnose umgehen.
Editorial
(2019)
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dient der Vorbereitung eines auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikonprojekts zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik im 20. Jahrhundert. In theoretisch-methodischer Hinsicht knüpft es an die vielen Debatten zur Neuausrichtung der Begriffsgeschichte an, zu denen vor allem Zeithistoriker*innen wichtige Beiträge geliefert haben.
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dient der Vorbereitung eines auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikonprojekts zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik im 20. Jahrhundert. In theoretisch-methodischer Hinsicht knüpft es an die vielen Debatten zur Neuausrichtung der Begriffsgeschichte an, zu denen vor allem Zeithistoriker*innen wichtige Beiträge geliefert haben.
Heike Schlie untersucht Formen vormoderner religiöser Zeugenschaft, die sich in komplexen medialen Konstellationen ereignet. Die hagiographische Zeugenschaft, die in einer Reliquiensammlung gespeichert ist und in der rituellen Zeigung der Reliquien aktiviert wird, wird auf weitere Medien übertragen, in sie ausgelagert und in ihnen erweitert, sodass ein 'Netz aus zeugenden Gesten' und 'Zeugenschaftspraktiken' entsteht. Ergänzt bzw. eingeleitet werden diese Beobachtungen durch eine Untersuchung der historischen Zeugenschaftsbegriffe und ihrem Konnex zu religiöser Zeugenschaft. Ein besonderes Augenmerk gilt hier der Analyse einer vormodernen Konstellation, in der Reliquien als 'Akteure' betrachtet werden müssen, was im jüngsten "forensic turn" eine Art Nachfolge kennt. Zum anderen werden im Kontext der Bildmedien die Spezifitäten christlicher Zeugenschaftsformen fassbar, die im Fall der apostolischen 'Zeugenkette' und des 'Bekenntnisses' des Märtyrers oder des Eremiten eine Reihe von epistemischen und medialen Besonderheiten aufweisen und auch in Bildern wie Dürers "Marter der Zehntausend" diskursiviert bzw. reflektiert werden - ein Phänomen, das Schlie anhand der Kategorie des "métatémoignage" von Derrida analysiert. So wird das Bild selbst zum "Erkenntnismittel", das heißt ein "Medium zum 'Über-Zeugen' des Unglaubens".
Andrea Frisch untersucht eine Mischform von primär historiographischen (Er-)Zeugnissen, die im Kontext religiöser Zeugenschaft stehen. In den Augenzeugenberichten zu den französischen Religionskriegen des 16. Jahrhunderts steht "der ethische und der epistemische Imperativ in steter Spannung". Da der Augenzeuge aufgrund seines Engagements notwendigerweise parteiisch ist, ist ein objektiver Bericht nicht möglich, dennoch ist diese Zeugenschaft in beiderlei Hinsicht eine Notwendigkeit. Frisch untersucht die Techniken des Adressierens von historiographischen Texten wie zum Beispiel von Jean de Léry, die dementsprechend versuchen, die religiöse Zugehörigkeit des bezeugenden Autors herunterzuspielen, und zur Folge haben, dass die Berufung auf das "ethos" allgemein zugunsten eines epistemischen Modells des Augenzeugen infrage gestellt wird. Das lange epische Gedicht "Les Tragiques" des Protestanten Agrippa d'Aubigné reflektiert jedoch das Dilemma, nach welchem der Augenzeuge sich zugleich unparteiisch zeigen und die Ereignisse mit eigenen Augen gesehen haben muss, also gleichzeitig "Zuschauer" ("spectateur") und "Akteur" ("personnage") zu sein hat. Das Gedicht wendet sich als ethische Anklageschrift an die Täter der anderen Religionsgemeinschaft und gemeinschaftsstiftend an die eigene, beruht aber zugleich auf der epistemischen Distanz des Berichts. Das Zeugnis will durch den Pathos überzeugen und bewegen, was hier durch eine Form von dichterischer Zeugenschaft geschieht, und appelliert zugleich an die transzendentale Perspektive des Göttlichen, um die Untaten zu verurteilen. Es oszilliert somit zwischen unterschiedlichen Positionen, die mit verschiedenen Absichten zusammenhängen - ein Oszillieren, das sich schließlich auch auf den Adressaten als sekundären Zeugen überträgt.
Nach Günter Thomas, der sich mit verschiedenen Formen religiöser Zeugenschaft befasst und kritisch in Frage stellt, ob es sich ausgerechnet beim Märtyrer um den paradigmatischen religiösen Zeugen handelt, ereignet sich Zeugenschaft in Situationen und Konstellationen. Stärker als um eine Suche nach einem Grundmodell von Zeugenschaft geht es Thomas um eine Untersuchung der "spezifischen Differenzen und Differenzierungen" in verschiedenen sozialen Sphären. Eine genauere Untersuchung der religiösen Zeugenschaft erlaubt es, unterschiedliche "Modi der Gewissheit" und "Techniken der Überzeugung" zu differenzieren und die der religiösen Zeugenschaft eigenen "originären Konstellationen" herauszustellen. Dabei thematisiert er vier Typen des religiösen Zeugnisprozesses: den Auferstehungszeugen, den Märtyrer, das diakonische Zeugnis und die Zeugniskette. Das Zeugnis des Märtyrers wird als Tatzeugnis dargestellt, das von einem weiteren Zeugen (mündlich oder vor allem schriftlich) beglaubigt werden muss. Ein unsichtbares Martyrium kann nicht Zeugnis sein; "[d]ie Gewissheit der Märtyrer ist so eine diskursive Konstruktion von Beobachtern". Auch hier findet sich die doppelte Struktur des Zeugnisses. Thomas weist darauf hin, dass es gerade im Bereich der religiösen Zeugenschaft nicht nur natürlich-sprachige Zeugnisse, sondern - wie am Beispiel der Diakonie zu beobachten - Handlungen gibt, die als Tatzeugnisse Ereignisse mit performativer Dimension sind. Da diese Handlungen selbst Medien der Kommunikation sind und im sozialen Kontext Dynamiken entfalten, ist auch hier von einer hohen Komplexität der jeweiligen Konstellationen zu sprechen.
Henning Theißen entwirft das Modell einer religiösen Zeugenschaft, die eine Alternative darstellen soll zu den vorherrschenden Kategorien: der Mission als persuasivem Zeugnis und dem Martyrium als einem Zeugnis der existentiellen Involviertheit. Er diskutiert dies zunächst vor der Folie juridischer und epistemischer Zeugenschaft. So thematisiert er die Vereidigung des Zeugen vor Gericht als eine Metastruktur, als Zeugnis für die Glaubwürdigkeit des Zeugen, das die Aussage überzeugend machen soll. Theißen verwendet hier den aus dem Neuen Testament (Hebr. 12:2) stammenden Begriff der "Wolke von Zeugen", in die der beeidigende Zeuge eintritt und in der wiederum Gott zum Zeugen angerufen wird. Wir finden hier eine ähnliche Struktur wie beim Zeugenschaftshelfer und bei den Überzeugungsfiguren. Glaubwürdigkeit muss selbst in irgendeiner Weise bezeugt sein. Das bedeutet, dass Szenarien und Konstellationen von Zeugenschaft notwendigerweise immer eine komplexe Struktur haben; beim religiösen Bekenntniszeugen, der in eine "Wolke von Zeugen" eintritt, ist dies durch Zeugenketten gewährleistet. Schließlich entwickelt Theißen das Modell einer 'angenommenen' (adoptierten) Gewissheit, der er eine unmittelbar gezeugte Gewissheit gegenüberstellt: Gewissheit entsteht durch einen Vertrauensvorschuss; das Zeugnis muss sich in einem dynamischen Prozess in der Folge (zum Beispiel im Abgleich mit anderen Zeugnissen) bewähren.
Axel Gelfert setzt sich mit dem Mythos einer Vernachlässigung des Phänomens von Zeugenschaft in der Philosophiegeschichte auseinander. Er stellt am Beispiel von David Hume heraus, dass in den Ansätzen der analytischen Philosophie und der sozialen Erkenntnistheorie manchen klassischen Autoren, die er als "Vorläufer" bewertet, zu Unrecht einseitige Grundpositionen zugeschrieben werden, wie etwa Humes angeblicher "Reduktionismus", der das Zeugnis auf einen empirisch belegbaren Wissensinhalt reduziere. In der von Gelfert unternommenen Neuauslegung von Humes Überlegungen zu Zeugenschaft wird deutlich, dass auch hier der Empfänger als konstituierender Faktor des Zeugnisses im Fokus steht. So wird durch eine erneute Lektüre von Humes Thesen deutlich, wie signifikant diese für jüngste Ansätze wie etwa den der Tugenderkenntnistheorie sein können. Das Zeugnis wird anhand von wiederkehrenden sozialen "Situationen, Interaktionen und Reaktionen", aber auch aufgrund aller Charaktereigenschaften des Zeugen evaluiert, und für diese Evaluierung werden sowohl die präexistenten gemeinsamen Überzeugungen und Vertrauensbildungen einer epistemischen Gemeinschaft als auch die Erfahrungen des Empfängers über die menschliche Natur entscheidend.
Claudia Blümle behandelt bildliche Szenarien der Zeugenschaft, in denen Figuren eingesetzt werden, die das reale, abgebildete Szenarium eines Zeugenschaftsmoments nicht genau abbilden oder eine solche Abbildung stören, sondern im Sinne einer medialen Überzeugungsstrategie erweitern. Im Fall der von Blüme analysierten Bildbeispiele sind dies zusätzliche Akteure, die als "Überzeugungsfiguren" eine Scharnierstelle zwischen dem innerbildlichen Zeugen und dem Betrachter darstellen. Blümle analysiert diese Funktion in Bildern, die ganz unterschiedliche, mit verschiedenen Kategorien der Zeugenschaft verbundene Wissensgehalte oder Wahrheiten vertreten, sowohl aus dem juridischen und religiösen als auch aus den naturwissenschaftlichen Bereichen. Die Produktion von Gewissheit hängt in den von ihr gewählten Beispielen gerade von den eigentlich außerhalb der Zeugensituation situierten "Zeigefiguren" ab, die einen eigenen Raum ausbilden, in dem das Bezeugte vom Betrachter akkreditiert werden kann.
Sybille Krämer unterscheidet Formen der Zeugenschaft im Spannungsfeld prozessualer, diskursiver und existentialer Wahrheit. Zunächst ist das Bezeugen ein interpersonaler Sprechakt, dessen Wahrheit in einem argumentativen Diskursgeschehen eingelöst oder abgewiesen wird. Krämer untersucht hier die zentrale Bedeutung des 'Sprechens' oder 'Sagens', welches die gemachte Erfahrung zu einer 'Aussage' transformiert. Der Anspruch einer fast nicht möglichen Entsprechung zwischen 'Erfahrung' und 'Aussage' macht dabei das Prekäre der Zeugenschaft aus. Mit Derrida und Habermas führt Krämer mögliche Modelle an, die aus dem Anspruch dieser absoluten diskursiven Wahrheit herausführen wollen und die mit den dem Zeugnis verbundenen (hier nicht religiös verstandenen) Glaubensgewissheiten produzieren. Krämer stellt dem "diskursiven Wahrheitsanspruch" das von ihr bei Foucault, Lacan und Kierkegaard auszumachende Modell einer existentialen Wahrheit gegenüber, zum Beispiel im Fall des Glaubenszeugen, den sie mit der von Foucault beschriebenen Parrhesia, dem "Wahrsprechen", in Verbindung bringt. Im Fall der griechischen Parrhesia und des christlichen Glaubenszeugnisses stehe der Zeuge mit seiner Person und seinem Leben für die Wahrheit seiner Aussage ein; es handelt sich um eine aus einem ethischen Impuls heraus geäußerte Wahrheit, "die mit ihrem subjektiven Ursprung untrennbar verbunden ist". Am Ende entwickelt Krämer die These, dass es gerade die immer wieder andere Verbindung von existentialer und diskursiver Wahrheit in den Typen der Zeugenschaft ist, die deren Wesen bestimme.
Burkhard Liebsch geht es um eine sozialphilosophische Thematisierung von Zeugenschaft im Zusammenhang mit dem Begriff der 'politischen Welt'. Dem erkenntnistheoretischen Begriff der 'Welt' in der modernen Philosophie (als von epistemischen Subjekten geteilte und aus vorliegenden oder zu erschließenden Tatsachen konstituierte Welt) wird ein sozialphilosophischer entgegengehalten, in dem es grundsätzlich um die "Lebbarkeit des Lebens in einer mit Anderen geteilten Welt" geht. Gerade diese Lebbarkeit, die vor allem auf die menschliche Erfahrung abzielt, ist das, was bezeugt wird, sowie das Selbst derer, die diese Erfahrung zum Ausdruck bringen. Die soziale Existenz wird durch Andere bezeugt, die einen Einzelnen im Zuge der Aufnahme in die miteinander geteilte Welt zugleich in die Position möglicher Zeugenschaft versetzen. Die grundsätzliche Form des Bezeugens kann aber nur in der Erfahrung des Gehört- und Beachtetwerdens existieren und auf Vertrauen als Herstellung von Konstanz für diese Weltstruktur basieren, was auch die Wahrhaftigkeit des Zeugen miteinbezieht. Der Zeuge, die performierte Bezeugung und das Bezeugte bilden ein soziales Geschehen, das der kooperativen Evidenzgewinnung dient und zugleich immer ethische Dimensionen impliziert. Sämtliche Voraussetzungen und Dimensionen der Zeugenschaft bilden für Liebsch einen "Komplex der Zeugenschaft", der sich als hermeneutisch durchaus nützlich erweist, um den Bezug des Zeugnisses auf eine radikal fraglich gewordene Welt "im Zeichen des Desasters" (Maurice Blanchot) zu beleuchten, das heißt im Zusammenhang mit Formen von extremer politischer Gewalt, die "ihre Opfer dem Anschein nach einer radikalen Weltlosigkeit überantworten sollte" und somit "die elementarste Voraussetzung der Zeugenschaft" und die Möglichkeit des Bezeugens selbst in Frage stellen.
Benoît Garnot beschreibt die Diversität historischer Konzepte der Zeugenschaft und die Veränderung ihrer Szenarien. Während diese in der Vormoderne in ihrer Performativität durch Ritualisierung und Sakralität gekennzeichnet waren, ist für das moderne Szenarium juridischer Zeugenschaft von einer Entsakralisierung zu sprechen, in der die "staatsbürgerliche Tugend" an die Stelle der "religiösen Pflicht" zur Verfolgung der Wahrheit trete. Anstelle einer angerufenen und entscheidenden göttlichen Instanz tritt die "freie richterliche Überzeugung", durch die das Amt wiederum dem Staat verpflichtet ist. Von einem Phänomen der Resakralisierung ist im Kontext der Opferzeugen zu sprechen; die Wahrheit dient hier auch der Memoria der Gemeinschaft.
Stefan Barton behandelt die Bedeutung des Zeugenbeweises im Strafverfahren. Im Zentrum steht die für den juridischen Kontext so wichtige Regelhaftigkeit zur Autorisierung des Zeugnisses, sowohl im Sinne eines Szenariums als auch bezüglich seiner Choreographie. Es gibt nicht nur einen festen Korpus an möglichen Beweisen ("Urkunden-, Augenscheins-, Sachverständigen- oder eben Zeugenbeweis"); vielmehr unterliegt jede Beweisart einem Regelwerk, so auch das Zeugnis. Dort, wo an anderen Stellen ein Faktor wie ein 'Zeugenhelfer' hinzutreten muss, um aus dem Zeugnis Gewissheit entstehen zu lassen, kann es eine Glaubwürdigkeitsprüfung sein, beispielsweise in einer psychologischen Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Auch vor Gericht wird das Zeugnis evaluiert. Und auch hier gilt, dass ein schwer fassbarer Überzeugungsfaktor am Ende Ausschlag gibt für die Evaluierung bzw. Relevanz des Zeugnisses: Für das Urteil entscheidend ist die Überzeugung des Richters bezüglich des verhandelten Sachverhalts.
Michael Bachmann untersucht die spezifische Situation von Theater und Performancekunst als "privilegierte Orte der (künstlerischen) Zeugenschaft". Nachdem er die grundsätzliche Ambivalenz der Beziehung zwischen dem Theatralen und der Rechtspraxis, zwischen Theater und Prozess, herausgestellt hat, analysiert Bachmann das südafrikanische Stück "Ubu and the Truth Commission" (1997), in dem eine Puppe das bezeugende Opfer verkörpert. Die Übertragung des Zeugenstatus auf eine explizit künstliche Figur erlaubt eine Reflexion, die auf "die ethische Frage der Stellvertretung zwischen verschiedenen Akteuren der Zeugenschaft und deren jeweilige Handlungsmacht sowie auf die Frage der Autorisierung" hinausläuft: "Wer gewinnt in welchem Rahmen auf welche Weise die Autorität, als Zeuge zu fungieren?" Bachmann zeigt, wie die Puppe als ästhetisches Objekt eine testimoniale Überzeugungskraft gewinnt und das Verhältnis von Handlungsmacht ('agency') und testimonialer Autorität veranschaulicht. Die ethisch-epistemische Frage der Autorität und Autorisierung des Zeugen wird letztlich auf das ästhetische Verfahren des Puppenspiels zurückgeführt, in dem die Differenz zwischen Bühnenfigur und Opferzeuge "einen Raum eröffnet, durch den das Zeugnis vermeintlich selbst zur Sprache kommt". Dieses "zur Sprache kommen" ereignet sich allerdings unterschiedlich, wenn es tatsächlich durch Sprache geschieht (wie etwa in Peter Weiss' "Ermittlung") oder eher durch einen körperlich-performativen Ausdruck (wie in William Kentridges Inszenierung von "Ubu").
Sibylle Schmidt untersucht die Sozialität einer Wissenspraxis, in der der Zeuge deshalb zur zentralen Figur wird, weil wir nicht alles selbst erfahren können. Nach Schmidt ist die interpersonale Struktur der Zeugenschaft und die intentionale Dimension des Bezeugens "das Spezifikum und zugleich die Crux des Zeugnisses", und in diesem Sinne ist von einer epistemischen Kooperation zwischen Zeuge und Zuhörer zu sprechen. Die interpersonale Struktur der Zeugenschaft unterscheidet das Zeugnis von der Spur oder dem Indiz. Nach Ricœur liegt die Valenz des Zeugnisses im Echo, das es findet - von hier ist es nicht weit zu der Überlegung, dass bei gelingender Zeugenschaft immer Aspekte der Überzeugung eine Rolle spielen müssen. Es reicht nicht, dass der Rezipient das Zeugnis hört und versteht, er muss von der Aufrichtigkeit des Zeugen und der Wahrheit der Aussage überzeugt sein: Ein Zeugnis "ist nie vollständig ohne die Akkreditierung und den Glauben der Rezipienten". Darüber hinaus wirft diese Dimension die grundlegende Frage auf, inwiefern die ethischen Gründe, die mit dem Vertrauen in den Zeugen und wiederum dessen Selbstverpflichtung seinem Adressaten gegenüber "auch als Prinzipien von Erkenntnis und Wissenschaft relevant werden können".
In Matthias Däumers Beitrag zum altjüdischen "Wächterbuch" (dem ersten Teil des äthiopischen Henoch-Pentateuchs) werden die Bedingungen untersucht, unter welchen ein Jenseitsreisender zum Zeugen werden kann. In der dargestellten Konstellation wird Henoch Zeuge einer schwer vermittelbaren Erfahrung, der des Sheol, bei der er von einem Engel als Zeugenschaftshelfer geleitet wird. Es erweist sich, dass die Konstellation 'Jenseitsreise mit begleitendem Zeugenschaftshelfer' später zum Modell für weitaus literarischere Jenseitsbegegnungen wird, wie zum Beispiel jener in Dantes "Commedia". Aus diesem Wandel vom religiösen zum literarischen Text ergibt sich aber auch rückwirkend und damit systematisch, dass die spezifische Zeugenschaftskonstellation der Jenseitsreisen generell als Reflexion (profan-)medialer Bedingungen gesehen werden kann. Der Zeugenschaftshelfer ist nicht nur eine authentifizierende, dem bereisten Ort immanente Figur, sondern Mittlerfigur des mit dem Ort verbundenen Wissens, das in der Jenseitsreise entweder nicht direkt sichtbar oder nicht direkt verstehbar ist. Damit aber wird der Engel zum Kristallisationspunkt der allgemeinen medialen Bedingungen von Zeugenschaft - und Literatur.
Die Szenographie der Zeugenschaft zwischen systematischer und kulturgeschichtlicher Perspektive
(2017)
Ausgehend von einer kritischen Bilanz der in den mittlerweile etablierten 'Testimony Studies' jüngst entstandenen Entwicklungen (insbesondere in der Literatur- und in der Kulturwissenschaft) untersucht Aurélia Kalisky den heuristischen Wert eines Grundmodells von Zeugenschaft, der in der Lage ist, kulturhistorische und systematische Perspektiven zu vereinen. Dabei wird der Begriff des 'Szenariums' durch den der "Szenographie der Zeugenschaft" untermauert. Dieses Modell der 'Szenographie' geht vom Befund einer Fragmentierung der Zeugnisformen und -konzepte aus, die aus der für jede historische Konstellation charakteristischen Spaltung von unterschiedlichen Wahrheitsformen resultiert. Das Denkbild der ‚Szenographie‘ erlaubt eine Darstellung der Akteure von Zeugenschaft innerhalb einer gegebenen Wissens- und Wahrheitsordnung und verdeutlicht darüber hinaus den Parallelismus zu ähnlichen Konstellationen. Als dynamisches Modell ermöglicht es, eine Entwicklung der Zeugnisformen darzustellen, die zugleich aus Brüchen und Kontinuitätslinien besteht, ohne dabei die kulturgeschichtlichen blinden Flecken sowie die epistemologischen Aporien, die durch die gängigen Typologien und Paradigmen von Zeugenschaft entstehen, zu reproduzieren. Der heuristische Wert der 'Szenographie' wird abschließend am Beispiel eines literarischen Textes deutlich: In "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" von Danilo Kiš wird der Zeuge und sein Bezeugen als prekäre Verhandlung der Wahrheit dargestellt, wobei das Bekenntnis des verfolgten Gläubigers im Mittelalter und das Bekenntnis des zu Unrecht angeklagten Opfers politischer Gewalt im 20. Jahrhundert verwirrende sowie fruchtbare Parallelismen aufweisen.
'Zeugenschaft' ist nach und nach zu einem wesentlichen kulturellen Muster geworden und der 'Zeuge' zu einer zentralen Figur, die eine gesamte Gesellschaft prägen. Die interdisziplinären und epochenübergreifenden Ansätze in Monographien oder in Sammelbänden lassen Zeugenschaft aber gleichzeitig als zutiefst kontrovers erscheinen, gerade weil sie aufgrund ihres interdisziplinären Charakters eigentlich nur umstritten sein kann. Schaut man sich die wissenschaftlichen Publikationen der letzten fünfzehn Jahre an, mag in der Tat die Variationsbreite der Begriffe 'Zeugnis' und 'Zeugenschaft' verunsichern. Einer derartigen Reichweite droht nämlich eine gewisse Unschärfe oder gar eine Art von Eklektizismus. In manchen jüngeren kulturwissenschaftlichen Studien scheint sogar lediglich eine indirekte, minimal konzipierte Zeugenschaftskonstellation in den untersuchten Objekten vorhanden zu sein, so dass die Begriffe des Zeugen und des Zeugnisses sich nahezu aufzulösen drohen. Die zentrale Rolle des Zeugen und der Status von Zeugenschaft in einem kulturellen und politischen Leben, in dem Wissen und Information stets als "ungewiss" (John Ellis) beschrieben werden, lassen die Klärung des Begriffs 'Zeugenschaft' und besonders die Frage nach ihrem 'Wert' als Instrument des Wissens und dessen Vermittlung umso dringender erscheinen.
Der Zeuge verkörpert eine Schlüsselfigur unserer Kultur und Wissenspraxis, obwohl das mittels Zeugenschaft generierte Wissen immer einen umstrittenen Status hat. In diesem Band werden verschiedene Typen und Formen des testimonialen Wissens diskutiert, kulturhistorische und systematische Perspektiven zusammengeführt und in ihren Verflechtungen zwischen epistemischem Wert und ethischer, politischer, sozialer, künstlerischer und religiöser Bedeutung beleuchtet. Im Fokus stehen dabei vor allem die Praktiken und Handlungsszenarien der Bezeugung, da sich in ihren Konstellationen und Dynamiken die Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses und die Optionen zur Etablierung eines Zeugenwissens entscheiden.
Bilder von Gesichtern sind immer interpretiert und entworfen. Sie setzen weniger die konkrete Person in Szene als vielmehr das, was an ihr als bedeutsam erachtet wird. Seit Jahrhunderten konzentrieren sich auf dem Gesicht vielfältigste Deutungen, Ansprüche, Wünsche und Zuschreibungen, die einer bündig entwickelten Geschichte des Gesichts im Wege stehen. Das Buch betrachtet religions-, wissens-, literatur- und kunsthistorische Zäsuren, in denen sich ein je neuartiger Bezug von Gesichtszeichen und Bildgebung formiert. Im Fokus stehen Positionen, die das Gesicht demonstrativ ausstellen, es verstellen oder vermeiden und aussparen. Gelöschte, geleerte, verschattete, fragmentierte, verdrehte, rückansichtige Gesichter rühren epistemologisch und ästhetisch an den Rand des Erkennbaren. Sie sind noch als Gesichter erfassbar, als lesbare Oberflächen werden sie jedoch prekär und gehen nicht länger in Gewissheit und Wiedererkennung auf.
Diese Ausgabe der Interjekte präsentiert erstmals ein vollständiges Verzeichnis von Karlheinz Barcks Schriften. Der 1934 in Quedlinburg geborene Karlheinz "Carlo" Barck gehörte zu den wenigen Romanisten aus der DDR, die schon vor dem Fall der Mauer internationale Wertschätzung genossen. Seine literaturgeschichtlichen Beiträge zur spanischen und französischen Moderne, zur Geschichte der Literaturwissenschaft und zur Theorie ästhetischen Denkens wurden international rezipiert. Als Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (dem Vorgängerinstitut des ZfL) gehörte er zu den maßgeblichen Initiatoren des Wörterbuchprojekts der "Ästhetischen Grundbegriffe". Bis zu seinem Tod 2012 prägte er mit seiner enzyklopädischen Gelehrsamkeit, seiner intellektuellen Neugierde und Gesprächsbereitschaft die Arbeit am ZfL.
Der junge Lukács und Goethe
(2017)
Ulisse Dogà wendet sich dem Stellenwert Goethes im Frühwerk von Georg Lukács zu und widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, die ein konsequentes Interesse von Lukács an Goethe erst mit der marxistischen Phase seines Denkens einsetzen lässt. Entgegen dieser 'paulinischen' Bekehrungsfigur weist er Goethe als problematischen und ambivalenten, durchaus aber zentralen Referenzautor bereits in Lukács' Schriften zum Drama, in der Aufsatzsammlung "Die Seele und die Formen" (1909) und in der bekannten "Theorie des Romans" (1920) aus. Anhand seiner Goethe-Lektüren zeige sich auch die verborgene Kontinuität von Lukács' Denken. Eine Identität von Subjekt und Objekt, die beim marxistischen Lukács die proletarische Revolution herzustellen habe, bilde nämlich schon im Frühwerk den Hintergrund, vor dem Goethe analysiert und beurteilt werde. Seine Überlegungen zu Goethe lasse Lukács systematisch in eine geschichtsphilosophische Reflexion formästhetischer Fragen ein. Betrachte er das Goethe'sche Drama als 'unfertig', da es "das Verhältnis von Held und Schicksal ungeklärt" lasse und die Diskrepanz zwischen Individuum und Geschichte die dramatische Form in lyrische und epische Bestandteile zerlege, so habe Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als einen Kompromiss zwischen dem Idealismus des "Don Quichotte" und der Desillusionsromantik der "Éducation sentimentale" angelegt. Mittels der Ironie komme es hier zu einer schwierigen Versöhnung von Ich und Welt, die die zerrissene Form des Dramas im Roman heile und die Lukács sogar einen zeitweiligen Ausweg aus seiner Negation der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt habe. Dies verrate auch sein Interesse an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er insgesamt als gelungene Lösung und als Überwindungsversuch insbesondere kantischer Dualismen betrachte. Dauerhaft befriedigen konnten Goethes vermeintliche Apotheosen von organischer Einheit und Erfüllung Lukács in Dogàs Augen gleichwohl nicht. Da diese dem Bereich der Kunst verhaftet geblieben seien, habe die Ästhetik "den Stab der Utopie" schließlich an die (marxistische) Politik übergeben müssen.
Adelina Debisow widmet sich der Inszenierung eines Tabus auf der Theaterbühne des 17. Jahrhunderts. In ihrem Aufsatz "Die 'obescénité' als inszenierter Tabubruch in der Komödie des 17. Jahrhunderts - Molières 'L'École des femmes' und 'La Critique de L'École des femmes'" beschreibt die Autorin ein Tabu, das zur Zeit Molières noch nicht als solches benannt werden kann, da der Begriff erst im 18. Jahrhundert überliefert wird. Dennoch weist seine Komödie etwas Unaussprechliches auf; das Moment sexueller Überschreitung wird im Bild der gestohlenen Schleife der Figur Agnés coram publico angezeigt und in der später erscheinenden 'Critique' mit dem Begriff der 'Obescénité' als Unsagbares gekennzeichnet.