CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Traditional philology in Japan (kokubungaku) is often described, both at home and abroad, as having a phobia of theory. The literary scholar often speaks the same language as the poet, and in many cases, as in the second edition of Iwanami Literary Studies (Iwanami Kōza Bungaku, 1975–1976), they are one and the same person. However, a closer look at Japanese literary studies since the translation of Eagleton´s Literary Theory in 1985 reveals that this paradigm has already started to shift. The publication of the third edition of Iwanami Literary Studies, and in particular the supplement Literary Theory (Bungaku Riron, 2004) distinctly reflects this shift, at least among the younger generation of literary scholars. In my paper I will show not only the shift to theory in recent Japanese literary studies, but also that theory itself (as it is used in Japan) has experienced that worldwide movement described as the “cultural turn.” In order to prove this observation I will take a closer look at the contemporary English, German and Japanese discourse on literary theory and, in particular concepts such as contingency, (new) contextuality, and culturalism.
In trying to study the idea of landscape (fukei) in Japanese waka-poetry, one may find oneself confronted with a great variety of concepts. All of these share commonalities in that they are not at all defined, that their meaning depends on personal usage (at the level of the producer, as well as of the researcher who often speaks the same language), and that they can be understood on a wide spectrum between the two extreme positions marked by fiction and reality (without, of course, any scientific concept about what fiction and reality might be). Although European traditions are coping with the concept of landscape in an aesthetical and philosophical way, there is no such comparable tradition in traditional Japanese literary history (kokubungaku). Because of this, there is no satisfactory way to conceptually understand waka-landscape, since the very basic key-term itself is not mutually accessible. European and Japanese concepts of landscape may not, therefore, be able to be brought together. To have an international scientific discussion on landscape (found in every culture historically and up to the present), it is necessary to develop a concept of landscape which is not only an issue of arts, aesthetics or philosophy, but also the subject of anthropological approaches and cultural studies. In this paper, I attempt to develop a concept of landscape, which is based on constructivism and the psychology of perception and memory. I will also show how constructivist thought has gained great popularity in German social and cultural studies.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Wir möchten im folgenden den Versuch unternehmen, das zu skizzieren, was wir die 'philologische Frage' nennen. Darunter verstehen wir die Frage nach dem epistemischen Status philologischer Theorie und der daraus resultierenden Praxis: Auf welche philologischen Traditionen und theoretischen Prämissen nehmen die hier versammelten Texte Bezug, in welchem Kontext stehen sie? Auf welche Ziele wird die philologische Tätigkeit hin ausgerichtet – wie wird das 'Erkenntnisinteresse' der Philologie definiert? Welches Autorschaftskonzept und welches Textverständnis werden zugrunde gelegt? Der Ausgangspunkt all dieser Fragen ist die etymologische Bedeutung des Begriffs „philologia“, gefasst als 'Liebe zum Wort'. Der Philologe ist demgemäß ein Wort-Liebhaber. Doch was heißt hier 'Liebe'? Und was ist überhaupt ein Wort?
Unsere Ausgangsthese ist, dass sich die unterschiedlichen methodischen Zuspitzungen und Richtungswechsel, die die Philologie seit ihrer disziplinären Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert erlebt hat, als Parametrisierung des Verhältnisses von Konjektur und Krux beschreiben lassen. Anders gewendet: Konjektur und Krux markieren die Grenzen eines epistemischen Bezirks, der von unterschiedlichen philologischen Methodenpolitiken konfiguriert wird. Die sich daraus ergebende "disziplinäre Matrix" an Verfahrensweisen, die den Anspruch erheben, 'Methode' zu sein, hat insofern politischen Charakter als die Entscheidung für bzw. gegen eine bestimmte Verfahrensweise implizit oder explizit ein Interesse verfolgt, das in aller Regel über das Anliegen einer bloßen Textrekonstruktion entschieden hinausreicht: Es geht darum, die Bedingungen festzulegen, unter denen eine philologische Aussage als 'wissenschaftlich qualifiziert' gelten darf.
Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike […] Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. […] Im Folgenden möchte ich […] der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab? Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen? Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei?
Die Reflexion der Grenze zwischen Text und Nicht-Text findet zumeist ‚am Rahmen’, nämlich im Paratext, statt. Insbesondere die „Vorredenreflexion“ […] will bei den Lesern das „Fiktivitätsbewußtsein“ […] für den nachfolgenden Text wecken. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie dieses Grenzbewusstsein entsteht. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass Paratexte – vor allem Vorworte – einen Zugang zum Haupttext eröffnen, indem sie sich selbst als Übergangszone in Szene setzen: als Übergangszone, in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden. Die Rede vom Paratext als Übergangszone impliziert neben dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit auch eine Form der Bewegung, durch die diese Übergangszone überhaupt erst konstituiert wird. Es handelt sich […] um eine „Praktik im Raum“ […] durch die der Leser – die Leserin – den Weg aus der realen Lebenswelt in die fiktionale Welt des Textes finden soll. Dieses paratextuelle travelling möchte ich im Rekurs auf Jean Paul beschreiben – ein Schriftsteller, der wie kein anderer eine Vielzahl spielerischer Praktiken im paratextuellen Raum entwickelt hat. Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass Jean Paul mehr Wert auf seine Paratexte als auf seine Texte legt. Zugleich, und dies scheint mir für das Thema Raum und Bewegung in der Literatur interessant zu sein, fällt auf, dass Jean Paul im Rahmen seiner Paratexte ostentativ Raummetaphern bemüht.
Anrufbeantworter und Online-Chat sind zwei telekommunikative Phänomene unseres hoch-technisierten Alltags, die auf eigentümliche Weise zwischen Stimme und Schrift changieren. Der Anrufbeantworter dient – wie die Mailbox des Handys – der Aufzeichnung von gesprochenen, flüchtigen Äußerungen. Aufgrund ihrer Wiederholbarkeit gewinnen diese Äußerungen einen gewissen Schriftcharakter – sie befinden sich sozusagen im Übergang zwischen "medialer Mündlichkeit" und "konzeptioneller Schriftlichkeit". Der Online-Chat stellt das Komplementärphänomen zum Anrufbeantworter dar: Er ist eine Kommunikationsform zwischen vernetzten Computern, die schriftlich erfolgt, aber den Charakter von mündlichen Äußerungen hat, da die Kommunikation synchron verläuft. Der Online-Chat befindet sich so besehen im Übergang zwischen medialer Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit. Die Besonderheit von Anrufbeantworter und Online-Chat liegt aber nicht nur in der spezifischen Art, wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit interferieren, sondern darin, daß diese Interferenz unter dem Vorzeichen der Telekommunikation steht. Wodurch zeichnet sich Telekommunikation aus? Durch den wunderbaren Moment der Verbindung. Dieser Moment wird im folgenden der Bezugspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift sein.
Geht man davon aus, die Aufgabe der Philologie sei eine – wie auch immer geartete – »historische Textpflege«, die auf die »Ermittlung und Wiederherstellung von Texten« abzielt, dann steht die Aufgabe der Wiederherstellung in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Lesbarmachen und der Bewahrung eines Texts: In welchem Maße darf man in einen überlieferten Text eingreifen, um ihn lesbar zu machen? In welchem Maße muss man einen Text in seiner überlieferten Form bewahren? Die Formulierung ›in welchem Maße‹ macht deutlich, dass es sich um eine Frage der Angemessenheit handelt, deren Antwort zum einen davon abhängt, mit welchen Schwierigkeiten sich die Aufgabe der Wiederherstellung des Textes konfrontiert sieht, zum anderen von der gerade vorherrschenden ›Methodenpolitik‹, die gleichsam als »stilgemäßer Denkzwang« fungiert. Konjektur und Krux markieren dabei – so haben wir einleitend erklärt – zwei komplementäre Positionen, zwischen denen die Methodenpolitiken der Editionsphilologie changieren. Die Konjektur, gefasst als »plausible Vermutungen zur Verbesserung des Textes«, ist eine inferentielle Intervention, um einen lücken- oder fehlerhaften Text wieder herzustellen mit dem Ziel, ihn lesbar und verstehbar zu machen. Die Krux, gefasst als indizierte Nicht-Intervention, bewahrt den Text in seiner Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit – auch auf die Gefahr hin, dass Lesbarkeit und Verstehbarkeit darunter leiden.
Dilettantische Konjekturen
(2009)
»Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt«, schreibt Max Weber in […] »Wissenschaft als Beruf«, »sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.« […] Anstatt zu fragen, wann eine Erkenntnis als »wissenschaftlich qualifiziert« gelten kann […] beschreibt Weber die Einstellung […] des Wissenschaftlers […]: Ein leidenschaftliches Erkenntnisinteresse für seinen Untersuchungsgegenstand haben – ist das nicht genau die Haltung, die den Enthusiasten, den Liebhaber, den Amateur, sprich, den Dilettanten auszeichnet? […] Inwiefern kann Leidenschaft zum Beruf des Wissenschaftlers qualifizieren? […] »Nun ist es aber Tatsache: daß mit noch so viel von solcher Leidenschaft, so echt und tief sie sein mag, das Resultat sich noch lange nicht erzwingen läßt. Freilich ist sie eine Vorbedingung des Entscheidenden: der ›Eingebung‹«. […] Offenbar verwendet Weber die Formulierung ›Eingebung‹ synonym mit dem Begriff ›Einfall‹, dessen Resultat die ›Konjektur‹ ist. Im Anschluss an die beiden Zitate aus Webers Aufsatz stellt sich in meinen Augen nicht nur die Frage, welche Rolle die Leidenschaft für den berufenen Wissenschaftler spielt, sondern auch inwiefern der Umgang mit Konjekturen und Einfällen zugleich den Unterschied zwischen Fachmann und Dilettant markiert. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.
Seit einigen Jahren ist nicht nur eine Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang zu beobachten, sondern auch die stete Klage über Theoriemoden zu hören, die dazu führen, dass bestimmte Schlüsselbegriffe inflationär gebraucht – und damit gleichsam ver-braucht werden. Schlüsselbegriffe, die weniger für ein konzises Forschungsprogramm, sondern eher für ein Bündel von Herangehensweisen und Aufmerksamkeitsfokussierungen stehen: Zeichen, Diskurs, Differenz, System, Medium, Performanz, Körper, Materialität fungieren als "Travelling Concepts'', die den Prozess der Theoriebildung in Gang halten, dabei allerdings auch deutliche Verschleißspuren davontragen – so wie, um im Bild zu bleiben: der Reisekoffer. Freilich treten nicht nur Begriffe, sondern (Blumenberg lässt grüßen!) sehr häufig auch Metaphern die Reise auf den verschlungenen Wegen der Kulturforschung an. Diese Metaphern sind mehr als Vehikel, sie sind Motoren, genauer gesagt: Katalysatoren von Theoriebildungsprozessen, durch die sowohl Gegenstandsbereiche als auch Herangehensweisen (und damit verbunden: Fragestellungen) modelliert werden. Zwei dieser Metaphern möchte ich im folgenden Untersuchen: Hybridität und Aufpfropfung.
"Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte?", fragt Jacques Derrida in seinem 1972 erschienen Aufsatz 'Signature evenement contexte', um kurz darauf festzustellen: "Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen." Zitieren wird hier als eine Bewegung des Herausnehmens aus einem Kontext und Einfügens in einen anderen Kontext beschrieben - und für diese doppelte Geste, die dem Akt des Zitierens zugrunde liegt, verwendet Derrida die Metapher der Pfropfung: "Auf dieser Möglichkeit möchte ich bestehen", heißt es in 'Signatur Ereignis Kontext': der "Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens [greffe citationelle], die zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört". Damit wird die Pfropfung zu einer Figuration, zu einer Verkörperung dessen, was im Akt des Zitierens und durch den Akt des Zitierens geschieht, wobei den Anführungszeichen eine besondere Funktion zukommt: Sie signalisieren, dass das Zeichen oder die Zeichenkette, die zwischen Anführungszeichen gesetzt wurden, anders interpretiert werden soll als sie bisher interpretiert wurde. Anführungszeichen signalisieren also einen Wechsel des "Deutungsrahmens". Das gilt für einfache Anführungszeichen, die eine ironische Distanzierung signalisieren ebenso wie für die doppelten Anführungszeichen. Die doppelten Anführungszeichen zeigen nicht nur einen Wechsel des Deutungsrahmens an, sondern sie zeigen auch an, dass das, was zwischen die doppelten Anführungszeichen gesetzt wurde, nicht von dem stammt, der spricht oder schreibt. Sie zeigen ein 'von jemand anderem' an: sei es, um diesem anderen damit die Ehre der Urheberschaft zu geben und damit zugleich sein Copyright zu respektieren; sei es, um dem anderen die Verantwortung für das, was zwischen den Anführungszeichen steht, zuzuschreiben. Insofern zeigen doppelte Anführungszeichen zugleich die Distanz und die Differenz zwischen zitierendem Subjekt und zitiertem Subjekt an.
Im Folgenden möchte ich das gerade angedeutete Spannungsfeld zwischen Kopie und Original unter medien- und kulturhistorischen Vorzeichen thematisieren. Meine Hypothese ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem 'Copy and Paste' respektive 'Cut and Paste' als einer Strategie der Texterzeugung und der Kulturtechnik der Pfropfung: einem ursprünglich botanischen Verfahren, bei dem Praktiken des Schneidens, Klebens und Kopierens eine wesentliche Rolle spielen. Dabei möchte ich insbesondere zeigen, wie sich das 'Prinzip Pfropfung' in der Interaktion mit den 'Trägermedien' von Originalen und Kopien realisiert – vor allem mit Blick auf jene 'Papierpraktiken', die mit den Kunst-Strategien der klassischen 'Avantgarde'-Strategien reüssieren: der Collage, der Montage, der Assemblage; Praktiken, die, glaubt man Antoine Compagnon, Echos einer "geste archaïque du découper-coller" sind, die der Logik des 'Cut and Paste' folgen.
Den Romanen des "philosophischen Schriftstellers" Italo Calvino lassen sich grundlegende Fragen der zeitgenössischen Ästhetik entnehmen. Sie eröffnen einen Horizont, innerhalb dessen sich auch das theoretische und literarische CEuvre des "Roman-schreibenden Philosophen" Umberto Eco bewegt, ja es scheint fast, als befänden sich die Werke beider in einem Dialog. Jedes lebendige Kunstwerk ist, wie Eco betont, ein Kunstwerk in Bewegung, offen für neue interpretative und kommunikative Möglichkeiten sowie für neue Möglichkeiten des ästhetischen Genusses. Der Interpretationsprozeß gleicht einer Pendelbewegung zwischen der "Offenheit" der Rezeptionsmöglichkeiten und der "Geschlossenheit" bzw. Bestimmtheit des Werkes durch seine Struktur. Der Interpret steht demnach innerhalb einer nicht stillzustellenden Bewegung. in deren – immer erneut notwendigen – Nachvollzug er sowohl Erkenntnisse über die "kombinatorischen Möglichkeiten des Codes" gewinnt, als auch über "die Codes (...) einer bestimmten Periode der Kunstgeschichte." Daher ist es die Aufgabe der semiotischen Interpretation eines ästhetischen Textes, "das strukturierte Modell für einen unstrukturierten Prozeß eines kommunikativen Wechselspiels" zu liefern. Für Eco ist die Interpretation ein pragmatisch-hermeneutischer Prozeß, der im "Taumel der Möglichkeiten" bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten ausschließt und andere privilegiert. Ein "epochales" Kunstwerk ist nach Eco eine "epistemologische Metapher", es repräsentiert ein "diffuses theoretisches Bewußtsein", das von den wissenschaftlichen und ästhetischen Theorien seiner Zeit gespeist wird. Dies gilt in besonderem Maße für die Romane Calvinos und Ecos: Der "Held" ihrer Romane ist der Interpretationsprozeß im Spannungsfeld zwischen Autor, Text und Leser. Dabei geht es um die Frage: Wie wird sich der Interpret im Verlauf der Interpretation seiner Rolle als Interpret bewußt? Die Absicht Ecos und Calvinos ist eine aufklärerische: Sie wollen einen "neuen Leser" schaffen, der sich seiner Rolle als Leser bewußt ist und der die Verantwortung für seine Lektürekonzeption übernimmt. "Ein Text will für seinen Leser zu einem Erlebnis der Selbstveränderung werden".
Die Neuartigkeit des hier gewählten Ansatzes besteht darin, Komiktheorie, Wissenschaftslogik und Sprachphilosophie so aufeinander zu beziehen, daß die komische Abweichung als Resultat diskursiver Dummheit beschrieben werden kann. In diesem Zusammenhang soll die Entfaltung des Peirceschen Abduktionsbegriffs dazu dienen, die bei der "komischen Abweichung von der Norm" zusammenspielenden anthropologischen, kulturellen und diskursiven Theorien des Lachens und des Komischen unter einem einheitlichen systematischen Gesichtspunkt zu explizieren. Dies wirft insofern ein neues Licht auf die bisherigen Komiktheorien, als diese die komische Unangemessenheit in erster Linie als Abweichung von konventionalen Normen begriffen hatten, deren offensichtlichste Form die karnevaleske Verkehrung ist. Dagegen werde ich mit Blick auf die "Logik der Abduktion" zeigen, daß die komische Unangemessenheit als karnevalisierende Verkehrung der ökonomischen Leitprinzipien abduktiven Folgerns aufzufassen ist – und zwar hinsichtlich der psychologisch motivierten Denkökonomie des einzelnen, der forschungslogisch motivierten "Economy of Research" und der dialogisch-kommunikativ motivierten "Ökonomie des Diskurses".
Heute kann man eine ambivalente Tendenz beobachten: Zum einen wird in soziologischen, aber auch in literatur-und kulturtheoretischen Ansätzen der Aspekt der Differenz stark gemacht. Zum anderen ist ein anti-dichotomischer Denkstil zu beobachten, der, wie Zygmunt Bauman in seinem Buch Moderne und Ambivalenz schreibt, "das Prinzip der Opposition selbst, die Plausibilität der Dichotomie, die es suggeriert, und die Möglichkeit der Trennung, die es fordert", in Frage stellt (80).
In eben diesem Sinne erklärt Bruno Latour in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen, Kultur solle nicht länger als ein Artefakt begriffen werden, das wir "durch Ausklammern der Natur produziert haben". Latours These lautet daher: "Es gibt nur Naturen/Kulturen" (138). Das heißt, eine durch Binde- respektive Schrägstrich verbundene, historisch variable Vernetzung von Naturen und Kulturen. [...]
Ich möchte vorschlagen, den Bindestrich durch das Modell der Aufpfropfung zu beschreiben, genauer gesagt: als Interferenz von Pfropfungs- und Hybridmodell Um es vorweg zu nehmen: Ich gehe davon aus, dass das Modell der Pfropfung eine zweifach codierte Wissensfigur ist: Die Pfropfung steht zum einen für ein Ensemble kulturtechnischer Verfahrensweisen, durch die Naturdinge auf spezifische Weise in Kulturdinge transformiert respektive im weitesten Sinne des Wortes 'übersetzt' werden; zum anderen steht sie für ein Ensemble kulturtheoretischer Denkweisen, die diese Transformations- respektive Übersetzungsprozesse als Kulturmodell beschreiben: als Verbindungs-, als Vernetzungsformen zwischen Natur und Kultur, aber auch zwischen Kulturen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen, möchte ich im Folgenden zwei Fragekomplexe skizzieren, die mich momentan beschäftigen- im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts, das den Arbeitstitel: Greffologie trägt.
Konjektur
(2016)
Zu Beginn seines Buches 'Die Kunst der Vorausschau' umreißt Bertrand de Jouvenel nicht nur sein Projekt der "Futuribles", das er als Alternative zu Ossip K. Flechtheims "Futurologie" in Anschlag bringt, sondern reflektiert auch das Vokabular seiner Untersuchung – insbesondere den Begriff der Vermutung, der in der französischen Ausgabe titelgebenden Charakter hat: 'L’Art de la Conjecture' heißt Jouvenels 1964 erschienenes Buch im Original – und spielt damit explizit auf Jacob Bernoullis 1713 erschienene 'Ars Conjectandi' an. Stand coniectura im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denken als Chiffre vorläufiger menschlicher Mutmaßung im Gegensatz zu überzeitlichem göttlichem Wissen, so findet mit Bernoulli eine radikale Mathematisierung der "Konjekturalphilosophie" statt: Die 'Conjectura' ist als "wahrscheinliche Meynung, so aus gewissen Umständen entstehet und herrühret", nunmehr das Ergebnis einer komplexen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, die, losgelöst von empirischen Raum-Zeit- Verhältnissen, als kontingentes Spiel möglicher Ereignisse in möglichen Welten kalkuliert werden. Damit nimmt die Konjektur – wörtlich: das 'Zusammenwerfen' – einen epistemischen Zwischenraum im Spannungsverhältnis von Spekulation und Kalkulation ein, der ihre epistemologische Stellung bis heute bestimmt: Die 'Ars Conjecturandi' wird zur Grundlage von statistischen Theorien, "for assessing the probability of hypotheses in the light of data". Das heißt zugleich: Der Charakter der Konjektur wird nicht mehr allein durch die spekulative Annahme möglicher Ereignisse konfiguriert, sondern durch komplexe Kalkulationen, denen die Aufgabe zufällt, die mögliche Welt der Mutmaßung mit der wirklichen Welt zu verzahnen – vermittelt über eine "Zwischentätigkeit", nämlich das "Bauen von Modellen", die gleichsam ein Repertoire von präsumtiven Vorannahmen bereitstellen. Der Wechsel von einer Erkenntnistheorie, die ihre Wahrheiten im Rekurs auf eine göttlich gesicherte Weltordnung ermittelt, hin zu einer Erkenntnistheorie, die bloß vorläufige Wahrheiten in Relation zu selbst gebauten Modellen finden kann, impliziert einen Wechsel im "konjekturalen Paradigma". Aus einem mantischen Divinationskonzept, das anhand von signalhaften 'Vorzeichen' den göttlichen Willen zu erraten sucht, wird ein profanes Konzept des Aufstellens von Hypothesen, das sich bei der Deutung symptomatischer Anzeichen an den kalkulierbaren Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit orientiert – und zwar sowohl im Rahmen von Diagnosen als auch im Rahmen von Prognosen.
Der Beitrag widmet sich bedrucktem Papier, das Müll geworden ist. Dabei wird den unterschiedlichen Gründen für die Müllwerdung von Texten nachgegangen: von technischen Mängeln bis zum Makel mangelnden Publikumsinteresses. Umgekehrt geht es aber auch um die Textwerdung von Papier-Müll: eine Operation, die an der Nullstufe intertextueller Produktivität zu beobachten ist- und die die Strukturenliterarischer Wert- und Unwert-Produktion sichtbar macht.
Seit dem sogenannten 'spatial turn' hat die Reflexion unterschiedlicher Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften Hochkonjunktur. Dabei wird immer wieder auf einen Aspekt verwiesen, der gleichwohl merkwürdig randständig bleibt: der Zwischenraum als materielle oder imaginäre Grenze. Sei es die häusliche Schwelle (Bachelard) oder der Schwellenritus (van Gennep), der postkoloniale 'in-between-space' (Bhabha), die paratextuelle 'zone intermediaire' (Genette) oder eine assoziative Ikonologie des Zwischenraums (Warburg). All diese Aspekte verweisen auf ein besonderes Feld von Praktiken im Raum, die in einem Zwischenbereich stattfinden, nämlich die Bewegungen im Zwischenraum. Ausgehend von den Hypothesen, dass erstens Räumlichkeit durch Bewegungen im Raum konstituiert und zweitens durch Zwischenräumlichkeit definiert wird, stellen sich die folgenden Fragen: Wie bewegt man sich im 'Dazwischen'? Gibt es spezifische 'zwischenräumliche Bewegungspraktiken' – und wie wirken sich diese sowohl auf die Konstitution des Raums als auch auf die Repräsentation des Zwischenraums aus?
Der vorliegende Band versammelt eine Anzahl grundlegender Texte der Kulturwissenschaft, die Antwort auf zwei Fragen geben sollen, nämlich erstens: Was ist Kultur? und zweitens: Was ist Kulturwissenschaft? Dabei ist davon auszugehen, daß sich beide Fragen wechselseitig bedingen, mehr noch: daß es Interferenzen zwischen Kulturbegriff und Kulturwissenschaft gibt: […]. Möglicherweise muß man bereits an dieser Stelle Zweifel anmelden, ob die beiden […] Was-ist-Fragen überhaupt sinnvoll sind – implizieren sie doch einen essentialistischen Kulmrbegriff. Sollte man sie nicht ersetzen durch die Fragen: Was macht Kultur? Und: Was macht Kulturwissenschaft? Im folgenden können vermutlich weder die Was-ist-Fragen noch die Was-macht-Fragen befriedigend beantwortet werden; vielmehr möchte ich versuchen, den Raum zwischen diesen beiden Fragestellungen zu erkunden, um zu klären, um welche Art von Raum es sich dabei handelt. Aber auch, um zu klären, was Kulturwissenschaft in diesem, aus diesem »in between space« macht. Wie transformiert sie diesen »Zwischenraum« in einen »Denkraum«?
Aby War burg hat seine kulturwissenschaftliche Herangehensweise einmal als »historische Detektivarbeit« umschrieben, die dem Prozess der »Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens« auf die Spur zu kommen versucht. Folgt man dieser Auffassung, dann könnte man daraus den Schluss ziehen, dass sich die Logiken und Praktiken der Kulturforschung zum großen Teil an detektivischen Denk- und Arbeitsformen orientieren. Nun ist die detektivische Spurensuche aber auch das Modell semiotischer Verfahren: ein Modell, das man im Anschluss an Carlo Ginzburgs Essay zur Spurensicherung gerne auch als »Indizien-Paradigma« bezeichnet, wobei zwei Begriffe im Zentrum stehen: der Begriff des Symptoms und der Begriff der Konjektur. […] Angesichts einer kulturwissenschaftlichen Methodenreflexion, die sich sowohl gegen die Geltungsansprüche eines auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zielenden Wissenschaftsverständnisses als auch gegen eine Semiotik wendet, die lange Zeit als „master-theory“ auftrat, stellt sich nicht nur die Frage, wie sich die kulturwissenschaftliche Detektivarbeit von der semiotischen Spurensicherung unterscheidet, sondern auch, wie sich die semiotischen Einsichten über verschiedene Formen von symptomatischer Bedeutsamkeit für die kulturwissenschaftliche Detektivarbeit respektive eine ‚Logik der Kulturforschung‘ nutzbar machen lassen. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist eine Merkwürdigkeit, nämlich dass sich – so hat es zumindest den Anschein – die Kulturwissenschaft gerade da programmatisch vom semiotischen Indizien-Paradigma abzugrenzen sucht, wo die größte Übereinstimmung herrscht, nämlich da, wo es um Zeichen und um die Deutung dieser Zeichen im Rahmen eines kulturellen Systems »auslegbarer Zeichen « geht.
»Medium«, so lesen wir im Vorwort des ‚Kursbuchs Medienkultur’, »heißt Mitte und Mittler, Vermittlung und Vermittler und appelliert an die Frage, wie die Rolle, die Tätigkeit und das Material dieses Dazwischen genauer beschaffen sei«. Damit ist die Frage »Was istein Medium?« offensichtlich an die Frage »Wie ist ein Medium?« gekoppelt. Was macht ein Medium in diesem Dazwischen? Wenn man der Ansicht zustimmt, dass es Medien in einem »substantiell und historisch stabilen Sinn« nicht gibt, da »[w]eder materielle Träger noch Symbolsysteme oder Techniken der Distribution« hinreichen, um den Begriff des Mediums zu explizieren, dann tritt an die Stelle einer substantiellen Antwort auf die Was-ist-ein-Medium-Frage eine Das-macht-das-Medium-These: die These nämlich, dass Medien das, was sie vermitteln, verarbeiten oder speichern, »unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind«. Medien sind, mit anderen Worten, Rahmenbedingungen, die konstitutiv auf das, was sie vermitteln, einwirken. Diese eigentümliche Dynamik der medialen Rahmung fasst die Mediologie im Ausgang von Regis Debrayals System Dispositiv – Träger – Prozeß: ein System, das die Verfahren der Übertragung determiniert; in die gleiche Richtung zielt Sybille Krämer, wenn sie feststellt, dass Medien »im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen«.
Der Begriff des Rahmens hat in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichsten Kontexten Konjunkturen erlebt: in der Anthropologie und der Soziologie als kontextsensibler Handlungsrahmen, in den Theaterwissenschaften als Inszenierungsrahmen, in der Literaturwissenschaft als paratextuelle Rahmung, in der Linguistik als kognitiver Repräsentationsrahmen respektive als Skript – und, nicht zu vergessen, in der Kunstwissenschaft als Bildrahmen. Dabei steht jede "Aufmerksamkeit für Rahmungen" in einem Spannungsverhältnis zwischen einem Interesse für explizite, sprich: materielle und insofern sichtbare Formen der Rahmung einerseits und einem Interesse für implizite, konzeptionelle, sprich stillschweigend vorausgesetzte Interpretationsrahmen andererseits. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Das Problemfeld 'Rahmen' wird durch das Verhältnis von phänomenaler Rahmenwahrnehmung und funktionalem Rahmenwissen bestimmt, wobei sich in der Verhältnisbestimmung zugleich die Rahmenbedingungen von textuellen, theatralen, pikturalen und technischen Konfigurationen zeigen.
Was ist ein Herausgeber? Wie verhalten sich Autorschaft und Herausgeberschaft zueinander? Welche Funktion hat der Herausgeber als diskursive Instanz im Rahmen und am Rahmen literarischer Texte? Diesen Fragen geht Wirths Untersuchung sowohl mit Blick auf die literaturwissenschaftlichen Ansätze zum Thema Autorschaft nach, als auch mit Blick auf die Literatur des Zeitraums 'um 1800', in dem sich der moderne Autorschafts-begriff entfaltet. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation bleibt zu klären, welche Rolle der fiktive Heraus-geber bei der Genese moderner Autorschaft spielt, ja ob der emphatische Autorbegriff der Genieästhetik womöglich nur eine spezifische Transformation der Funktion Herausgeber ist. Im systematischen ersten Teil geht es darum, die Grundzüge eines allgemein wirksamen editorialen Dispositivs herauszuarbeiten, das sich im Rahmen als Arrangement des Textes und am Rahmen als Paratext, etwa als editorialer Kommentar, manifestiert. Die exemplarischen Analysen des zweiten Teils werden als verschiedene Formen der Interferenz von Autorfunktion und Herausgeberfunktion im Kontext der poetologischen Debatten der Zeit um 1800 analysiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Problemen der Schrift und des Schreibens, wie sie im Rahmen der "Schreib-Szenen" und der Editions-Szenen dargestellt werden.
Logik der Streichung
(2011)
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: Ein Wort, ein Satz, ein Abschnitt, eine Seite wurde gestrichen. Was ist, mit anderen Worten, das Synonym dessen, was wir als Streichen bezeichnen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Man kann das Streichen als ein Löschen, als ein Tilgen begreifen. Oder aber als Spur eines korrigierenden Überarbeitens: eines Umschreibens im Sinne des Ersetzens und Kürzens, aber auch im Sinne eines Überschreibens.
Schreiben hat den Charakter eines intentionalen Aktes – es setzt die willentliche Entscheidung zur Produktion und zur Positionierung einer Buchstabenfolge voraus. Auch das Streichen hat den Charakter eines intentionalen Aktes – nämlich die bereits produzierten Buchstabenfolgen willentlich zu verneinen, sie zu verwerfen. Almuth Gresillon spricht im Kapitel "La rature " ihres Buchs "La mise en ceuvre" von der "existence double", die der graphischen Materialitat der Streichung einen ambivalenten Charakter verleiht.
Diese doppelte Existenz der Streichung - worin besteht sie?
Erstens: Streichungen hinterlassen sichtbare Spuren auf dem Papier.
Zweitens: Schreibspuren werden durch eine Streichung nicht annulliert.
"His ignorance", so lesen wir im zweiten Kapitel von Conan Doyles 'A Study in Scarlet', das den Titel "Science of Deduction" trägt, "his ignorance was as remarkable as his knowledge". Sherlock Holmes, seines Zeichens Meisterdetektiv und Fürsprecher exakten Detailwissens, überrascht seinen Freund durch eklatantes Nicht-Wissen: von Gegenwartsliteratur, Philosophie und Politik; "he appeared to know next to nothing", schreibt Watson, und seine Überraschung erreicht ihren Höhepunkt, als er herausfindet, dass Holmes nichts über die Zusammensetzung unseres Sonnensystems weiß: "[H]e was ignorant of the Copernican Theory". Wie kann es sein, so fragt sich Watson, dass ein zivilisierter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts nicht weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht? Wie kann sich ein Sherlock Holmes derartige Lücken im Feld des Allgemeinwissens leisten? Die Antwort, die Holmes seinem Freund gibt, setzt Nicht-Wissen und Wissen in ein strategisches Verhältnis, das unter dem Vorzeichen einer professionalisierten, dem Gesetz der Ökonomie gehorchenden episteme steht: Nur das nützliche Wissen – das Wissen, das für die spezielle Arbeitsaufgabe eines consulting detectives nötig ist – erhält überhaupt Zugang zu seinem Gedächtnis, wobei dieses, topologisch nicht allzu originell, als Dachboden eines oikos beschrieben wird, in dem – hier wird das Grundgesetz der Ökonomie, die Verknappung, auch in räumlicher Hinsicht in Anschlag gebracht – nur wenig Platz ist. […]Der 'brain-attic' ist mithin nicht nur dem ökonomischen Dispositiv knappen Raums, sondern auch einem pragmatischen Prinzip der epistemischen Auslese unterworfen, das quasi darwinistische Züge trägt: Nur das nützliche Wissen überlebt. Dieser Verdrängungskampf der Gegenstände des Wissens, eine Antizipation dessen, was Peirce und Popper später als 'evolutionary theory of knowledge' propagieren werden, offenbart den strategischen Aspekt des Nicht-Wissens: Angesichts begrenzter Raumkapazitäten wird das Leerräumen überfüllter Wissensspeicher zur Voraussetzung dafür, dass sich neues Wissen einrichten kann. Anders gewendet: Nur das Vergessen von Bereits-Gewusstem schafft Raum für zukünftiges Wissen – und unter dieser Prämisse wird das Nicht-Wissen zu einem ebenso bemerkenswerten Phänomen wie das Wissen.
Im 48. Kapitel von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" lesen wir folgende Beschreibung des deutschen Finanzmagnaten und 'Großschriftstellers' Paul Arnheim: "Die Ausflüge in Gebiete der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allgemeinen Auffassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten Anforderungen. Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann, wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von der Hausschneiderin gemacht ist, von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man durchaus nicht glauben, daß das Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern." Auch wenn es so scheinen mag, als werde mit diesem Zitat der Rahmen der romantischen Schöpfungsästhetik gesprengt: Hier klingen einige Leitmotive nach, die 'um 1800' die Auseinandersetzung um den 'wahren Künstler' bestimmen. So könnte man fragen, ob der Großschriftsteller Arnheim in der zitierten Passage nicht nur als Dilettant, sondern auch als Virtuose markiert .wird. Als dilettantischer Nicht-Fachmann genügt er nicht immer den "strengsten Anforderungen", zeichnet sich aber durch ein "spielendes Verfügen" über sein angelesenes Wissen aus. Deutet der Umstand, dass ihn die Fachleute bewundern, darauf hin, dass Arnheims "spielendes Verfügen" als virtuose Verbindungsgabe Ansehen findet, auch wenn die Nahtstellen die Dilettantenarbeit erkennen lassen? Und warum wird die Dilettantenarbeit mit der Naht der Hausschneiderin in Analogie gesetzt? Ganz abgesehen davon, dass mit der Maßschneiderei generell das Problem der Angemessenheit aufgeworfen wird: Warum sollte die Hausschneiderin schlechter nähen als das richtige Atelier?
"'Ironie haben wir nicht' – rief Nannerl, die schlanke Kellnerin, die in diesem Augenblick vorbeisprang, – 'aber jedes andre Bier können Sie doch haben.' Daß Nannerl die Ironie für eine Sorte Bier gehalten", fährt Heinrich Heine im dritt en Kapitel seiner Reisebilder Von Münch en nach Genua fort, "war mir sehr leid, und damit sie sich in der Folge wenigstens keine solche Blöße mehr gebe, begann ich folgendermaßen zu dozieren: 'Schönes Nannerl, die Ironie iska Bier, sondern eine Erfindung der Berliner, der klügsten Leute von der Welt, die sich sehr ärgerten, daß sie zu spät auf die Welt gekommen sind, um das Pulver erfinden zu können, und die deshalb eine Erfindung zu machen suchten, die ebenso wichtig und eben denjenigen, die das Pulver nicht erfunden haben, sehr nützlich ist.'" Die Erfindung, die Heine hier anspricht, soll ein Mittel sein, das es erlaubt, Dummheit in Ironie zu verwandeln. In diesem Zusammenhang entfaltet Heine eine fiktive Genealogie der Dummheit, gefolgt von einer Genealogie der Strategien, wie sich Dummheit verhindern lässt – beides mit unverkennbar polemischem Unterton […]. Hatte man zunächst den Eindruck , das "rück wirkende Mittel", von dem Heine sprich t, sei ein Pharmakon, vielleicht auch eine Art Pulver, mit dem man die Dummheit wie eine lästige Migräne-Attacke neutralisieren kann, wird kurz darauf deutlich , dass das 'ganz einfache Mittel', das Heine im Sinn hat, ein sprachliches ist: Anstelle des Pulvers hat man in Berlin einen Sprechakt erfunden, mit dem sich jede Dummheit in Weisheit umgestalten lässt. Genau genommen handelt es sich bei diesem Sprechakt um ein Deklarativ. Deklarative Sprechakte begegnen uns häufig in der Kirche und im Krieg. So, wenn ein Priester sagt, "hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau", oder wenn ein Präsident einem anderen Land den Krieg erklärt. […] Damit derartige deklarative Sprechakte gelingen, muss man – das gilt für alle bisher genannten Fälle – ein gewisses Maß an institutioneller Rückendeckung respektive ein gewisses Maß an Souveränität haben.
"Alle Museen, nur nicht die Kunstmuseen, sind Friedhöfe der Dinge", schreibt Boris Groys in seinem Buch 'Logik der Sammlung', denn was in Museen gesammelt wird, "ist seiner Lebensfunktion beraubt, also tot. Das Leben des Kunstwerks beginnt dagegen erst im Museum". Doch gilt dies auch für das literarische Kunstwerk? Offensichtlich nicht. Literarische Kunstwerke muss man lesend erfassen: unter einem Baum sitzend, auf einem Sofa liegend, im Stehen, während man auf den Bus wartet. Literatur kann man nicht betrachten wie ein Bild, wie eine Skulptur – sie besitzt als ein Objekt, das sich erst im Vollzug von Leseakten konstituiert, zunächst einmal überhaupt keinen Bildcharakter und mithin überhaupt keinen Ausstellungswert: Ein Buch, das man nur anschaut, bleibt tot. Erst wenn man es aufschlägt, darin blättert, darin liest, wird es lebendig. Mit einem Wort: Bei einem Text gibt es nichts zu sehen! Ein Umstand, der auch von einigen Ausstellungsmacherinnen schmerzlich bemerkt wird. [...] Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie sich Literatur – sei es in Form von Büchern, sei es in Form von Texten, die vor, nach oder neben der Buchwerdung von Literatur existieren - im musealen Bühnenrahmen in Szene setzen lässt: Wie kann das Museum zu einem "Schauplatz" von Literatur werden?
Was zeigt man, wenn man 'Literatur' zeigt – und was zeigt sich im Rahmen dieser "Schau"?
Chanel - metaphysisch
(2015)
„Was bedeutet es, einen Anruf zu beantworten?“ Diese, von Avital Ronell zu Beginn ihres ‚Telephone Book’ aufgeworfene Frage nach dem Telefon muß im folgenden als Frage nach dem Anrufbeantworter radikalisiert werden. Während das „Annehmen eines Anrufs“ eine Situation heraufbeschwört, „deren gestische Syntax ‚ja’ bedeutet, selbst wenn der Affirmation ein Fragezeichen folgen sollte: Ja?“ (Ronell 1989, S. 5), führt das Anschalten des Anrufbeantworters geradewegs in ein Paradox, denn der Anrufbeantworter sagt weder „Ja?“ noch „Nein!“. Das Paradox des Anrufbeantworters gründet in seiner widersprüchlichen Aufgabenstellung: Er soll einerseits der Aufrechterhaltung der Telekommunikation dienen und wird zugleich als ein „Kommunikationshemmnis“ empfunden. Deshalb kann er, so Knirsch, seine „eigentliche Funktion nicht uneingeschränkt erfüllen“ (Knirsch I998, S. 1). Doch was ist die „eigentliche Funktion“ eines Anrufbeantworters? „In dem Maße, in dem du das wurdest, was du bist“, schreibt Ronell mit Blick auf das „transzendentale Dilemma“ des Angerufenwerdens, „nämlich, zum Teil, ein automatischer Anrufbeantworter, wird es notwendig, Fragen zu stellen“. (Ronell 1989, S. 5). Fragen wir. Was bedeutet es, im metaphorischen oder gar im wörtlichen Sinn, „answering machine“ einer transzendentalen Telekommunikationsgemeinschaft zu sein, die nur auf eines zu warten scheint: den wunderbaren Moment der Verbindung?
Der Autor als Schreiber und Herausgeber : Perspektiven auf die Paratexte von Brentanos „Godwi“
(2006)
In Brentanos ›Godwi‹ [wird] das eigentümliche romantische Verfahren des Anbildens und Aneignens als »Uebersetzung« bezeichnet. Neben der Übersetzung aus fremden Sprachen – man denke an das Schlegel-Tiecksche Projekt der Übersetzung Shakespeares – kann sich der Begriff der ›Übersetzung‹ auch auf die intermediale Transformation von Zeichensystemen, etwa die Auflösung von Bildern in Sprache, oder auf die editoriale Tätigkeit beziehen. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist die von Arnim und Brentano besorgte Sammlung und Überarbeitung von Volksliedern in ›Des Knaben Wunderhorn‹. Die beiden Herausgeber praktizierten ein editorisches Verfahren, das sich nicht mit der Transkription in die Schriftsprache begnügt, sondern eine sehr weitreichende »literarische Stilisierung« des Ausgangsmaterials vornimmt. Das gemeinsame Merkmal dieser verschiedenen Modi der Übersetzung liegt darin, daß ihnen jeweils eine eigentümliche Bewegung des Zitierens zugrunde liegt, mit der das Original in einen anderen Kontext manövriert und dort neu gerahmt wird. Dabei strebt die Übersetzung nicht die »Ähnlichkeit mit dem Original« an, sondern nimmt eine modulierende »Wandlung und Erneuerung des Lebendigen« vor, durch die sich das Original ändert. In gleicher Weise legt das Konzept einer anbildenden und umbildenden ›Neuen Mythologie‹ nahe, daß die »alte Natur und Kraft« der Poesie mit einer neu ins Werk zu setzenden »Kraft zum Bruch« interagiert.
"Die Traumspiele der Weltliteratur sind Gedankenspiele" schreibt Arno Schmidt in seinen Berechnungen. Und er fährt fort: "Was man nämlich im allgemeinen einen 'Träumer' schilt ist in Wahrheit weiter nichts, als ein süchtig-fauler Gedankenspieler". Bereits Freud weist in seinem Aufsatz über den "Dichter und das Phantasieren" darauf hin, daß der Dichter ein "Träumer am hellichten Tag" sei und seine schöpferische Phantasie "Tagtraum".
Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, inwiefern Traum und Gedankenspiel nicht nur als Verfahren auktorialer Text-Konstruktion, sondern auch als Prozeß lesender Text-Rezeption gefaßt werden können. Mit Bezug auf den amerikanischen Philosophen und Semiotiker Charles Sanders Peirce möchte ich überlegen, inwiefern das Gedankenspiel der Logik des Lesens zugrunde liegt – und inwiefern sich Schmidts Überlegungen zum "Längeren Gedankenspiel" nicht nur als Konzept für "neue Prosaformen" deuten lassen, sondern auch als Konzept neuer Lektüreformen.
Im folgenden soll es darum gehen, das Spannungsverhältnis zu thematisieren, das »am Rahmen« von Texten bzw. Hypertexten zwischen Sprechakten (Performatives) und inszenierten Sprechakten (Performances) besteht. Zu klären ist dabei, wieso bestimmte Sprechakte »am Rahmen« von literarischen Werken keineswegs »entkräftet« sind, sondern im Gegenteil äußerst kraftvoll zu einer performativen Rahmung beitragen. Dies betrifft die literaturwissenschaftliche Fragestellung nach den peri- und paratextuellen Rahmungsstrategien ebenso wie die medientheoretische Problemstellung, inwieweit Performatives im Rahmen von Hypertexten als Programmbefehle wirksam sind. […] [I]ch [möchte] hier aber auch die literatur- und mediengeschichtlich relevante Frage aufwerfen, wie die Idee des Hypertextes im Rahmen der Literatur verkörpert wurde, bevor es die Hypertexte »in electronic form« gab. Dies erfordert eine Untersuchung der Rahmungsstrategien der Quasi-Hypertexte von einst im Horizont heutiger, elektronischer Hypertextualität.
Im Anschluss an Foucault könnte man sagen, dass die Funktion 'Herausgeber' darin besteht, erster Leser und zweiter Autor eines Texts zu sein, dadurch Kohärenz zu stiften und dem Text einen Rahmen zu geben. Dies geschieht durch eine Reihe editorialer Tätigkeiten: erstens das sammelnde Zusammenlesen von Manuskripten, zweitens das arrangierende Zusammenstellen der Textteile (ein Vorgang, den man auch als Zusammenschreiben bezeichnen könnte); drittens das kommentierende Dazuschreiben, das sich auf den Text als ein Gewebe von Spuren bezieht. Mit dieser kommentierenden Bezugnahme auf den Text findet eine diskursive Rahmung statt, die sich häufig als Paratext manifestiert: als Fußnote, als Überschrift, als Marginalie, als Inhaltsverzeichnis oder als Index der erwähnten Namen und behandelten Themen. Dergestalt etabliert das kommentierende Dazuschreiben des Herausgebers – und zwar gleichgültig, ob es sich um einen fiktionalen oder einen faktualen Herausgeber handelt – ein zweites Netz editorialer Indices, die vom Rande her wie mit Zeigefingern auf den Text verweisen.
Pointenlose Bildkomik
(2013)
Ich will im Folgenden versuchen, den Begriff 'pointenlose Bildkomik' zu konturieren, mit dem ich Zeichnungen oder Illustrationen bezeichne, die zwar komisch gemeint sind oder komisch wirken, die aber gerade wegen der versprochenen Pointenlosigkeit _ oder vielleicht besser: Pointenverrätselung _ ein besonderes ästhetisches Surplus entfalten. Solche Zeichnungen situieren sich im Niemandsland zwischen den Schützengräben kommerzialisierter 'Gebrauchskomik' - für die man den abwertenden Begriff 'Witzbild' verwenden könnte - und den bedeutend solider erscheinenden Wällen des sogenannten Kunstbetriebs, in dem die komische Zeichnung so gut wie gar nicht vorkommt. Mein Anliegen ist es, Zeichnungen vorzuführen, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager bedingungslos andienen; die sogar derlei Lagerhaltung und ‑spaltung grundsätzlich infrage stellen. Meine These lautet dabei so grundlegend wie schlicht, dass uns komische wie nichtkomische Kunstwerke in verschiedene, spannungsreiche Verhältnisse des ästhetischen Vernehmens verwickeln; dass aber einige von ihnen – und genau das sind die Arbeiten, um die es im Folgenden gehen soll – zu Spannungsverhältnissen reizen, ohne diese auch auf‑ bzw. einzulösen; eine Metaphorik, die man - Freud hätte hier zustimmend genickt - durchaus in Analogie zu den Energien des Erotischen verstehen kann, werden doch (Schau‑ und Denk‑)Lust zwar gereizt, aber nicht befriedigend gelöst.
Die amerikanische Hardcore Punk Szene wird bis heute als eine antirassistische Rebellion gegen das Wiedererstarken konservativer Wertvorstellungen wahrgenommen. Hardcore Punk entwickelte sich in den USA aus der Stilrichtung des Punkrock und hatte seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren. Dabei wurde sowohl der lyrische Inhalt als auch die musikalische Form des ursprünglichen Genres radikalisiert und die subkulturelle Identität maßgeblich über körperbetonte und expressive Bühnenauftritte konstituiert. Die Hardcore Punk Szene inszenierte sich vornehmlich als prekäre und stigmatisierte Gesellschaftsschicht, um von dieser Position aus eine vermeintlich antirassistische Grundhaltung zu propagieren. Die Tatsache, dass diese Szene jedoch fast ausschließlich aus weißen, männlichen und der Mittelschicht zugehörigen Jugendlichen bestand, wirft Fragen hinsichtlich der etablierten, politisch eindeutigen Verortung als subversiver Bewegung auf.
Das Böse – bereits die Nennung dieses Begriffes evoziert ein Faszinosum, das niemals nur auf den Bereich der Moral beschränkt bleibt. Vielmehr schwingt dabei stets ein poetischer Aspekt mit, der eine Spannung zwischen der ethischen und ästhetischen Sphäre schafft. Wenn Novalis darauf hinweist, dass "Gut und Böse [...] absolut poetische Begriffe" seien, honoriert er damit den in der philosophischen und theologischen Begriffsgeschichte häufig vernachlässigten künstlerischen Wert des Bösen. Die dialektische und spannungsvolle Verbindung von Ästhetik und Moral, wie sie bei der Reflexion des Bösen in den Vordergrund tritt, soll in diesem Beitrag in den Mittelpunkt gerückt werden, indem Heinrich von Kleists Text "Der Findling" als paradigmatisches Beispiel für diesen Zusammenhang hermeneutisch analysiert wird.
Der Proust'sche Fragebogen dient traditionell dazu sich kennenzulernen, sei es in einem französischen Salon, wo er einst entstand, sei es auf der letzten Seite eines deutschen Magazins. Wir haben unseren eigenen Fragebogen für den ZfL BLOG entworfen. Hier antwortet jetzt Karine Winkelvoss, französische Germanistin aus Rouen, die seit 2015 mit einem Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung für erfahrene Wissenschaftler zu Gast am ZfL ist.
Beirut und Berlin, die libanesische und die deutsche Hauptstadt, weisen – neben zahlreichen evidenten Unterschieden – eine Reihe von Parallelen auf, die im Zusammenhang mit Krieg und Teilung, Zerstörung und Wiederaufbau ihres Stadtzentrums stehen. Ähnlich wie die Gegend um den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten der deutschen Teilung war das Beiruter Stadtzentrum im Laufe des Bürgerkriegs (1975−1990) zu einer Art Niemandsland geworden. Als Schauplatz heftiger Kämpfe war es bereits zu Beginn des Krieges weitgehend zerstört und in der Folge von Bewohnern wie Geschäftsleuten verlassen worden. [...] Im Anschluss an einen kurzen Exkurs zur Geschichte des Beiruter Stadtzentrums werden im Folgenden einige Ausschnitte aus der Debatte vorgestellt. Auf der einen Seite wird es um die Wiederaufbaupläne gehen, um die mit hohem Aufwand betriebene Medien-Kampagne und das Vorgehen der mit dem Wiederaufbau betrauten Immobilienfirma sowie um den Widerstand, den dies hervorrief. Auf der anderen Seite werden künstlerische Positionen, Einwände und Gegenentwürfe vorgestellt: Am Beispiel zweier in den 1990er Jahren erschienener Romane wird illustriert, wie das Beiruter Stadtzentrum als Schauplatz für Debatten dient, in denen Fragen von Identität, Erinnerung und Verantwortung verhandelt werden.
Im vorliegenden Versuch nehme ich mehrere Schritte: Zunächst spreche ich über das Innenleben staatlicher Archive und zwei Typen von Papierorganismen. Zum einen geht es dabei um die Wahrnehmung der materiellen Gestalt bürokratischer Vorgänge und der spezifischen Zeitlichkeit, die sie verkörpern. Zum anderen um die Angst vor deren Zersetzung durch biologische Organismen. Das wäre der zweite Typ von Papierorganismus. In einem weiteren Schritt geht es mir darum, diese stummen Geschichten aus dem Inneren der Archive als Ausgangspunkt für ein Modell historischer Zeiten zu nehmen, das die Materialität der Archive als solide und konkrete Metapher auffasst, das also die metaphorische Bedeutung aus der Materialität des Geschriebenen bezieht. Ein Modell, das etwas weniger spekulativ, etwas weniger philosophisch ausgerichtet ist, als etwa Reinhart Kosellecks, dafür aber umso mehr dazu anregt, eine Theorie historischer Zeiten und empirische Forschung einander anzunähern. Das Archiv der Bürokratie dient hier freilich lediglich als Modell, um an einer Form der verkörperten Vergangenheit materielle Eigenzeitlichkeit als beweglichen Untergrund der Geschichtsschreibung zu denken. Andere Archive erfordern freilich entsprechend andere Forschungsstrategien.
Wir leben in einer Welt voller Bilder. Unser Denken funktioniert in Bildern, die menschliche Kommunikation bedient sich verschiedener Sprachbilder und das mediale Zeitalter überrollt uns mit einer wahren Flut aus bewegten und unbewegten Bildern. Die Moderne greift dabei nicht nur auf den reichen Bilderschatz vergangener Jahrhunderte zurück, sondern es werden auch traditionelle Motive variiert, verändert und verworfen. Das ursprüngliche Bild wird ergänzt durch Gegenbilder und Alternativkonzepte. Letztlich ringen sie alle, Bilder und ihre Gegenbilder, um die Deutungshoheit. Die Veranstalter Corina Erk, M.A., und Christoph Naumann, M.A., eröffneten als Promovierendenvertreter der Bamberger Graduiertenschule für Literatur, Kultur und Medien den Workshop „Gegenbilder – literarisch/filmisch/fotografisch“ und stellten das anspruchsvolle Tagungsprogramm vor, das sich in fünf Sektionen gliederte. Jedes Panel näherte sich aus einer anderen Perspektive dem Themenbündel „Gegenbild“ an.
Paralysiert starrt er ins Nichts. Gestern noch war er stolzer Portier eines Berliner Grandhotels; heute wird er aufgrund seiner Altersschwäche zum Toilettenwärter degradiert. Während der Protagonist aus Friedrich Wilhelm Murnaus 'Der letzte Mann' (1924) sein Schicksal noch gar nicht fassen, sich gefangen im Schock noch gar nicht regen kann, macht sich ein junger Mitarbeiter bereits daran, ihm die Portiersuniform auszuziehen. Dieser eigentlich simple Akt der Entkleidung erfährt durch seine filmische Inszenierung eine enorm starke semantische Aufladung: Zum einen wird die hier zivile Uniform, die den Namenlosen als Teil einer gesellschaftlich angesehenen Berufsgruppe ausweist, zum Symbol für die Arbeit selbst; das heißt, die Uniform ist (entsprechend ihres Bedeutungswandels, der sich zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert aufgrund der Reorganisierungen der Staats- und Gesellschaftsformen vollzog) weniger Verweis auf etwaige militärische Motive als vielmehr Medium zur Kommunikation all dessen, was sich mit der professionellen Position verbindet, wie Status, Modernität, Männlichkeit. Zum anderen erscheint sie in Anbetracht der langwierigen, schmerzvoll anmutenden Prozedur, die es erfordert, sie abzunehmen, wie eine zweite Haut, die dem Mann abgezogen werden muss. Im übertragenen Sinne veranschaulicht der Film damit genau jenes Problemfeld, das Wolfgang Engler in seiner 2005 erschienenen Schrift 'Bürger, ohne Arbeit' mit folgender Frage umreißt: "Was bleibt vom 'Menschen', wenn man die 'Arbeit' von ihm abzieht?" Es ist eine entscheidende Frage, wenn man bedenkt, dass die moderne Gesellschaft sich, um die prominente These Hannah Arendts aufzugreifen, im Ganzen zu einer Arbeitsgesellschaft entwickelt hat. Längst wird die Arbeit nicht mehr nur im notwendigen Zusammenhang mit der materiellen Basis gesehen, sondern darüber hinaus als bedeutende Variable im Prozess der sozialen Integration sowie Identifikation begriffen.
Im alltäglichen Gespräch lässt sich beobachten, dass bei vielen in der Bundesrepublik aufgewachsenen Personen die Kinderbücher Astrid Lindgrens einen hohen Stellenwert und einen starken Einfluss auf Lebensvorstellungen und Werte des zwischenmenschlichen Miteinanders haben. Wenn die eigene Lebenswelt - wie etwa bestimmte Situationen, Lebensumstände, zwischenmenschliche Beziehungen, die äußere Umwelt, das Lebensgefühl - als besonders beglückend, ja geradezu als ideal empfunden werden, ziehen viele Menschen Parallelen zu den in den Texten Astrid Lindgrens modellierten Lebenswelten. Umgekehrt wird auch versucht, die eigene Lebenswelt nach dem Muster dieser Textwelten zu gestalten, um das Leben so schön, harmonisch und beglückend zu gestalten, wie es die Figuren in den Texten vorleben. Da Texte, die einen solch prägenden Eindruck auf uns ausüben und einen so hohen Stellenwert für die eigenen Lebensvorstellungen und die Lebensgestaltung haben, in der Regel auch an die Nachkommen weitergegeben werden, werden die in den Büchern modellierten Lebensvorstellungen und Werte häufig über mehrere Generationen hinweg tradiert und erhalten einen wichtigen identitätsstabilisierenden Platz im kollektiven Gedächtnis. So können bestimmte Welt-, Lebens- und Wertkonstrukte innerhalb einer Gesellschaft über einen längeren Zeitraum Bestand haben und ein fester Teil des gesellschaftlichen Diskurses werden. Ausgehend von diesen Beobachtungen und Hypothesen scheint es lohnend zu sein, folgende Fragen zu stellen: 1. Lässt sich die eingangs formulierte Alltagsbeobachtung von der Wichtigkeit der Bücher Astrid Lindgrens für die Lebensvorstellungen vieler Deutscher auch durch eine umfassende Untersuchung, also durch konkretes Zahlenmaterial, bestätigen? Oder allgemeiner gefragt: Gibt es Bücher, in denen viele Menschen eine ideale Lebenswelt wiederfinden? 2. Falls es wirklich eines oder mehrere solcher Bücher gibt: Wie genau sieht eine solche ideale Lebenswelt für uns aus? Um diese Fragen zu beantworten, wende ich eine Untersuchungsmethode an, die aus drei Schritten besteht: erstens einer quantitativen Befragung zur Ermittlung eines Textkorpus; zweitens einer literaturwissenschaftlichen Analyse der so ermittelten Texte zur Untersuchung der Rezeptionsangebote dieser Texte; drittens Leitfadeninterviews, um herauszuarbeiten, welche der Textangebote tatsächlich von den Rezipienten aktualisiert werden.
Durch die Unterscheidung eines engen und eines weiten Begriffs absurder Literatur werden alle Texte berücksichtigt, in denen absurde Spielformen realisiert werden, ohne dass die Brisanz der absurden Kerntexte nivelliert würde. Um dies herausarbeiten und verdeutlichen zu können, habe ich die Texte von drei Autoren für eine detaillierte Analyse ausgewählt: Daniil Charms, Samuel Beckett und Christian Morgenstern.