CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Rezension zu "Klassiker neu übersetzen. Zum Phänomen der Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker / Ritradurre i classici. Sul fenomeno delle ritraduzioni di classici italiani e tedeschi". Hg. Barbara Kleiner, Michele Vangi und Ada Vigliani. Stuttgart: Franz Steiner, 2014 (Villa Vigoni im Gespräch; Band 8). 147 S.
Wenn Elisabeth Beck-Gernsheim über die jüdische Kultur in Deutschland schreibt, sie sei "hier und heute tatsächlich: eine deutsche Erfindung" (Beck-Gernsheim 1999, 270), so stellt sich auch die Frage, ob es sich bei 'Galizien' in anderen literarischen Texten ebenfalls in diesem Sinne um eine Erfindung, um die Konstruktion einer Erinnerungslandschaft handelt, die sich im Sinne Pierre Noras als "histoire au second degre" (Nora 2002) auf ein Phantasma bezieht, dessen eigentlich Substanz sich nicht in einer wie immer zugeordneten und im weitesten Sinne vermutlich sogar ganz unbekannt gebliebenen Landschaft 'im Osten' wiederfinden lässt, sondern vielmehr in der Seelengeschichte, im Mentalitäten-Haushalt ihrer Beobachter ihren Bezugspunkt hat.
Die Analogien zwischen der Barthes'schen Theorie und den Konzepten der deutschen Romantik sind von der Forschung durchaus registriert worden, Beobachtungen in diese Richtung haben aber bislang kaum über die Nominierung des Desiderats hinausgeführt. Das ist sicher überraschend, da in den letzten Jahrzehnten bekanntermaßen eine Vielzahl aktualisierender Romantik-Lektüren vor der Folie postmoderner Ästhetik und Erkenntnistheorie veröffentlicht wurden. Zur Behebung dieses Defizits beizutragen, ist dementsprechend das Anliegen dieses Beitrags. Im Folgenden sind Ansätze zur systematischen Aufarbeitung der vielfachen Bezüge zu konzipieren, die sich zwischen dem Text der Deutschen Romantik und den Arbeiten Barthes' aufzeigen lassen. In methodologischer Hinsicht bewegt sich ein solcher Vergleich allerdings auf nicht eben einfachem Terrain. Das resultiert zunächst aus dem beträchtlichen Volumen der theoretischen Erträge Roland Barthes' sowie der romantischen Autoren, infolgedessen eine strenge Reduktion der Textbasis notwendig wird. Hinzu kommt, dass diese Erträge jeweils in rigoros fragmentierten und hermetischen Schreibweisen codiert sind, die das Paradox und die begriffliche Unklarheit bewusst suchen. Das multipliziert die Zahl der Blickwinkel und wirft die Frage nach der Wahl der interpretativen Zugänge auf. Um diesem Dilemma zu entgehen, rekurriert das Folgende bewusst auf eine einzelne Darstellung romantischer Theorie, die sich durch ihre besondere Prägnanz und ein überdurchschnittliches analytisches Niveau auszeichnet: Walter Benjamins Dissertation zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
In der Forschung findet die Gattung Spam zumeist als linguistisches Phänomen wissenschaftliche Berücksichtigung; insbesondere die sprachlichen Merkmale und rhetorischen Strategien der Vorschussbetrugs-E-Mails werden in diesem Zusammenhang untersucht. Der großen Bandbreite an künstlerischen Versuchen, den digitalen Müll ästhetisch zu verwerten, zu imitieren oder zu thematisieren, wurde bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem während des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends lassen sich kreative Auseinandersetzungen mit den Werbemails beobachten; hier wirkt zum einen die zunehmende Kommerzialisierung des Internets im Zuge der Einführung des World Wide Web und zum anderen die durch die Installation von Anti-Spam-Filtern hervorgerufene Weiterentwicklung der Textform als schöpferischer Impetus. Der erste Teil der Darstellung widmet sich im Besonderen der lyrischen Verarbeitung des Spams, der zweite Teil befasst sich dann primär mit verschiedenen Formen und Funktionen einer narrativen Aneignung.
Macht Wirkung Geschichte? : die ungarische Rezeption von Péter Esterházys "Verbesserte Ausgabe"
(2009)
Das Erscheinen von Péter Esterházys "Verbesserte Ausgabe" (VA) im Frühjahr 2002 wurde in Ungarn als ein richtiges "literarisches Ereignis" empfunden: Man betrachtete das Werk als ein solches, das man nicht nur gelesen haben muß, sondern auch als eines, in welchem sich die Begegnung von "Literatur" und "Leben" in einmaliger Weise verwirklicht. [...] In seinem Beitrag fasst Marcell Mártonffy zuerst die Fakten und Umstände der Entstehung der VA zusammen (I.). Danach setzt er sich mit der ersten Welle der ungarischen Rezeption - mit deren wichtigsten Fragestellungen und interpretativen Ansätzen - auseinander, um den Ereignischarakter des Werkes näher zu beleuchten (II.). Schließlich versucht er, bezüglich der Chance literarischer "Vergangenheitsbewältigung", deren Anspruch bereits in der Veröffentlichung der VA sowie in den darauffolgenden kritischen Stellungnahmen betont zum Ausdruck kommt, einige Konsequenzen zu ziehen (III.).
Das zunächst wissenschaftlich geprägte Interesse an mündlicher Dichtung verlagerte sich rasch in Richtung auf eine Popularisierung von Volksdichtung. [...] Eine zentrale Figur bei dieser Popularisierung war der Übersetzer und umtriebige Journalist Vsevolod I. Kuznecov, dessen Übersetzungen eines bis dahin unbekannten kasachischen Sängers namens Maibet auf großes Interesse stießen. [...] Da jedoch Maibet trotz intensiver Bemühungen unauffindbar war, einigte sich das Festkomitee darauf, statt Maibet den lokal bekannten, 80-jährigen, des Russischen nicht mächtigen und schriftunkundigen Džambul Džabaev in die kasachische Delegation aufzunehmen, damit er ein Poem zu Ehren Stalins dichtete [...]. Bei der mysteriösen Unauffindbarkeit Maibets, der Džambul Džabaev letztlich seine Entdeckung und seinen Aufstieg in das Pantheon sowjetischer Kulturheroen verdankt, handelt es sich um eine Mystifikation des Übersetzers Kuznecov, der unter dem Namen Maibet Übersetzungen von nicht existenten Originalen fingiert hatte. [...] Bei all ihrer Kuriosität wirft diese Mystifikation aber auch ein Licht auf das von Kuznecov und anderen betriebene Übersetzungsmetier. Sie stellt in gewisser Weise eine radikale Konsequenz dar, aus einer an den Maßgaben der sowjetischen Massenkultur sich ausrichtenden Übersetzungsarbeit. Diese orientiert sich keineswegs am philologischen Ideal der semantischen Treue zum Original, sondern besteht in einer schöpferischen Hervorbringung von Texten, die durch eine in Rohübersetzung vorliegende fremde Rede des Originals angeregt wird, ohne dass dabei der schöpferische Übersetzer der Sprache des Originals kundig ist. [...] Auf einem solchen "intuitiven" und "künstlerischen" Übersetzungskonzept beruhen die Džambul zugeschriebenen Texte. Dass diese mit den vermeintlichen Originalen kaum etwas zu tun haben, war von Anfang an ein offenes Geheimnis, aber gleichwohl ein strikt gehütetes Tabu. [...] Diese Eigentümlichkeit der Übersetzung der Džambul zugeschriebenen Texte, soll im Weiteren im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Jurij Murašov zeigt, wie in der "künstlerischen" und "intuitiven" Übersetzungsarbeit, die im Namen des Volkssängers Džambul Džabaev Kuznecov und andere Übersetzer und Schriftsteller betreiben, Texte entstehen, die eine spezifische, für die sowjetische Kultur grundlegende mediale Poetik (re-) produziert und die dann über die Zuschreibung auf die empirische Figur des Džambul Džabaevs massenmedial popularisiert werden kann. Es ist eben diese Poetik, durch die nicht nur der Volkssänger Džambul seinen eigenen Platz im Pantheon der sowjetischen Kulturheroen behauptet, sondern die letztlich den medialen Mechanismus ausmacht, über den sich die Kultur des Sowjetischen als Ganzes begründet.
Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, die interkulturelle Dimension der modernen Metropole von ihrer Kehrseite her zu analysieren. Stellt die 'global city' tatsächlich in allen ihren Bereichen jenen offenen Raum interkultureller Kombinatorik dar, als den sie sich auf ihrer Schauseite der Produktion und Konsumption präsentiert? Oder perpetuiert sie Mechanismen der Ausgrenzung und der Segregation, die unterschwellig wirksam bleiben? Die Analyse erfolgt unter zwei Prämissen. Sie setzt zum einen voraus, dass der Umgang mit dem Müll als kulturelle, d.h. symbolische Praxis begriffen wird. Sie bestimmt Müll nicht als etwas Überflüssiges, sondern als Zeichenmüll, der gelesen werden kann, und schließt somit an kultur- und sozialanthropologische Ansätze zur Erforschung des Abfalls an. Zum anderen werden nicht die symbolischen Praktiken der Müllbehandlung selbst, sondern ihre literarischen Repräsentationen untersucht. Dies geschieht unter der Annahme, dass die Literatur der Moderne ein besonderes Sensorium für die symbolische Ordnung entwickelt hat, die sich im Müll abzeichnet.
Rezension zu Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München (Fink) 2007. 233 S.
Robert Stockhammers Ziel besteht darin, die Beziehungen zwischen der Literatur und der Kartographie einer genaueren Analyse zu unterziehen. In diesem Zusammenhang wendet er sich zuvörderst solchen literarischen Texten zu, die explizit auf kartographische Repräsentationsformen zurückgreifen - sei es in Form konkreter Karten, die zum Zweck der Illustration oder der Orientierung in den Text integriert sind, sei es in Form der deskriptiven oder narrativen Bezugnahme auf Karten und kartographische Verfahrensweisen.
Rezension zu Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt u. Stephan Kammer (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web - Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg (Winter) 2005 (= Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 21). 303 S.
Borges' Erzählung 'TIön, Uqbar, Orbis Tertius' findet zwar in dem vorliegenden Sammelband über enzyklopädische Literaturen nirgends Erwähnung, die ihr zugrunde liegende Idee bildet aber die konzeptionelle Basis des Bandes, wie sie in der ausführlichen, historische und systematische Gesichtspunkte berücksichtigenden Einleitung der Herausgeber entfaltet wird. Was die historische Dimension anbetrifft, so verweisen sie auf die lange Geschichte der Verbindung zwischen Enzyklopädik und Literatur, die mit der Ekphrasis des achilleischen Schilds in der 'Ilias' ihren Anfang nimmt. Mehr Gewicht besitzt für die Herausgeber jedoch die systematische Begründung dieser Verbindung: Im Anschluß an Umberto Eco argumentieren sie, daß jeder Text, gleich welcher Machart, enzyklopädisch strukturiert ist, weil er auf das Wörterbuch natürlicher Sprachen rekurriert, das seinerseits - als nur vordergründig stillgestellter semiotischer Verweisungszusammenhang - eine verkleidete Enzyklopädie darstellt.
Welchen Wert hat das Ungeschriebene für die Literaturwissenschaft? Die intuitive Antwort wäre wohl: keinen, beschäftigt sich die Philologie als Realwissenschaft doch mit dem tatsächlich Vorliegenden … einerseits. Andererseits ist das bloß Imaginierte nicht nur eine starke kreative Kraft und notwendige Vorstufe des Geschriebenen im Prozess des Schreibens, es kann als Spielmarke nicht bloß der Selbst-, sondern auch der Fremdanregung dienen, als Ankündigung, Absichtserklärung, Versprechen etc. Diese Phantomliteratur erhält also erstens eine Wirkkraft, obwohl sie nicht vorhanden ist, sie ist zweitens stets textuell oder zumindest parasitär textuell, weil sie als Referenz benannt sein muss, ihre Planung und der Wille zum Text, wie ernsthaft auch immer er gemeint ist, muss zumindest angedeutet werden. Und drittens liegt ihr irritierendes und mithin aktivierendes Potential genau darin begründet, dass sie nicht vorliegt, da sie als Störfall stets die Bedingungen der Produktion und unartikulierte Vorannahmen sichtbar macht, aber ebenso Akteure des literarischen Feldes dazu zwingt, sich zu ihr zu verhalten. Der Wert des Ungeschriebenen ist folglich nicht stabil, schwankt, je nachdem, welche Rolle ihm zugemessen wird, ob man versucht, das Ungeschriebene zu verdrängen, zu tilgen oder es bewusst ausstellt und selbstgenerativ für neue Projekte heranzieht.
Der Wandel der Satire : über die Verschärfung literarischer Ironie in der deutsch-jüdischen Moderne
(2011)
In diesem Essay soll das Phänomen des Sarkasmus untersucht werden, und zwar unter der Voraussetzung einer durchaus gewagten These. Der Essay geht davon aus, daß ein genuin literarischer Sarkasmus in der deutschsprachigen Literatur erst mit dem Auftreten Heinrich Heines und Ludwig Börnes, also im 19. Jahrhundert entstand. Zwar kannte die Epoche der Aufklärung den Witz und die Romantik die Ironie. Aber erst mit Autoren wie Börne, Heine oder Moritz Saphir, Daniel Spitzer oder Alfred Kerr, Maximilian Harden oder Karl Kraus, Walter Mehring oder Kurt Tucholsky, Carl Einstein oder Alfred Döblin, Elias Canetti oder Albert Drach entwickelte sich ein literarischer Sarkasmus. Vorab möchte ich betonen, daß diese Art der Verschärfung der Ironie nicht verstanden werden kann ohne den Hintergrund der Stereotypisierung jüdischer Intelligenz im 19. Jahrhundert. Sarkastisch wird die Literatur Heinrich Heines oder Moritz Saphirs, Karl Kraus' oder Kurt Tucholskys, Alfred Kerrs oder Maximilian Hardens nicht aus sich selbst heraus. Vielmehr sind es die in der Romantik so populäre Mär vom "ewigen Juden" sowie das seit dem Auftreten Heines vor allem in Bayern und Preußen sich häufende Ressentiment gegenüber dem sogenannten "Judenwitz", aus denen der Sarkasmus hervorging. Ich möchte dies anhand zweier Zitate vorab verdeutlichen. Das erste ist eines der übelsten Dokumente antisemitischer Polemik des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Titel 'Neueste Wanderungen, Umtriebe und Abenteuer des Ewigen Juden unter den Namen Börne, Heine, Saphir u.a.' Es stammt aus der Feder des Germanisten Heinrich von der Hagen, der im Jahre 1835 in den Werken der im Titel genannten Autoren folgendes erkannte: "[...] dieselbe freche Gotteslästerung, dieselbe Verhöhnung und Misshandlung des Weltheilands am Kreuze und seiner Diener, dieselbe Anbetung des Fürsten dieser Welt in der Gestalt des goldenen Kalbes, dieselbe bodenlose Verwirrung der göttlichen Weltordnung, dieselbe giftige Verhetzung gegen die Könige und Obrigkeiten und dabei hündische Feigheit, dieselbe Lebensentwürdigung und schmähliche Todesfurcht, dieselbe Gottvergessene Beschönigung der Zügellosigkeit, Unzucht und Lüge, derselbe boshafte, alles berechnende und verneinende Witz, derselbe ruchlose Missbrauch oder Besudelung aller heiligen und verehrten Namen und Worte."
Mein Aufsatz widmet sich einigen Gedichten des 20. Jahrhunderts, in denen Wahrnehmungserfahrungen in Städten bzw. Großstädten wie etwa Paris, Tübingen, New York, Köln oder Rom formuliert und lyrisch aufbereitet sind. Dabei geht es mir um eine kritische Prüfung des in den Literaturwissenschaften stark dominierenden Verständnisses von Großstadtlyrik. Diese kritische Prüfung vollzieht sich im Folgenden anhand der Kategorie der Stimmung. Mit dieser Kategorie verbindet sich ein in der Forschung zur modernen Großstadtlyrik bisher kaum entwickelter theoretischer Zugriff, der vorab in aller Kürze mit dem Schlagwort 'Neue Phänomenologie' zu bezeichnen ist. Ich werde also für einen theoretischen Paradigmenwechsel plädieren und den Vorschlag machen, über Großstadtlyrik neu und anders nachzudenken, als dies die germanistische und vor allem komparatistische Forschung im Grunde bis heute tut. Bisher waren und sind die einschlägigen Arbeiten zu dieser Thematik stark beeinflusst von den Baudelaire-Studien Walter Benjamins, genauer gesagt von der von Benjamin an Baudelaire untersuchten Wahrnehmungskrise als einem vermeintlichen Signum moderner Großstadterfahrung. Bekanntlich sah Benjamin in den Paris-Gedichten Baudelaires eine sogenannte Choc-Erfahrung angelegt, die vor allem in Baudelaires berühmtem Gedicht 'A une passante' artikuliert sei. Der Tenor der Forschung zur Großstadtlyrik liegt seither auf der Deutung moderner Lyrik als Ausdruck einer Wahrnehmungskrise, die insbesondere durch die Arbeiten Silvio Viettas geradezu kanonisch wurde.
Im Folgenden geht es um 'Bibel als Litteratur' (von lettera, Druckletter) und 'Literatur als biblischer Text', also um wechselseitige Beziehungen von Letternsatz, Bibeldruck und schöner Literatur. Zugunsten dieser Fokussierung auf ihre typographische Umsetzung bzw. Drucklegung werden sonst zentrale stilistische, rhetorische, textsorten- oder gattungsspezifische Parallelen zwischen biblischen und literarischen Texten vernachlässigt. Unter biblischen Texten sollen nicht nur Vollbibeln, sondern auch Teilausgaben verstanden werden, solange sie auf biblischem Material der jüdisch-christlichen Tradition gründen; literarische Texte seien einfach alle anderen.
Nicht von einer "Nähe" der Literatur "zum Ritual" [...] gehen die folgenden Überlegungen aus. Wenn als "Definitionsmerkmale des Rituals" "Wiederholung einer Handlung, Inszeniertheit, ästhetische Elaboriertheit, Selbstbezüglichkeit, Expressivität und Symbolizität" angeführt werden, dann stellt sich gerade die Frage, inwiefern ein literarischer Text Handlung 'ist', nicht aber nur ein Ritual oder eine Wiederholung einer Handlung thematisiert oder erzählt. [...] Das Verhältnis von Ritual und literarischem Text wird allein von deren Ferne und Entferntheit her gedacht werden können und damit erst die Versuche und die Notwendigkeit der literarischen Texte, im Verhältnis zum Ritual ihre eigene Performativität zu bestimmen.
Mit der Bezeichnung des Problem/Lösungs-Konzeptes als eines Beschreibungs- und Erklärungsmodells für literaturgeschichtlichen Wandel habe ich bereits eine Festlegung vorgenommen. "Problem" ist damit zu einem terminus technicus geworden, dem eine bestimmte Verwendungsweise ("Bedeutung") innerhalb einer bestimmten Fachsprache zugeordnet ist. Diese Verwendungsweise ist zwar initial an die innerhalb der Alltagssprache angelehnt (aus ihr "entlehnt"), wird mit der Prägung eines Terminus aber von ihr abgekoppelt. Das hat unter anderem zur Folge, dass Bedeutungen, die dem Wort "Problem" in der Alltagssprache zukommen, nicht gegen die heuristische Konzeption des Problem(lösen)s ins Feld geführt werden können (sondern allenfalls – mit einer guten Alternative im Gepäck – gegen die Wahl des Zentralbegriffs ). Denn in dieser Konzeption ist "Problem" ein rein instrumenteller Begriff und bezeichnet anders als der alltagssprachliehe Begriff nicht zwingend eine krisenhafte Erfahrung, sondern die eine Seite in einer erklärenden Relation von zwei Sachverhalten. Mit anderen Worten: In der Tat kann ich alles als Problem beschreiben bzw. "im Problemvokabular reformulieren", wenn ich nur will, das heißt: wenn ich mir davon einen wie auch immer gearteten Erklärungswert für etwas von mir als erklärungsbedürftig Erachtetes verspreche. Die Frage lautet also nicht: Wann ist ein Sachverhalt "treffend" (d. i. nach unserer alltags sprachlichen Intuition stimmig) als Problem beschrieben? Sondern: Wann brauche ich den betreffenden Sachverhalt für eine erklärende Relation und muss ihn zu diesem Zweck als heuristische Einheit konzipieren (und nenne sie deshalb meinem Modell gemäß ein Problem)?
Der Gedanke, dass Kunstverhalten ein Ausdruck menschlichen Spielverhaltens sei, entspricht einem alten Konsens in Philosophie und Geisteswissenschaften. Er hat erneute Plausibilisierung erfahren von Seiten der Evolutionspsychologie, die nicht nur das Postulat vom menschlichen 'Spieltrieb' als einer angeborenen Eigenschaft auf festere Füße gestellt, sondern überdies auch eine Erklärung für die offenkundige Lust am Spielen geliefert hat. Kernthema meines Beitrags wird indes nicht diese allgemeine Parallele von Kunst und Spiel sein, sondern die spezifische Ausprägung des Spielerischen in einem bestimmten Typus von Literatur. Denn wenn es korrekt ist, dass sich die Lust am Lesen der Aktivierung angeborener Verhaltensprogramme durch literarische 'Attrappen' verdankt, dann stellt sich die Frage, welche Programme dies im Einzelnen sind.
Der Beitrag nimmt kritisch Stellung gegen das populäre Konzept der 'Gefühlsübertragung', mit dem sowohl realweltliche Empathieprozesse als auch das Verhältnis zwischen literarischer Figur und Leser oft beschrieben werden. Am Beispiel der Emotion Mitleid werden vier Kategorien psychischer Prozesse unterschieden: (a) eine emotionale Reaktion auf einen (literarisch) präsentierten Stimulus, (b) emotionale Ansteckung, (c) sentimentale Rührung und (d) Empathie (verstanden als eine beliebig komplexe kognitive Operation, die zu einer mentalen Repräsentation eines fremden Gemütszustands führt). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der sinnlichen Qualität empathischer Vorstellungen, von der das Missverständnis der 'Gefühlsübertragung' seine intuitive Plausibilität gewinnt und die seit der Entdeckung so genannter Spiegelneuronen oft mit Empathie gleichgesetzt wird. Im Unterschied zu einigen populärwissenschaftlichen Verlautbarungen vertrete ich die Ansicht, dass neuronale Spiegelungsprozesse wahrscheinlich stärker an Ansteckungs- als an Empathieprozessen beteiligt sind.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Schon bei seiner Einführung in die wissenschaftliche Literatur meinte der Begriff Déjà vu anderes als er besagt. Die beiden Primärquellen, auf die sich Ludovic Dugas in seinem terminologisch grundlegenden Artikel von 1894 bezog, verwenden bezeichnenderweise auch gar nicht diesen Ausdruck, sondern einen allgemeineren ...
Interpretationen verfahren bei längeren literarischen Texten gekonnt selektiv: Sie nehmen bestimmte Stellen wichtig und vernachlässigen andere. Wie verfährt dieser Selektionsprozess und wie müsste eine Interpretationstheorie konzipiert sein, die die Praxis der gekonnten Aufmerksamkeitsfokussierung angemessen berücksichtigt?
Obwohl mit dem "Personenkult" um Josef Stalin (1878−1953) vor allem die Inszenierungen seiner Macht und sein Führungsstil bezeichnet werden, ging der Kult um seine Person über den Rahmen des Politischen hinaus: Stalin wurde mit der Zeit zunehmend zu einer kulturstiftenden Figur, ja gar zu einem kulturellen Symbol stilisiert, das eine ganze Epoche prägte. Wenn überhaupt von einem "Gesamtkunstwerk Stalin" (Boris Groys) die Rede sein kann, dann bezeichnet dieser Begriff gleichermaßen die Epoche Stalins wie ihren Hauptprotagonisten, dessen Selbstinszenierungen als ein Kulturphänomen, ein 'Kunstwerk' der Zeit betrachtet werden können. In diesem "Gesamtkunstwerk" erscheint er sowohl als ein demiurgischer Herrscher als auch als ein prometheischer Heros - als Befreier und Kulturstifter. Der "Führer", der die sowjetischen Völker zum Siege führt, ist zugleich der "Lehrer", der lehrt was richtig und was falsch ist. [...] Er ist eine Figur der Revolution, berufen, sein Land aus dem Chaos zu führen und eine neue Ordnung herzustellen. Diese neue Ordnung reicht über das Machtpolitische hinaus ins Kulturelle: Der revolutionäre Heros ist ein Kulturstifter, dessen Mission eine prometheische Tat, und zwar die Erschaffung eines neuen Menschen ist. Die Herrscher, die als Kulturheroen inszeniert werden, sind vor allem nationale Heroen und werden mit einer Nation identifiziert, die sie vertreten. Im Falle Stalins ist dieses Modell komplizierter, denn er steht an der Spitze des Vielvölkerstaates, der sich als eine "Völkerfamilie" darstellt. Daher muss er als Heros für alle Völker der UdSSR gleichermaßen gelten. Zugleich ist er aber ein Georgier und diese Tatsache beschert seinem Geburtsland eine symbolische Sonderstellung, sie verleiht Stalin als kulturheroischer Figur gewissermaßen zwei Gesichter: das allgemeinsowjetische und das national-georgische.
Der Spielfilm ist seit seiner Erfindung vor mehr als hundert Jahren in mehrfacher Hinsicht eng mit dem Literaturwesen verknüpft. So ähnelt ein Drehbuch in seinem Aufbau einem Theaterstück, verwendet aber gleichzeitig Erzähltechniken, die aus Kurzgeschichten und Romanen bekannt sind. Den deutlichsten Eindruck der Verbindung zwischen Film und Literatur allerdings vermittelt ein Blick auf die große Anzahl an Adaptionen, welche jährlich auf die Leinwand gebracht werden. Vom jahrhundertealten Klassiker bis zum eben erschienenen Horror-Thriller werten Produzenten unermüdlich Dramen, Kurzgeschichten und vor allem Romane auf ihre mögliche (Wieder-)Verfilmbarkeit aus, erwerben gegebenenfalls die Rechte und übertragen das schriftliche Original - mit häufig stark verändertem Handlungsstrang - in audiovisuelle Unterhaltung. Unabhängig davon, ob es sich um 'hohe' oder 'triviale' Literatur handelt, gelingen dabei oft von der Kritik hoch gelobte und zeitlose Filme. Die Vorlage gerät dabei nicht selten in Vergessenheit. So wählte im August 2012 das British Film Institute Alfred Hitchcocks 'Vertigo - Aus dem Reich der Toten' (Vertigo, 1958) zum besten Film aller Zeiten. Pierre Boileau und Thomas Narcejacs Roman 'Von den Toten auferstanden' (D’Entre Les Morts, 1954), auf dem der Film beruhte, dürfte heute dagegen nur mehr den Wenigsten bekannt sein. Um einige weitere Beispiele berühmter filmischer Adaptionen zu nennen (basierend auf mehr oder weniger berühmten Romanen): Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, 1930, Regie: Lewis Milestone, nach dem Roman von Erich Maria Remarque, 1928); Vom Winde verweht (Gone with the Wind, 1939, Victor Fleming, nach dem Roman von Margaret Mitchell, 1936); Einer flog übers Kuckucksnest (One Flew over the Cuckoo's Nest, 1975, Milos Forman, nach dem Roman von Ken Kesey, 1962), No Country for Old Men (2007, Joel und Ethan Coen, nach dem Roman von Cormac McCarthy, 2007), und Slumdog Millionaire (2008, Danny Boyle, nach dem Roman Rupien! Rupien! - im Original Q & A - von Vikas Swarup).
Auch wenn Stimmen, welche die prinzipielle Überlegenheit des Buches gegenüber der Kinoadaption propagieren, nie gänzlich verstummen, finden Literaturverfilmungen immer wieder hohe Anerkennung (es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass alle oben genannten Adaptionen - mit Ausnahme von Vertigo - mit dem Oscar in der Kategorie 'Bester Film' ausgezeichnet wurden).
"Grenzüberschreitungen: Migration und Literatur aus der Perspektive der Literatursoziologie". Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, 20.-21. Juni 2016
Die zeitgenössische Literaturproduktion reagiert seit Längerem auf Thematiken wie Kulturkonflikte, Fremdheit, Einwanderung und Migration. Das Forschungsprojekt Literature on the Move untersuchte die Migration von Autor(inn)en nach Österreich und deren Möglichkeiten bzw. Schwierigkeiten beim Eintritt in das Feld der österreichischen Literatur. Es wurde der Versuch unternommen, die Rahmenbedingungen, die Struktur und die Konsequenzen literarischer Produktion miteinander in Beziehung zu bringen und mit Hinblick auf die literarischen Texte zu analysieren.
Mein Vortrag befasst sich mit Uwe Timms Roman Halbschatten (2008), eines der zahlreichen literarischen Werke, die vor allem die seit 1989 aufgekommene Tendenz der deutschsprachigen Autoren nachweisen, sich erneut, aber intensiver und in einer anderen, besonderen Art und Weise mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Mehrere gegenwärtige Literaturhistoriker und -kritiker versichern uns, dass mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung eine „Wende des Erinnerns“ (Beßlich et al. 2006, 7) in den deutschen literarischen Geschichtskonstruktionen eingetreten ist. In der Tat werfen die Autoren der sogenannten Berliner Republik oftmals neue, verstörende, ja geradezu irritierende Blicke auf die unangenehmsten Erfahrungen und Ereignisse der deutschen Vergangenheit. In der deutschsprachigen Geschichtsfiktion der Postmoderne, die sich mit der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, wird nicht mehr ausschließlich die Perspektive der Opfer und Außenseiter dargestellt, sondern es werden zunehmend auch (oder hauptsächlich) Mitläufer und Täter in den Vordergrund gestellt und beleuchtet. Uwe Timm ist einer der Autoren der mittleren Generation, der sich in den letzten Jahren bereits mehrmals der NS-Vergangenheit zugewendet hat, und zwar in geschichtsfiktionalen Erzähltexten, die zum Teil mit seiner eigenen Lebensgeschichte verwebt sind – man denke an die Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993), aber v.a. an die aufsehenerregende Doppelbiographie Am Beispiel meines Bruders (2003). Timm legte neulich in den Frankfurter Poetikvorlesungen, die unter dem Titel Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt herausgegeben wurden, sein Verständnis des historischen Romans als „eine literarische Konstruktion von einem geschichtlichen Ereignis“ dar [...].
Wer durch eine Stadt wie Venedig geht, sieht, dass die Zeit überall ihre Spuren hinterlässt. Der britische Kunsthistoriker John Ruskin nennt diese Spuren in seinem 1851 bis 1853 publizierten Reisebericht 'The Stones of Venice' "time stains" und macht darin eindrücklich darauf aufmerksam, dass Spuren der Zeit ästhetisch betrachtet werden können, obwohl sie kein Produkt des Menschen, sondern zunächst einmal eines der Zeit sind. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern die Zeit als Gestalterin ästhetischer Objekte begriffen werden kann und wie sie dieses Potenzial in Konkurrenz zu kulturellen Gestaltungsabsichten erfüllt.
Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich die im Kontext der Ruinenästhetik geführten Diskussionen und das seit einigen Jahren zu verzeichnende neue Interesse am Naturschönen folgendermaßen verbinden und zuspitzen: Die Zeit muss als gegenkulturelle Gestalterin der Lebenswelt genauer ins Visier und als ästhetisches Subjekt ernst genommen werden. Der Beitrag reiht sich damit in die seit einigen Jahren Konjunktur verzeichnende ästhetische Auseinandersetzung mit der Zeit ein. Dort ist bislang versäumt worden, dezidiert nach der ästhetischen Gestaltungskraft von Zeit zu fragen, während man die kulturelle Gestaltbarkeit von Zeit betont hat.
"Ich habe kein Wort" : Betrachtungen zu einem Topos literarischer Texte über den Ersten Weltkrieg
(2014)
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit einem Topos, der einen literarischen Bezugsrahmen für Benjamins Befund sowie für psychohistorische Bestandsaufnahmen darstellt, nämlich der in (literarischen) Dokumenten von Kriegsteilnehmern immer wieder geäußerten Überzeugung, die 'wahre' Natur des Fronterlebnisses könne jenen nicht vermittelt werden, die diese Erfahrung nicht teilen. Dieser 'Unsagbarkeitstopos' erscheint paradox, steht er doch im Widerspruch zur schieren Fülle literarischer Zeugnisse über den Großen Krieg von 1914–1918, in denen überdies sehr häufig der Anspruch erhoben wird, die 'Wahrheit' über den Krieg zu berichten und so die falsifizierenden Bilder der Propaganda zu korrigieren. Auch widerspricht die Betonung der Nicht-Erzählbarkeit des Krieges der allgemeinen Erfahrung, wonach krisenhafte Erlebnisse zumeist einen 'narrative drive' generieren, also tatsächlich das Bedürfnis schaffen, sie zu erzählen. Im Fall von Memoiren und Romanen über den Ersten Weltkrieg bleibt dieser Widerspruch jedoch zumeist unaufgelöst.
Das Weibliche als Natur, Rolle und Posse : sozio-theatrale Tableaus zwischen Shakespeare und Nestroy
(2011)
Es wäre viel zu einfach, die in einer bestimmten historischen Konstellation verbreitete Rede davon, was "weiblich" und was "männlich" sei (eine Rede, der die Alltagsrealität des Einzelnen ohnehin entgegengesetzt sein kann), und die in einem Bühnenstück vorgeführten Verhaltensweisen von Frauen und Männern in eins zu setzen. Zu bedenken ist vielmehr, was Walter Obermaier über die Frauen bei Nestroy schreibt: dass sie nämlich "generell einer Welt der Fiktion zugehörig [sind], in der Possentradition und Theaterkonventionen eine entscheidende Rolle spielen" - oder allgemeiner formuliert, dass Kunst, Alltagswissen und die Autorität wissenschaftlicher Rede je spezifische Funktionen für einen Diskurs besitzen und dabei in verschiedene Beziehungen zueinander treten können. Dies vorausgesetzt, möchte Marion Linhardt im Folgenden einem traditionellen Thema des komischen Theaters nachgehen: dem Aufeinandertreffen von geschlechtsbezogener Norm einerseits und Abweichung von dieser Norm andererseits. Das genre- wie geschlechtergeschichtliche Feld wird dabei durch William Shakespeares "The Taming of the Shrew" (um 1592) und Nestroys "Gewürzkrämer-Kleeblatt" (Theater an der Wien 1845) aufgespannt. Die Verschiebungen im Geschlechterdiskurs, die sich innerhalb dieses Feldes vollzogen, und das jeweilige Potenzial dieses Diskurses im Hinblick auf komische Genres lassen sich beispielhaft anhand der maßgeblichen Wiener Shrew-Adaption des 19. Jahrhunderts nachvollziehen: gemeint ist "Die Widerspänstige" (Burgtheater 1838) des Nestroy-Zeitgenossen Johann Ludwig Deinhardstein, ein Stück, das seinerseits nach zwei Richtungen hin kontextualisiert werden soll - zunächst durch einen Blick auf die im deutschsprachigen Raum viel gespielten älteren Shrew-Bearbeitungen von Johann Friedrich Schink und Franz Ignaz von Holbein, dann durch Beobachtungen zu einem programmatischen Stück aus dem unmittelbaren Umfeld der "Widerspänstigen", nämlich Wilhelm Marchlands Lustspiel "Frauen-Emancipation" (Theater in der Josephstadt 1839). Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein doppelter: Es wird gefragt, wie sich die aus dem erwähnten Aufeinandertreffen von Norm und Abweichung resultierende Komik zur - historisch bedingten - Disposition von Genres verhält und welche Dimensionen das Phänomen des Rollenspiels in diesem sozio-theatralen Tableau gewinnt.
Rezension zu Alf Mentzer: Die Blindheit der Texte. Studien zur literarischen Raumerfahrung. Heidelberg (Winter) 2001 (= Anglistische Forschungen; Bd. 293). 252 Seiten.
An der Kluft zwischen Sehenden und Blinden setzt Alf Mentzer in seiner ausgezeichneten, komparatistisch angelegten Studie über literarische Raumdarstellungen ein. Das Phänomen der Blindheit wird dabei nicht allein als Darstellungsgegenstand in den Blick genommen, sondern es geht Mentzer weit mehr darum, ob und wie mit dem Thema Blindheit immer schon "die Blindheit der sprachlichen Repräsentation thematisch wird". Denn, so Mentzers These, der Leser eines literarischen Textes verhält sich hinsichtlich der Räume, die im Text dargestellt werden, wie ein Blinder. Der Leser 'sieht' nicht, was der Erzähler 'sieht' und erzählt, und dennoch gelingt es literarischen Texten immer wieder, bei Lesern Raumerfahrungen zu evozieren. Wie aber vollzieht sich dieser Prozeß der textuellen Konstitution von Wahrnehmungsräumen bzw. wie wird überhaupt die Möglichkeit der Wahrnehmbarkeit von literarischen Räumen erzeugt?
Im ersten Teil der vorliegenden Analyse werden zwei Themen in Jungs Schrift untersucht: die Amoralität und Unbewusstheit Gottes sowie dessen Menschwerdung. Dann soll erörtert werden, wie Jung zu seiner Interpretation kommt, und schließlich wird gezeigt, welche Bedeutung Jung der Hiobschrift für das 20. Jahrhundert und danach beimisst.
Labyrinthe
(2000)
Tagungsbericht zum Kolloquium im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Texte und Bilder"
Ruhr-Universität Bochum, 2.-3. Juli 1999
Seit der Antike dient das Labyrinth als Metapher für die Unübersichtlichkeit des Lebens und der Welt und versinnbildlicht die Struktur einer Ordnung, die in ihrer Komplexität unüberschaubar erscheint und in der man sich gleichwohl zurechtzufinden hat. In Kunst und Literatur ist der Topos immer wieder gestaltet worden, nicht selten in Werken, die ihrerseits labyrinthisch anmuten. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Texte und Bilder", einem interdisziplinären Forschungsprojekt des Instituts für Philosophie der Fernuniversität Hagen und des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bochum, fand auf Initiative und unter der Leitung von Monika Schmitz-Emans (Bochum) und Kurt Röttgers (Hagen) ein Kolloquium zum Thema Labyrinthe statt. Es beteiligten sich Vertreter der Fachrichtungen Komparatistik, Germanistik, Medienwissenschaft und Philosophie.
Rezension zu Sabine Kleine: Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini. Stuttgart; Weimar (Metzler) 1998
Das Böse, Häßliche, Obszöne, Schreckliche als Signatur moderner Literatur inspirierte das Interesse der Forschung innerhalb der letzten Jahrzehnte in besonderem Maße, was sich am Erscheinen etlicher Monographien zum Thema gerade in jüngster Zeit ablesen läßt. Die Autorin der vorliegenden Studie möchte keine eigene Theorie des Häßlichen hinzufügen, sondern die "Literarhistorie der Moderne auf der abgewandten Seite der Kallistik" nachschreiben, um auf Adornos These, die Literatur der Moderne sei Ort eines Inkommensurablen im Sinne einer negativen Utopie, "die Probe" zu machen.
Der Beitrag präsentiert die theoretischen Vorschläge, die das Bonner Graduiertenkolleg "Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses" erprobt und weiterentwickelt. Im Zentrum stehen neben der grundsätzlichen Theoretisierung und Historisierung des Verhältnisses von 'Gegenwart' und 'Literatur' die Konsequenzen des 'practice turn' für die Gegenwart/Literatur-Forschung, die theoretischen Grundlagen ihrer Wissenschaftsgeschichtsschreibung und insbesondere die Bedeutung von Referenz und Referenzierung.
Auf der Grundlage einer Textauswahl von 110 Werken der einschlägigen Literatur wird versucht, das okkulte Schrifttum des 18. Jahrhunderts zu ordnen und die einzelnen Genres, die sich herausstellen lassen, durch exemplarisch zu verstehende Texte zu charakterisieren. Eine Ausnahme bilden die alchemistischen und theosophischen Veröffentlichungen, die lediglich erwähnt werden.
Die ältere Bezeichnung "okkult", das "Okkulte", wird beibehalten und den Begriffen "Esoterik" und "esoterisch" vorgezogen. "Okkultismus", zu sehr an die entsprechenden Bestrebungen des 19. Jahrhunderts gebunden, wird nur in diesem spezifischen Sinne gebraucht. "Esoterik bzw. esoterisch" haben sich zwar als Begriffe in der neueren Aufklärungsforschung eingebürgert - man vergleiche dazu die Veröffentlichungen der letzten Jahre -, doch erscheinen mir diese neuen Bezeichnungen noch schwammiger als die alten. Sie lassen gegenwärtig die heterogensten Elemente im Begriffsfeld zu. Ein Ausweg wird gesucht, indem man - wie in einem Ausstellungskatalog - die Begriffe ganz eng auf geheime Gesellschaften einschränkt, so wie auch in den genannten Beiträgen der Germanistik das Schwergewicht auf Logen und geheimen Verbünden liegt. Das Dilemma beschreibt Antoine Faivre und sucht festen Boden zu gewinnen, indem er "Esoterik" als "Denkform" mit vier, bzw. sechs "Komponenten" beschreibt und auf inhaltliche Abgrenzungen verzichtet. Diese Komponenten sind auch auf den Begriff "okkult" anwendbar. Sie sind Definitionen wie der folgenden: "Okkultismus ist das Sammelwort für die Fülle der geheimnisvollen Kräfte und Beziehungen, die im Bereich der Seele, im Haushalt der Natur und zwischen diesen beiden wirken" insofern überlegen, als sie das Wesen des "Geheimnisvollen" und "Dunklen" mit begrifflich faßbaren Sachverhalten beschreiben.
Rezension zu Gabriel Mages: Die Übertragung bei Jacques Lacan, Turia und Kant, 2017; Bruce Fink: Lacan on Love. An Exploration of Lacan's Seminar VIII, Transference, polity press, 2016; Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan, Wilhelm Fink, 2016.
Die koreanische Autorin Bae Sua, die sowohl als Übersetzerin aus dem Deutschen wie als Erzählerin immer wieder die Auseinandersetzung mit deutscher Kultur und Literatur sucht, ließe sich mit Uljana Wolf, Yoko Tawada oder Tomer Gardi einer Literatur der Multilingualität zuordnen, die sich der deutschen Sprache in bewusster Befremdung nähert, in ihren Schreibverfahren mit Mehrsprachigkeit experimentiert, die Möglichkeiten einer "polyglot hybridity and pan-cultural allusiveness" auslotet. Zurecht stellt die Germanistin Ahn Mi-Hyun fest, dass sich Bae immer wieder mit der verfremdenden Wirkung beschäftigt, die unbekannte und ungewohnte Fremdsprachen auf die Wahrnehmung des vermeintlich Vertrauten haben, dass sie das Koreanische durch ungewöhnliche Wendungen und grammatische Formen bereichere, die zum Teil wie formale Übernahmen aus dem Deutschen erscheinen, und dass das Aufsuchen des Fremden, das Leben in fremden Räumen, das Lernen fremder Sprachen ein mit großer Konsequenz verfolgtes Thema ihres Schreiben ist, ja, in einem ihrer Texte schlägt Bae sogar vor, sich in der eigenen Sprache wie in einer fremden zu bewegen, als würde man sie nur schlecht verstehen. Immer wieder wird in ihrem Werk auch auf deutsche Literatur Bezug genommen, werden Textpassagen, mitunter auch ganze Gedichte in koreanischer Übersetzung zitiert, treten mit Kafka oder auch mit Jakob Hein deutsche Autoren, bzw. deren Bücher in Nebenrollen auf. Aber anders als die genannten Autor*innen ist die polyglotte Autorin Bae Suah, die sich durchaus einer "planetaren" - also ihrer globalen Vernetztheit bewussten "Poetik" - im Sinne Pizers zuordnen lässt, in ihren Texten nicht mehrsprachig. Ein merkwürdiges Paradox: eine Autorin, die über das Leben zwischen den Sprachen schreibt, sich in mehreren Sprachen bewegt, darüber reflektiert, aber sich dann doch nicht der Strömung "literarischer Mehrsprachigkeit" zuordnen lässt, die in den letzten Jahren vermehrt ins Feld der Aufmerksamkeit der interkulturellen Germanistik gerät. Es sei denn, es gäbe so etwas wie eine einsprachige Mehrsprachigkeit.
Text und Experiment : die Experimentalszene als mediale Konfiguration im Werk E. T. A. Hoffmanns
(2014)
Im literarischen Werk E.T.A. Hoffmanns nimmt das Experiment eine besondere Stellung ein. Wissenschaftliche oder parawissenschaftliche - auch alchemistische - Experimente kommen in seinem OEuvre an vielen Stellen explizit zur Sprache. In der zweiten Vigilie des bekannten 'Goldenen Topf', beispielsweise stellt der Registrator Heerbrand den geheimen Archivarius Lindhorst zunächst als einen "experimentierenden Chemiker" vor. In dem Märchen 'Klein Zaches genannt Zinnober' unternimmt der Professor Mosch Terpin so manch "physikalisches Experiment". In den Gesprächen der Serapions-Brüder ist unter anderem vom "Experiment" des Magnetismus die Rede, und in der späten Erzählung 'Der Elementargeist' kommt es noch zu einem sehr ausgiebig beschriebenen "Experiment". Dies sind lediglich vereinzelte Beispiele, die einen ersten Einblick bieten. Das "Experiment" an sich stellt ein rekurrentes Motiv des Gesamtwerks Hoffmanns dar. Wie lässt sich diese Präsenz und Prägnanz des Experimentalmoments kontextualisieren? Wie lässt sie sich begründen? Und zunächst auch: Welche Verbindungen ergeben sich genereller aus dem Zusammenhang von Literatur und Experiment?
Mit der Konstellation "Text und Experiment" ist ein Themenfeld bezeichnet, das als Schnittfläche zwischen wissenschaftsgeschichtlichen und literaturhistorischen Fragestellungen heute kein unerforschtes Gebiet darstellt. Zu den Verbindungen zwischen Experiment und literarischer Konfiguration liegt mit dem von Michael Gamper herausgegebenen Band 'Experiment und Literatur' sowie der grundlegenden, dreibändigen literaturgeschichtlichen Buchfolge zu dem Thema inzwischen eine imposante Reihe wissenschaftlicher Werke vor. Die genannten Bände stecken Grundlagen ab, liefern Einzelanalysen und geben darüber hinaus Impulse und Anregungen für die weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand.
Bilder von Gesichtern sind immer interpretiert und entworfen. Sie setzen weniger die konkrete Person in Szene als vielmehr das, was an ihr als bedeutsam erachtet wird. Seit Jahrhunderten konzentrieren sich auf dem Gesicht vielfältigste Deutungen, Ansprüche, Wünsche und Zuschreibungen, die einer bündig entwickelten Geschichte des Gesichts im Wege stehen. Das Buch betrachtet religions-, wissens-, literatur- und kunsthistorische Zäsuren, in denen sich ein je neuartiger Bezug von Gesichtszeichen und Bildgebung formiert. Im Fokus stehen Positionen, die das Gesicht demonstrativ ausstellen, es verstellen oder vermeiden und aussparen. Gelöschte, geleerte, verschattete, fragmentierte, verdrehte, rückansichtige Gesichter rühren epistemologisch und ästhetisch an den Rand des Erkennbaren. Sie sind noch als Gesichter erfassbar, als lesbare Oberflächen werden sie jedoch prekär und gehen nicht länger in Gewissheit und Wiedererkennung auf.
Aus dem Leben der Knöpfe
(2015)
Der Knopf ist ein diskretes und zugleich unabdingbares Teilstück textiler Verschlüsse und steht als solches im Zentrum erbitterter Kämpfe und subtiler Gunstbezeigungen: In seiner 'Rede an einen Knopf' aus dem Jahr 1915 gesteht Robert Walser einem schon ziemlich abgewetzten Hemdknopf seine Liebe; er dankt ihm für die in der "unauffälligsten Unauffälligkeit" zugebrachten Dienstjahre und seine weitgehend unbeachtete Leistung. In Louis Pergauds Roman 'La Guerre des boutons' (1912) hingegen wird eine Fehde zwischen den Heranwachsenden zweier südfranzösischer Dörfer als ein Kampf um Knöpfe ausgetragen, bei dem sich die Protagonisten der befeindeten Lager zwar nicht die Kehlen, wohl aber die Knopflöcher aufschlitzen und die Metallhaken und Knöpfe von Hemd und Hose schneiden.
Begegnungen unter den Linden : der etwa tausendste Versuch zum Thema Christa Wolf und die Romantik
(2006)
"Ich bin überzeugt, daß es mit zum Erdenleben gehört, daß jeder in dem gekränkt werde, was ihm das Empfindlichste, das Unleidlichste ist: Wie er da herauskommt, ist das Wesentliche." - Diese Sentenz von Rahel Varnhagen steht als Motto über Christa Wolfs Erzählung 'Unter den Linden'. Entstanden um 1969 und parallel zu Nachdenken über Christa T., gehört sie zu den ersten Texten, an denen die Forschung Wolfs Hinwendung zur romantischen Tradition ausgemacht hat. Später schreibt sie literarische Essays über Bettine, Günderrode, Kleist und macht sie zu Protagonisten ihrer Erzählung. Und doch geht es bei solch expliziter Namensnennung durchaus nicht nur um eine Identifikation mit früheren Dichterschicksalen oder der viel beschworenen "Künstlerproblematik", und es geht auch um mehr als schlicht die Wiederaufnahme und Weiterführung romantischer Themen. Denn hier wird Ästhetik verhandelt, im breitmöglichsten Sinne geht es darum, wie man sich schreibend zu seiner Welt in Beziehung setzt. Es ist die Erfahrung vergleichbarer historischer Konstellationen, die zur Auseinandersetzung mit und zur Wiederaufnahme und Erneuerung von früheren ästhetischen Programmen führt.
Gesichter sind in der modernen Gesellschaft zwiespältig geworden: Einerseits ist von einer "facialen Gesellschaft" die Rede, entsprechend der Leitfunktion, welche Gesichter als Vorbilder in der Medienkultur einnehmen, ob nun bei Stars, Politikern, Sportlern, Promis - Berufsgruppen für die face lifting selbstverständlich zur Vorbildfunktion mit Nachahmungseffekten hinzugehört. Fernsehformate wie Casting- Shows beruhen auch darauf, dass Gesichter zur Nachahmung vorgegeben werden. Selbstverständlich sind diese Gesichter nie natürlich oder wahrhaft, wie dies die Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert behauptet hatte, sondern künstlich und verstellt. Aber der Topos des natürlichen Ausdrucks wird gleichwohl aufrecht erhalten und rhetorisch angewendet. Die biopolitische Diskursmacht führt dazu, dass trotz der maskenhaften Verstellung der Mediengesichter der empathisch-emotive Effekt eintritt. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Leistung von Medienkultur, Indikator einer anthropologischen Macht der Medien. Michael Taussig spricht unter Berufung auf Benjamin vom mimetischen Vermögen, das durch Medien zustande kommt und Fremdheit durch Nachahmung minimiert, entsprechend dem antirassistischen Leitmotiv von Kafkas "Wunsch, Indianer zu werden". Insbesondere Gefühle wie Liebe oder Angst werden dabei im Gesichtsausdruck der Medienbilder präsentiert und unter Zuhilfenahme der anthropologischen Topik einer Entsprechung des Äußeren im Inneren vom Zuschauer mimetisch hervorgebracht oder ihm zur Nachahmung angeboten.
Rezension zu Michael Niehaus: Das Buch der wandernden Dinge. Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief. München (Hanser) 2009. 406 S.
"Die Geschichte eines wandernden Dinges kann dazu bestimmt werden, das Ding mit Bedeutung zu beladen, zu befrachten. Doch was geschieht mit dieser akkumulierten Bedeutung, wenn die Geschichte am Ende ist?"(159), fragt Michael Niehaus mitten in seiner groß angelegten Studie zu wandernden Dingen in Literatur und Film.
Rezension zu Eberhard Lämmert: Respekt vor den Poeten. Studien zum Status des freien Schriftstellers. Göttingen (Wallstein Verlag) 2009. 360 S.
Eine sozialgeschichtliche Studie zum Status des freien Schriftstellers (in Deutschland) vom Beginn dieses Phänomens bis zur Gegenwart verspricht, vor allem, wenn sie von einem so verdienstvollen Literaturwissenschaftler wie dem 1924 in Bonn geborenen Eberhard Lämmert verfasst ist, eine lohnende Lektüre. Da es sich nicht um eine Monographie, sondern um einen Sammelband von zwanzig Einzelstudien handelt, bekommt man darüber hinaus einen Überblick über die Moden und Methoden der Germanistik der letzten vierzig Jahre geliefert, wie Lämmert im Vorwort versucht, Bedenken gegenüber diese Zusammenstellung zu zerstreuen.
Im antiken Rom war das Publikum im Colosseum live bei der Inszenierung von Gewalt dabei. Heutzutage werden "tödliche Spiele" in Film und Literatur nicht nur medial re-inszeniert (Stichwort Hollywood-Historienfilme, Gladiatoren-Computerspiele), sondern auch zunehmend als Vehikel für Gesellschaftskritik eingesetzt. Ausgehend vom Erfolg der Buchtrilogie "Die Tribute von Panem" (The Hunger Games) wird der Vortrag erkunden, welche gesellschaftliche Funktion die Darstellung und Betrachtung von Gewalt im Spiel erfüllt.
Der vorliegende Band nimmt künstlerische Auseinandersetzungen mit Zeugenschaft im Film, im Theater, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in der Performancekunst in den Blick und stellt dabei grundlegende Fragen: Was gilt als Zeugnis und wer ist ein Zeuge? Wie verhalten sich Zeugnis, Wahrheit und Fiktion zueinander? Wie wird Zeugenschaft, wie wird die epistemische und moralische Rolle von Zeugnissen in der Kunst reflektiert und kommentiert? Dabei werden gattungsspezifische Aspekten der jeweiligen Kunstformen herausgearbeitet, aber auch allgemeinere Fragen über das Verhältnis von Kunst und Zeugenschaft thematisiert. Gewinnen wir, indem wir uns mit künstlerischer Zeugenschaft auseinandersetzen, auch einen neuen Blick auf Begriff und Phänomen von Zeugenschaft? Oder ist ein solch allgemeiner Begriff von Zeugenschaft gar nicht anzustreben angesichts der kaum überschaubaren Fülle unterschiedlicher Phänomene des Zeugnisgebens? Fragen über Fragen, auf welche dieser Band Antworten sucht. Doch wir möchten an dieser Stelle auch einige Thesen darüber artikulieren, welche Facetten von Zeugenschaft ganz spezifisch durch Kunst in den Blick geraten – und wodurch sich insbesondere die künstlerische Auseinandersetzung mit Zeugenschaft vom Umgang mit Zeugen und Zeuginnen in anderen Kontexten unterscheidet.
Der Sammelband 'Literature as Dialogue. Invitations Offered and Negotiated' vereint die Beiträge der jährlichen Konferenz der International Association for Dialogue Analysis, welche unter dem Titel 'Dialogue Analysis: Literature as Dialogue' im Jahre 2012 vom LitCom-Projekt, Literary Communication Project of Åbo Akademi University, ausgerichtet wurde. Die theoretische Basis der dreizehn Rezensionen Aufsätze folgt zu großen Teilen den Ansätzen und Ergebnissen der Forschungen im Rahmen dieses Projekts, welche daher zu Beginn kurz zusammengefasst werden. Im Sinne des LitCom-Projekts werden die Prozesse des Schreibens, Lesens und der weiteren Wirkung eines literarischen Textes als reale Kommunikationsakte betrachtet. Im Gegensatz zu den lange Zeit dominierenden Kommunikationstheorien und dem Konzept des Senders und Empfängers einer Nachricht werden diese Kommunikationsakte immer als bidirektional und bikontextuell verstanden. Neben der Frage der jeweiligen Ausprägung der Dialogizität eines Textes gilt es ebenso die Verhandlungsmöglichkeiten der Rezipienten zu berücksichtigen. Diese können die Einladung zum Dialog nicht lediglich annehmen oder ablehnen, sondern entsprechend dem Verhandlungsspielraum des Textes individuell umsetzen.