CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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(2007)
Kulturjournalismus
(2007)
Machen wir uns nichts vor. Auch wenn "Event" zum "PR-Wort der letzten Jahre" gekürt worden ist, wenn "Events auf die Besucher wie eine moderne Konsumdroge" wirken, wenn gar vom "Trend zum Event" gesprochen wird, von dem alle Bereiche der Gesellschaft längst so stark erfaßt sind, daß sich ihm nichts und niemand mehr entziehen kann – es bleibt dabei: Wann auch immer davon in Verbindung mit Kultur die Rede ist, da hat man es mit einem bösen Kampfbegriff zu tun. Mit "Eventisierung der Kultur" ist ihr steter Verfall gemeint. Und das Label "Eventkultur" gibt den Zustandsbegriff für eine Gesellschaft, die antrat, mit Kunst und Literatur die höchsten Höhen des Menschenmöglichen zu erreichen, und die nun ihr Bestes, Schönstes und Wahrstes bei einem Schaustellerwettbewerb auf dem Jahrmarkt verhökert. Event, das ist das "zur Sensation hoch inszenierte Nichtereignis, und die größte Kunst im Medienspiel ist das lauteste Krähen". Hier wird, so scheint es, "die Kunst zum bloßen Anlaß für den Konsum (...), zum Alibi", weil sie "in sonderbarer Perversion der alten Horazischen Ästhetik des 'utile cum dulci' und des 'prodesse et delectare', Zucker auf eine Sache streut, die sonst keinem mehr schmeckt." Und das passiert en masse: "Anschwellende Programmhefte, ausufernde Veranstaltungskalender, zunehmender Festivaltourismus, Boom der Multiplex-Kinos, Expo, Millenium Dome – was ist", so fragt sich da der kritische Betrachter mit Blick aufs Literarische, "was ist aus dem Erzählen geworden?" ...
Auf der Autobahn
(2006)
Eine erstaunliche Anklage wegen des Vertriebs eines „obszönen“ Comics ist Anlaß für eine kurze Untersuchung von Argumentationen, die eine spezifisch kindliche Rezeption neuer Medien in der Absicht beschreiben, die juristische Regulierung ihrer Verbreitung zu motivieren. Der Versuch, wahrgenommene Widersprüche in diesen Argumentationen zu erklären, führt schließlich zu der Frage, ob es mißlungene oder etwa besonders gelungene Rezeptionen sind, die in vergleichbaren Kontexten für gefährlich erklärt werden.
A remarkable indictment and conviction following the sale of an ‘obscene’ comic book invites us to examine arguments brought forth to describe a specifically childlike reception of new media, as usually suggested by those who would motivate legal restrictions for such media. Trying to explain some perceived contradictions on the surface of these arguments, we discuss whether it is the failure or rather the extreme success of texts that is marked as ‘dangerous’ in such contexts.
Teekesselchen
(1988)
Wo hat der Bengel nur das Wort wieder aufgeschnappt? Wenn er schon seine Programmierübungen für den Deutschunterricht nicht machen will, dann soll er doch 'Beyond Dark Castle' spielen oder sich durch Datennetze hacken, wie jeder anständige Junge in seinem Alter. Aber Sohnemann muß natürlich wieder aus der Reihe tanzen! Gedichte lesen! Jetzt haben wir die Bescherung: "Papa, was sind denn eigentlich 'Wipfel'?" ...
Die Zahl der computerisierten Schriftsteller wächst rapide. Von den Vorzügen des Mac wissen besonders die zu berichten, die zuvor Erfahrungen an anderen Systemen gesammelt haben. Wie zum Beispiel Fernsehautor Wolfgang Menge. Wir besuchten den Konvertiten in dessen Sylter Sommerdomizil und fragten ihn nach seinem Verhältnis zu den neuen Techniken des Schreibens. Das Gespräch führte Peter Matussek, die Fotos machte Frank Stöckel.
Der Beitrag gibt ein Beispiel dafür, wie philologische Kompetenz für die Analyse von medienkulturellen Phänomenen fruchtbar gemacht werden kann. Ausgehend von Wolfgang Isers Leerstellentheorem wird nach der Funktionsweise ästhetischer Erinnerungsanlässe gefragt – zum einen in systematischer Hinsicht durch einen Vergleich von Schrift, Bild und Klang, zum anderen in historischer Hinsicht durch einen Vergleich analoger und digitaler Medien. Es ergibt sich, daß die ästhetischen Strategien, mit denen traditionellerweise Literatur, bildende Kunst und Musik Leerstellen eröffnen, auf Animationen beruhen, die durch ihre computertechnische Realisierung grundsätzlich nivelliert werden. Folglich bedarf es neuer Verfahren der Leerstellengenerierung, um unter den Bedingungen digitaler Medien die Erinnerung zu aktivieren.
Jarzebina czerwona
(2005)
Bierut z Berlina albo sny o metamorfozach : historia, kryzys i perspektywy polonistyki niemieckiej
(2006)
Der Tränen Palast
(2006)
In his paper, "The Canonization of German-language Digital Literature," Florian Hartling discusses "Net Literature," a relatively young phenomenon, that has its roots in experimental visual and concrete poetry and hypertext. With the use of new media technology, this new genre of literature has acquired much interest and is now considered to be one of the most important influences in contemporary art. Not only does Net Literature connect sound, video, and animation with interactivity and allows new forms of artistic expression, it also impacts significantly on the traditional functions of the literary system. Hartling suggests that, in relation to Net Literature, the notion of the "death of the author" gives birth to the "writing reader." Hartling presents the results of his study where he applies the concept of "canon" to German-language Net Literature and where he attempts to find out whether, in this new form of literature, a "canon" has already been formed. Based on Karl Erik Rosengren's framework of "mention technique," a sample of Germanlanguage reviews of Net Literature was analyzed. The study intends to test the applicability of Rosengren's method to the analysis of Net Literature, that is, whether it is valid to use a method that was originally developed for the empirical study of the traditional literary canon for the study of an emergent Net Literature.
Im Jahr 1837 schreibt Gustave Flaubert – er ist sechzehn Jahre alt – die Erzählung Quidquid volueris, eine nahezu perfekte Schauergeschichte im Stil der gothic novel, ein goyaesker Alp "schlafloser Nächte", worin der Erzähler eingangs die Teufel seiner Einbildungskraft, die "Kinder meines Hirns" anruft wie Musen der Inspiration. Virtuos setzt der adoleszente Autor alle Stilmittel des langsam sich aufbauenden Grauens ein, das sich am Ende in einer entsetzlichen Tat entlädt. ...
Im folgenden wird nicht ein Versuch zur Geschichte männlicher Masken unternommen, ebenso wenig wie eine religionswissenschaftliche oder ethnologische Analyse des Maskengebrauchs und seiner gender-Ordnung. Im Kern geht es vielmehr um den denkwürdigen Punkt, dass an der Nahtstelle zwischen Mythos und Aufklärung in der griechischen Antike eine Neukartierung des Männlichen und Weiblichen im Feld des Generativen vorgenommen wird. Die späten Nachfahren dieser männlichen Machtergreifung, um die es im zweiten Teil geht, entwickeln Figuren des Sexuellen, worin das Generative radikal ausgeschlossen und das Begehren zum Schauplatz eines nur noch in sich selbst kreisenden Maskenspiels wird – jenseits jeder Reproduktionslogik. Man könnte die These wagen: die 'Männer' besetzen die mythische Generativität, doch generieren sie nichts mehr außer sich selbst. Vielleicht ist die ungeheure Kreativität, die in der europäischen Moderne (heute besonders auf dem Feld der 'Reproduktion des Lebens') entfesselt wird, nichts als eine Maske, die diese innere Unfruchtbarkeit überdeckt. Nach einer Abklärung des Maskerade-Konzepts, wie es hier verwendet wird, werden in einem ersten Kapitel mythische Beispiele gezeigt, in welchen die mythische Produktivität des Weiblichen (die Magna Mater) dem symbolischen Regime von Herren-Göttern unterstellt wird. Diese Umcodierung wird die abendländische, nämlich männliche Auffassung von Sexualität und Reproduktion nachhaltig prägen. Sie hat ihren Preis. Er wird, im zweiten Teil, errechenbar an den legendären Figuren des männlichen Sex – Casanova, Don Juan, Sade, 'Walter' und Sacher-Masoch –, welche die "Masken des Begehrens" (Ariès / Béjin) in der Moderne bestimmt haben. Im Mittelpunkt steht dabei Sacher-Masoch, der das masochistische Begehren, das den scheinbaren Kontrapunkt zur männlichen Selbstermächtigung darstellt, aus einer Vielzahl mythischer, literarischer und bildkünstlerischer Figurationen des übermachtig Weiblichen und des demütigen, gar geopferten Männlichen synthetisiert.
Aus den Elementen schuf die Göttin der Liebe, Aphrodite, unsere "unermüdlichen Augen", lehrt Empedokles. Und "das das Herz umströmende Blut ist dem Menschen die Denkkraft". Wie der Körper beschaffen ist, so wächst dem Menschen das Denken. Aristoteles berichtet, daß die alten Philosophen, ausdrücklich Empedokles, Denken und Wahrnehmen für dasselbe gehalten hätten. Aus Elementen sind wir gemischt wie die Dinge, und so nehmen wir die Dinge wahr im Maß, wie sie auf Verwandtes in uns treffen. Im Inneren des Auges ist Feuer, umgeben von Wasser, Erde, Luft. Aus dem Auge wird das Feuer als Sehstrahl auf die Dinge entsandt, und so entsteht das Sehen. Umgekehrt fließen von den Dingen feine Abdrücke ab: wenn sie auf die Poren der Sinnesorgane passen, so werden sie wahrgenommen; passen sie nicht, wird nichts wahrgenommen. So fließt zwischen Leib und Dingen nach der Passung der Poren ein ständiger Strom des Gleichen zum Gleichen. "Denn mit der Erde (in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite." (Capelle, 236) Einem solchen Denken ist Personalität, Identität des Subjekts fremd. Zwischen Natur und Mensch besteht kein Bruch, sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten. Kein qualitativer Sprung zwischen Leib und Geist. "Denn wisse nur: alles hat Vernunft und Anteil am Denken" (Capelle, 239) - denn zwischen Göttern, Menschen und den "vernunftlosen" Tieren besteht eine "Gemeinschaft des Lebens und der gleichen Elemente", Verwandtschaft folglich durch jenen umfassend einzigen "Lebenshauch, der die ganze Welt durchdringe". ...
Es gehört zur Dialektik der Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert, daß [die] Rationalisierungen des Leibes eine Fülle von sowohl ästhetischen wie medizinischen Kritiken und Alternativen hervortrieb, von denen hier ein Strang näher charakterisiert werden soll, nämlich die Leibkonzepte, die auf vormoderne Semiotiken des Körpers zurückgehen, auf hermetische medizinische Traditionen zumal. Kann man die mechanistische Medizin und moralische Disziplin als Strategien der "Entsemiotisierung" verstehen, so zeigen sich am Ende des Jahrhunderts und dann in der Romantik Spuren einer "Resemiotisierung" des Leibes. In heutiger Perspektive interessiert sie darum, weil, wie Thure von Uexküll vermutet, wir an die Grenze des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Medizin gestoßen sind und uns in der Phase der Vorbereitung eines neuen, nämlich semiotischen Paradigmas befinden.
In der sehr alten Deutungsgeschichte der Melancholie gibt es um 1475 eine dramatische Szene, von der Panofsky/Saxl in ihren bahnbrechenden Forschungen zur "Melencolia" von Albrecht Dürer berichten: der hermetische Neuplatoniker Marsilio Ficino klagt in einem Brief seinem Freund Giovanni Calvacanti, daß er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Saturn - das ist hier der maligne Stern, der fernste des Planetensystems, der Gott des Dunklen, Kalten und Schweren; rätselhafte, schwer entzifferbare Gottheit der Zeit; uralter Flurgott oder auch der gestürzte und kastrierte Uranide. Viele, auch widersprüchliche Traditionen fließen in der Semantik des Saturns zusammen. Innerhalb der Astralmedizin ist der Saturn der Regent der schwarzen Galle, der Milz, der kalten, trockenen Erde. Diese Komplexion aus Astrologie, Elementenlehre, Anatomie und Humoralpathologie bildet den Typus des melancholischen Temperaments. ...
Wasser, Wolken und Steine formieren das Landschaftserleben nicht nur der europäischen Kulturen. Zwar bestimmen einzelne Steine, Findlinge oder Basaltsäulen, nur gelegentlich das Bild der Landschaft. Doch immer sind es steinerne Formationen, welche der Landschaft Halt und Gestalt verleihen – als ragende Gebirgszüge, wellige Hügel, in die Ferne ziehende Täler, dunkle Schluchten und Gründe, strebende Gipfel oder auch als schroffe Felsküsten, die sich dem Meer entgegenstemmen, das aufschäumend sich an ihnen bricht. Das Steinerne ist, vom Typus der Hochgebirgs-Malerei abgesehen, zumeist verhüllt vom Mantel der Pflanzen, der Felder und Wiesen, der Wälder und Büsche. Leonardo nannte, noch ganz im Bann der leibmetaphorischen Deutung der Terra, die Felsen das Skelett der Erde, das vom Gewebe des Erd- und Pflanzenreichs bedeckt wird, doch diesem erst die morphologische Stabilität verleiht. Die Flüsse und Bäche, ober- wie unterirdisch dahinströmend, sind die Adern des Erdleibs, ein ewiger Kreislauf des Wassers. Und mächtig atmet in Ebbe und Flut die Lunge der Erde, die auch die Zirkulation der Ströme und Rinnsale antreibt. So werden für Leonardo Landschaften zu beredten Zeugnisse des lebendigen Organismus der Erde – und seiner Geschichte. Auf dieser Linie ist Landschaftsmalerei ist immer auch Bio-Graphie des Erdkörpers. Und vielleicht gilt von aller Landschaftskunst, daß sie sich mit der Geschichte der objektiven Natur verwebt – auch wenn sich gerade in ihr die subjektiven Stimmungen des Betrachters oder Malers verkörpern. ...
Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." ...
Humboldt hat von früh an in unmißverständlicher Klarheit gesagt, was er wollte. Nämlich die Mannigfaltigkeit, die unabsehbaren Ketten, die ungeheure Verstreutheit, die überwältigende Heterogenität der Naturerscheinungen zu einer qualitativen Totalität, zu einer Idee und zu einem Ganzen zusammenzufassen, das auch noch anschaulich sein soll. Dieses Konzept liegt schon den "Ansichten der Natur" von 1808 zugrunde, ist aber viel älter und geht auf die 90er Jahre zurück. Es hat sich auch im letzten Werk, dem "Kosmos", nicht geändert. Im Konzeptuellen herrscht bei Humboldt eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit. Dieser 'Wille zum Ganzen' ist das nunc stans in dem sonst so überaus bewegten Leben Humboldts, in dessen Verlauf er häufig genug die realen Ziele zu ändern gezwungen war, ohne doch seine Grund-Idee aus dem Auge zu verlieren. ...
Hegel hat endlos vielen Interpretationen von Tragödien, und so auch solchen der "Antigone" das Schema vorgegeben, wenn er den tragischen Konflikt als die Kollision zweier sittlicher Ansprüche bezeichnete, die beide in sich selbst gerechtfertigt sind. Für die "Antigone" hieß dies, daß die Sittlichkeit der Familie, durch Antigone repräsentiert wie erlitten, auf die Sittlichkeit des Staates stoße, die in Kreon resümiert ist. Und da beide Sittlichkeiten in sich notwendig seien, müsse die Kollision einen tragischen Terminus finden. Dies umso mehr, als zur tragischen Kollision gehöre, daß beide Positionen jeweils Momente der Gegenposition enthielten, die aber jeweils implizit und unausgedrückt blieben, so daß weder Antigone noch Kreon die Berechtigung der jeweils anderen Auffassung auch nur ansatzweise teilen könne. Unversöhnlich prallen beide Positionen aufeinander, weil die Protagonisten innere Ambivalenzen nicht zuließen. ...
Der Politologe Rudoph J. Rummel hat 1994 und 1997 in zwei Bänden eine breit angelegte Untersuchung von staatlich verantworteten Massenmorden im 20. Jahrhundert vorgelegt: Death by Government und Statistics of Democide. Danach werden an jedem der 36 500 Tage dieses Jahrhunderts, nach vorsichtigen Berechnungen, eta 4650 Menschen pro Tag gewaltsam zu Tode gebracht. Bis zum erfaßten Jahr 1987 sind dies 161.782.000 Terrortote, nach anderen Berechnungen 341.076.000 Tote, also etwa 9.400 am Tag. Nicht eingerechnet sind ungezählte Opfer, die Gewalthandlungen überlebt haben, doch verletzt, verstümmelt, vergewaltigt, ausgeraubt, dauerhaft traumatisiert, verfolgt, demarkiert, verelendet oder vertrieben wurden. In der Untersuchung Rummels geht es ausdrücklich nicht um quasi-legale Kriegstote, nicht um außerstaatliche Gewalt, nicht um Einzelfälle des staatlichen Terrors, sondern allein um die massenhafte Ermordung von wehrlosen Menschen in staatlicher Verantwortung. ...
Deutschland 1932: die Erfahrungen des Amerikanismus und des Fordismus waren gerade verarbeitet; man hatte die neuen Geschwindigkeiten und die Vermassung der Millionenstädte ebenso studiert wie das Industrieproletariat und die frischen Angestelltenschichten; der Funktionalismus hatte in allen Bereichen der Moderne, auch im Design und in der Architektur, seinen Siegesszug angetreten; man hatte an der Metropole Berlin erstmals auch die Wahrnehmungs-Modalitäten von Big Cities ästhetisch durchbuchstabiert; man hatte indes auch mit dem schwarzen Freitag die Konsequenzen globalisierter Wirtschafts- und Börsenverflechtungen erlitten – in diesem Jahr 1932 also bildet der österreichische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" die "soziale Zwangsvorstellung" einer "überamerikanischen Stadt", "wo alles mit der Stopuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwerkketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allegemeinen Rhythmus mit einander ein paar Worte. ...
Erotische Anatomie : Fragmentierung des Körpers als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock
(2001)
1536 erscheinen die danach vielfach neuaufgelegten und erweiterten "Blasons anatomiques du corps féminin", eine Sammlung von Preisgedichten jeweils auf einzelne "Körperteile". Die Blasons sind zunächst im Anhang zur "Hécatomphile" des LéonBattista Alberti versteckt, bevor sie 1543 auch seperat gedruckt werden. Der Dichterfürst Clément Marot (1496-1541) hatte mit dem Gedicht "Le beau tétin" (Das schöne Brüstchen) das Modell vorgegeben und seine Poetenkollegen brieflich eingeladen, über schöne, sprich: reizende Teile zu schreiben – weibliche, versteht sich. Wir sind mitten im Thema. ...
Unter den Formeln, die das Wesen des Menschen pointieren sollen – zoon legon echon, animal rationale usw. – gibt es die etwas humoreske Gleichung: homo est animal quaerens cur, der Mensch ist das Tier, das nach dem Warum? fragt. Wir werden noch sehen: wenn der Mensch sich vom Tier abzuheben sucht, wird er gefährlich. Die Gefährlichkeit des Fragens wird in den Wissenschaften weitgehend geleugnet. ...
Wer nach Paris kommt, sollte nicht versäumen, die Stiegen auf das Dach der Kathedrale Notre-Dame zu klettern und dort die steinernen Monstren, Fabeltiere und Dämonen zu besichtigen, durchaus Meisterwerke gotischer Steinmetz-Kunst. Noch immer kann man die Blicke imitieren, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Künstler Charles Meryon (1821-1868) zu seinen Radierungen inspirierte: mit ihnen versetzte er die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) unter die Zeichen eines fremdartigen und unheimlichen Tierkreises, der nicht die Ordnung des Himmels, sondern das nächtliche Gewimmel einer dämonischen Gegenwelt wiedergab. Seltsam genug ragten seit Jahrhunderten die Lamien und Empusen, die Keren und Chimären, die Teufelsfratzen und Basilisken, Drachenköpfe und Kynokephalen über das Häusermeer der Metropole, die sich gerade anschickte, zum Labor der urbanindustriellen Moderne zu werden. Die steinernen Monstren, die oft auch die Westportale besetzt hielten, weil von dort der Angriff der Dämonen zu erwarten war, dienten im Mittelalter als Wächterfiguren, welche den heiligen Raum des Kirchenbaus vor dem Eindringen der satanischen Rotten zu behüten hatten. ...
Die vier Elemente im Zusammenhang der Anthropologie zu behandeln, ist heute keineswegs selbstverständlich. Die naturphilosophische Lehre von den Elementen fand ihre erste Ausprägung bei Empedokles. Ihre Ausarbeitung bei Platon und Aristoteles war für die Philosophie der Natur bis etwa 1800 paradigmatisch. Mit Antoine Laurent Lavoisier, Joseph Priestley und Sadi Carnot, denen der Nachweis der chemischen Zusammengesetztheit von Wasser, Luft und Feuer experimentell gelang und die damit den Grund für das periodische System der chemischen Elemente lieferten (schon zu Lavoisiers Lebzeiten zählte man über dreißig), war die Elementenlehre als Theorie der Natur wenigstens wissenschaftlich an ihr Ende gekommen. In diesen 2300 Jahren, in denen die vier Elemente die Pfeiler einer jeden Naturphilosophie bildete, hat es eine Reihe wesentlicher Korrespondenzen zwischen Elementenlehre und Anthropologie gegeben. Am wichtigsten ist die überragende Bedeutung, welche die Elemente in der hippokratisch-galenischen Medizin einnahmen, die ihrerseits bis ins 16., wenn nicht bis ins 18. Jahrhundert den Rahmen aller Krankheitslehren abgab. Allerdings kommt die Anthropologie selbst, von einigen Vorläufern abgesehen, erst im 18. Jahrhundert auf den Weg, in einer Zeit also, wo die Elementenlehre durch die moderne Chemie und die antike Humoralpathologie durch die anatomische und neurophysiologische Medizin abgelöst wurde. Auf die junge Anthropologie hat die Elementenlehre also keinen Einfluß mehr ausgeübt. ...
Wie Schrift und Bild im Verhältnis zur Imaginatio stehen, will ich untersuchen. Dabei kommt ein weiteres Verhältnis ins Spiel, nämlich das zum Körper. "Bilder denken" im Sinne von imagines agentes heißt nicht, bloße Vorstellungen von etwas ohne Gegenwart eines Gegenstandes im Kopf haben, wie Kant die Einbildungskraft im Unterschied zur Anschauung definiert. Agent, also aktiv, ergreifend, handlungsauslösend zu sein –: dies heißt mehr, nämlich daß Bilder inkorporiert werden und körperliche Erregungen, Veränderungen oder Handlungen auslösen. Das ist die Performanz der Bilder. Diese körperliche Spur der Bilder, ja, das Einspuren des Körpers durch Bilder ist die energischste Form, in der Erinnerungen inskribiert werden, und die energischste Form, in der Bilder zur Resonanz von Körpern und Körper zur Resonanz von Bildern werden können.