CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Zur intensiven Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit Spitteler steht die Tatsache in Kontrast, dass seine Texte heute aus dem Kanon verschwunden sind: Weder gehören sie, wie noch in den 1960er Jahren, zur Schullektüre noch sind sie Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung und Lehre. In den 47 Jahren nach Erscheinen von Werner Stauffachers Biographie 1973 sind sehr wenige literatur- und geschichtswissenschaftliche Studien zu Spitteler entstanden. [...] Die Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2019 nahm sich im Jubiläumsjahr zum Ziel, Spittelers Werk vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten und aktueller Theorieansätze zu lesen und die Frage nach der "Aktualität von Spittelers Texten" zu stellen. Mögliche Zugänge schienen z. B. auf folgenden Gebieten denkbar:
1. Debatten über die Literatur der Moderne
2. Rezeption der Populärkultur
3. Literatur und Psychoanalyse
4. Race, Class, Gender
5. Jugendbewegung und Reformpädagogik
6. "Denkraum Basel"
7. Zur Debatte um eine 'Schweizer Nationalliteratur'
8. Politische Stellungnahmen
9. Unbekannte Texte
Der vorliegende Essay basiert auf einem Beitrag zur Ringvorlesung "Übergänge zwischen Kunst und Leben" am Programmbereich "Figurationen des Übergangs" der Interuniversitären Einrichtung W&K im Frühjahr 2020. Eingeladen wurde ich, um über Übergänge von Kunst in soziales oder aktivistisches Engagement zu sprechen. Es sollte also um Projekte gehen, die aus dem Kontext von Ausstellungshäusern hinaustreten und direkt in soziale, politische Lebenswelten intervenieren; um eine Kunst, die sich mit gesellschaftlichen Interessen und Praktiken vermischt und nicht eindeutig als Kunst erkennbar ist. Das Werk des deutschen Regisseurs und Künstlers Christoph Schlingensief bietet sich für diesen Fokus ausdrücklich an. Mit der Idee von Kunst als einem abgegrenzten Bereich hat er mehrfach radikal gebrochen. [...] Eine solche Involvierung von Kunst in das gesellschaftliche, politische Leben ist durchaus umstritten und ruft nicht selten Skepsis hervor. Ein wiederkehrender Vorbehalt richtet sich auf die "künstlerische Qualität", die am Einsatz für eine gesellschaftliche Sache leide. Und mehr noch: Kunst verliere ihre ästhetische Autonomie. Durch den Einsatz für eine Sache werde sie instrumentalisiert und zum Vehikel einer Ideologie gemacht, zu Propaganda. Diese Vorbehalte dienen mir nun, zwei Jahre nach der Vorlesung, als Ausgangspunkt für eine Betrachtung von Schlingensiefs Involvierung in das gesellschaftliche Leben. Obwohl der Künstler vor knapp 12 Jahren verstorben ist, hat seine Arbeit ihre Wirkkraft und auch ihre Streitbarkeit nicht verloren. Dies gerade auch deshalb, weil sie die genannten Vorbehalte hervorbringt, zuweilen sogar zum Thema macht, dabei aber keine Eindeutigkeit propagiert - und dennoch Position bezieht.
Ungeachtet ihrer Relevanz und Wichtigkeit, das werden wir sehen, gehört die Selbstbefragung nicht per se zum Brotgeschäft des akademischen Alltags. Die Problematisierung der eigenen Arbeitsweise nimmt abseits des Lehrbuchs (und dort unter anderen Vor- und Fragezeichen), das seine Beliebtheit zuweilen einer Gemengelage verlegerischer Interessen und curricularer Finessen verdankt, nur eine äußerst marginale Rolle in wissenschaftlichen Lebenswelten ein. [...]
Die sozioautobiographischen Tendenzen an den Übergängen zwischen aktuellen Sozialwissenschaften und Gegenwartsliteratur scheint diesem zwar unbeabsichtigt Abhilfe zu schaffen; um aber der bloßen Konstatierung eines neuen 'turns' zu entgehen, ist allerdings deren gesellschafts- und gattungstheoretische Einbettung dringend angeraten. Die Einordnung der sozioautobiographischen Erfolgs-, genauer Rezeptionserfolgsgeschichte wird nur im Gefolge einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie deutlich. Diese erinnert dann gleichzeitig an die frühe Konsolidierungsphase der Soziologie, in der das Soziologische sich formierte als permanenter Übergang von Wissensformen und Erkenntnispraktiken: Erst im Dialog, nur durch den Austausch konnte sich die Soziologie begründen. Diese These zu plausibilisieren ist das erste Anliegen dieses Essays, das zweite ist es, Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Kontext für die Bewertung gegenwartssoziologischer Tendenzen mit Zukunftsansprüchen ableiten lassen.
Liest man einen Text Hélène Cixous' auf Deutsch, stammt die Übersetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der Feder von Claudia Simma oder Esther von der Osten. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie die beiden einzigen Übersetzerinnen von Cixous' Werk ins Deutsche. Am 07. Oktober 2021 fand unter dem Titel "Schreiben, das heißt übersetzen" ein Gespräch zwischen ihnen statt, in dem sie anhand ausgewählter Beispiele Übersetzungsentscheidungen reflektierten und Einblick in ihre Arbeit mit, am und im Cixous'schen Sprachkosmos gaben. Diesem öffentlichen Teil des Zusammentreffens gingen Korrespondenzen, Gespräche und gegenseitige Lektüren voraus, im Zuge derer sich jene Leitmotive formierten, die später den Verlauf des Podiumsgesprächs strukturieren sollten: Cixous' Bezug zum Deutschen, der Sprache ihrer Mutter und Großmutter, die sich von frühester Kindheit an ihrem Gehör einprägt; die Cixous' Person und Werk eigene Transgressivität, die zu übersetzerischer Freiheit auffordert und nach dieser verlangt; die Schwierigkeit, die Polysemie einer Autorin zu übertragen, die erst in den letzten Jahrzehnten auch im deutschsprachigen Raum vermehrt rezipiert wird. 'Tours' und 'vers', zwei Wörter, die stellvertretend für zahleiche weitere stehen, deren Vieldeutigkeit und wechselnde Rollen im Textgefüge nicht auf einen Begriff zu bringen sind, dienten als Ausgangspunkte in die schwindelerregenden Höhen und die mitunter unheimlichen Tiefen der beiden so sprechenden Sprachen Deutsch und Französisch.
Die Zeitdiagnostik der Moderne hat einen Hang zur Totalisierung und Defizitorientierung: Die 'Diagnose' war in den vergangenen Jahrhunderten dazu da, die Krankheit der gesamten Gesellschaft festzustellen, um im besten Falle in einem nächsten Schritt Therapiemöglichkeiten vorzuschlagen, auf jeden Fall aber durch die Kritik am Ist-Zustand verborgene Missstände und auch Fehlmedikationen zu entlarven. Diese Form der Kritik ist heute zunehmend in Verruf geraten. So unterzog Bruno Latour den modernen Gestus der kritischen Entlarvung einer grundlegenden Revision. Indem die Gesellschaftstheorie in einem selbstgerechten Herrschaftsmodus die Bedeutsamkeit, die Menschen den Dingen verleihen, entweder als Fetisch oder als physiologischen Zwang abgetan habe, sei sie ihrer sozialen Geltung verlustig gegangen: "Is it so surprising, after all, that with such positions given to the object, the humanities have lost the hearts of their fellow citizens, that they had to retreat year after year, entrenching themselves always further in the narrow barracks left to them by more and more stingy deans? The Zeus of Critique rules absolutely, to be sure, but over a desert." Für andere Stimmen, vornehmlich aus den Gender, Postcolonial und Queer Studies, ist es an der Zeit, die Kombination aus Verdacht, Selbstvertrauen und Entrüstung, die die Tradition der Kritik mit sich bringt, zugunsten einer stärkeren Involviertheit und Nähe zu den besprochenen Gegenständen abzuschwächen, emotionale Reaktionen zuzulassen und Überforderungen einzugestehen. Nicht nur die der Kritik inhärente Differenz von Subjekt und Objekt, sondern auch der Versuch einer Gesamtansicht muss heute - angesichts der gesteigerten Sensibilität für die gewaltsame Seite von Homogenisierung und Repräsentation - mit starkem Gegenwind rechnen. Wie ist, so kann man fragen, Zeitdiagnostik im 'Zeitalter der Postkritik' überhaupt noch möglich?
Performance. Oper. Feminismus : Bemerkungen zu "7 Deaths of Maria Callas" von Marina Abramović
(2022)
Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett. Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. [...] Bevor Abramović in Kalogeropoulous Schlafzimmer erwacht, gab es sieben Kurzfilme zusehen, die als filmische Kommentare auf sieben Bühnentode des klassischen Opernrepertoires konzipiert wurden. In der Reihenfolge ihres Ablebens treten auf: Violetta, Tosca, Desdemona, Cio-Cio-San, Carmen, Lucia und Norma. In den Filmen lässt sich Abramović von deren jeweiligen Todesarten inspirieren: Abramović stürzt von einem Turm, Abramović wird von einer Schlange erwürgt, Abramović zertrümmert im Wahnsinn Mobiliar usw., alles bei ununterbrochenem Einsatz der Zeitlupe. Den Filmen wird die sie jeweils inspirierende Szene live musikalisch zur Seite gestellt, jede Figur dabei von einer anderen Sängerin verkörpert. Allerdings kommen in den meisten Fällen nicht die tatsächlichen Todesszenen der betreffenden Dramatis Personae zur Aufführung, sondern ein Potpourri ihrer vermeintlich schönsten Melodien. [...] Das fundamentale dramaturgische Problem der "7 Deaths of Maria Callas" erklärt sich aber erst mit Blick auf eine Installation, die Abramović auf Grundlage derselben Zusammenstellung von Film und Musik, allerdings unter Zuhilfenahme von historischen Aufnahmen von Kalogeropoulou präsentiert hat. In dieser Version, unter dem Titel "7 Deaths" in der Londoner Lisson Gallery gezeigt, entfaltet sich ein intimer Dialog zwischen deutlich voneinander zu unterscheidenden Medien und Stilen. Die Autonomie der musikalischen Darbietung geht in der Bühnenversion verloren, der Charakter der Installation verschiebt sich in Richtung Stummfilm mit Live-Musik. Letztere hat nur noch begleitende Funktion und kann weder von der Aura des Historischen noch von den stilbildenden Interpretationen der Callas profitieren. Noch in ihrer Abwesenheit stellt Kalogeropoulou aber an performativer Intensität alles zur Aufführung Kommende in den Schatten. Denn während Abramović bei dem Versuch scheitert, sich mit ihrer physischen Präsenz gegen ihren eigenen Celebrity-Status zu behaupten, treten die Sängerinnen des Abends mit dem Medienphänomen Maria Callas in Konkurrenz. Eine Übermacht völlig anderen Kalibers.
Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege : Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar
(2022)
In her article, "Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege: Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar" ("Spider-Glasses, Dog-Cams, and Walkies with a Goat - Reflections on a Project Seminar on Animal Linguistics"), Pamela Steen describes a linguistics seminar that she taught in the summer semester of 2020 at the University of Koblenz-Landau. The author offers a general classification of pragmatic linguistics in HAS in order to justify its categorization as a sub-discipline of cultural animal studies. Steen pays special attention both to the creative methods participants use to incorporate animal perspectives into their research and to the aspect of empathy for animals. This aspect is not only a central linguistic feature but also relevant to the researcher's perspective. A particularly sophisticated method of empathizing with animals are the "spider glasses" developed by a student of Steen's seminar, Katharina Anna-Lena von Werne. In excerpts from her research report, von Werne describes how she sees the world "through the eyes of a spider" and what personal changes this has brought about for her in relation to nonhuman animals.
In "Jagd oder die Kultivierung der Gewalt: Tierethische Sensibilisierung anhand der Filme 'Die Spur' und 'Auf der Jagd'" ("Hunting or the Cultivation of Violence: Sensitizing Students to Animal Ethics using the Films 'Spoor' and 'On the Hunt'"), Björn Hayer proposes an intervention that allows students to understand hunting as a cultural practice and its representation in contemporary film, and to develop greater compassion for nonhuman animals. Arguing that it is possible to relate the cognitive and affective educational goals listed in several secondary school curricula with the objectives of HAS as defined by Gabriele Kompatscher, Hayer sketches a teaching sequence that focuses on two texts featuring hunts: Agnieszka Holland's "Pokot" ("Spoor", the 2017 screen adaptation of Olga Tokarczuk's novel "Drive Your Plow Over the Bones of the Dead") and Alice Agneskirchner's 2018 documentary "Auf der Jagd". Framing his nuanced readings of these two films with recent debates on hunting and animal ethics, Hayer shows that this approach allows secondary school students to develop a better understanding of cinematography. In addition, students also discover how cinematic animals can be used to elicit different cognitive and affective responses that may lead to the development of an ethical regard for nonhuman animals. Contributing to both the literature on animals in film and on related pedagogies, Hayer proposes an approach that could easily be implemented both in secondary schools and in various other educational contexts and settings.
Tiere im imperialen Diskurs : die Human-Animal Studies als Unterrichtsparadigma für das antike Rom
(2022)
Steffensen combines human-animal studies with the concept of new political history to explore innovative perspectives for teaching Roman history. He thus provides a framework that allows students to further their understanding of the political dimensions of historical consciousness and to enhance their orientation competency. Students learn to recognize and analyze power structures and relationships in historical and contemporary societies. According to Steffensen, HAS is of utmost significance for the initiation of this process. Animals played important roles in political decision-making processes in ancient Rome, and animals were meaning-making figures in governance discourses. Focusing on the practical and semantic functions of animals in the context of divination and the discourse of decadence, this essay shows that HAS can serve as a starting point for teaching in a way that addresses the formation and utilization of empire. However, Steffensen does not only seek to promote students' understanding of political processes in the past but also hopes to motivate students to assess modern-day politics.
Der Beitrag von Aurea Klarskov verhandelt die Genauigkeit als methodischer Parameter in der Etablierung eines neuen künstlerischen Mediums, nämlich der Videokunst. Im Zentrum steht ein Close Reading der frühen Videoarbeit "Slow Angle Walk (Beckett Walk)" (1968) des US-amerikanischen Künstlers Bruce Nauman, welches das Verhältnis von Körper und Technik herausarbeitet: Für die Laufzeit eines Videobandes wiederholt der Künstler eine kurze, gleichbleibende Bewegungssequenz so präzise und gleichmäßig wie möglich, was die Arbeit mit (selbst auferlegter) Körperdisziplinierung und subtilem Zwang rahmt. Der individuelle, verletzliche Körper steht dabei dem vorangegangenen 'Befehl', der die Bewegungen bestimmt sowie der scheinbar objektiv die Situation aufnehmenden Kamera, gegenüber. Diese frühe Arbeit nimmt die Leitthematik späterer Arbeiten Naumans vorweg: die Selbst- und Fremddisziplinierung des lebendigen Körpers, registriert durch die technische Genauigkeit des überwachenden Kameraauges.
Felix Hempe beschreibt eine dritte, zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung vermittelnde Position der 'disziplinierten Subjektivität', die Siegfried Kracauer im Kontext des Methodendiskurses im US-amerikanischen Bureau of Applied Social Research in den 1950er Jahren entwickelte. Mit der Zuordnung von Genauigkeit zu statistischen Methoden und Präzision zur Beschreibung sozialer Verhältnisse, besteht Kracauer darauf, dass Genauigkeit im Sinne einer Exaktheit der Naturwissenschaften die sozialen Ereignisse und Bedingungen der Lebenswelt als eigentlicher Gegenstand der Sozialforschung nicht "präzise" genug bestimmen kann. Umgekehrt kann qualitative Forschung, die nicht zu einem gewissen Grad kodiert und operationalisierbar gemacht wird, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Entscheidend wird in dieser Konstellation nun das, was Kracauer eine "disziplinierte Subjektivität" nennt. Methodisch kann sie erst dann gelingen, wenn beispielsweise kritisch reflektiert wird, wie die Imagination des Forschersubjekts vom zu untersuchenden Material angeregt wird. Hempe deutet dieses Verfahren deswegen auch als Vermittlung zwischen Genauigkeit und Imagination.
Lisa Cronjäger untersucht entlang einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden forstwissenschaftlichen Taxationskarte von Claës Wilhelm Gyldén, auf welche Weise Zukunft als kartografische Projektion entworfen wird. Das Ziel von Gyldén, den Holzertrag eines Waldes prognostisch zu regulieren, wird hierbei über diagrammatische und kalkulatorische Berechnungs- und Darstellungsverfahren erst möglich gemacht. Die Imagination einer genauen Planbarkeit von Ressourcennutzung, kartografische Genauigkeit und die Unterdrückung von (subalternen) Waldnutzungspraktiken bedingen sich in dieser Konstellation gegenseitig.
'Ultima mano' : Endretusche und Nachbearbeitung in der italienischen Kunsttheorie der Neuzeit
(2021)
Projektion als Entwurfs- und Übertragungsverfahren kann auch ein Kalkül mit offenem Ausgang sein. Diesem Problem widmet sich Laura Valterio in ihrem kunsttheoretischen Beitrag, in welchem das abschließende Moment der 'ultima mano' ins Zentrum gerückt wird. In den kunsttheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit wird die 'letzte Hand' gleichermaßen zu einem symbolischen Moment der Vollendung, wie auch der technischen Meisterschaft des Malers. Valterio zeigt, wie die 'ultima mano' als Versprechen der Vollkommenheit stets entrückt bleibt, aufgeschoben wird und damit einen Projektionsraum etabliert, in welchem die Genauigkeit als Akt des Abschließens zur Disposition steht.
Projektionsverhältnisse zwischen Körper, Linien und Zeichen stehen im Zentrum des Beitrags von Li-Chun Lee, der sich den Visualisierungsformen von Pulskurven im europäischen und chinesischen Kontext widmet. Mit Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty verfolgt Lee die Frage, wie die leibliche Phänomenalität des Pulses in eine für medizinische Analysen genaue Zeichenform übersetzt werden kann. Lee kann in der Gegenüberstellung von sprachlich-metaphorischen, technischen und grafischen Übersetzungsprozessen eine Situation skizzieren, in welcher unterschiedliche Zeichenregime des Pulses und Genauigkeitsvorstellungen aufeinanderstoßen.
Mit der Darstellbarkeit des Malprozesses an sich beschäftigt sich der Maler Fernand Léger. Denn durch die Materialisierung dieser Prozesse, d. h. durch den Versuch der exakten Dokumentation, werden sie analysierbar und ihr Potential allererst begreifbar. Technische Genauigkeit wird hierbei zum methodischen Ideal.Fernand Léger strebt mit dem Gemälde "Les éléments mécaniques" nach einer auf ihre Grundbedingungen spezialisierten Malerei, um mit den maschinellen Produkten der industriellen Moderne in Konkurrenz zu treten. Larissa Dätwyler verdeutlicht, dass er sich hierfür neben dem geometrischen Formenschatz insbesondere die disziplinierte Arbeitshaltung der Zeitgenossen zu eigen macht. Durch die kontrollierte Ordnung seiner eigenen Imaginationsleistung reflektiert Léger in mehrjähriger, präzisierender Überarbeitung den eigentlichen malerischen Prozess der Bildgenese. Zudem leitet die resultierende bildimmanente Mechanik idealerweise die kombinatorische Fähigkeit der Rezipient*innen, um die Bildherstellung nachzuvollziehen. So veranschaulicht Légers Malerei die Entstehung eines Bildraums und somit die Voraussetzung für neue Möglichkeitsformen.
Mit der Darstellbarkeit des Denkprozesses an sich beschäftigt sich der französische Lyriker und Philosoph Paul Valéry. Denn durch die Materialisierung dieser Prozesse, d. h. durch den Versuch der exakten Dokumentation, werden sie analysierbar und ihr Potential allererst begreifbar. Technische Genauigkeit wird hierbei zum methodischen Ideal. Gemäß dem Beitrag von Lucas Knierzinger sucht Valéry explizit nach einer präzisen, systematisierenden Notationsform, die mit dem variierenden Schreibfluss seiner "Cahiers" in Spannung tritt und den in der Handschrift sedimentierten Denkprozess in Erscheinung treten lässt. Mit Eggerts laboratorischen Versuchsanlagen vergleichbar, bezeichnet Valéry die Interaktion von Lesen und Sehen bei der anschließenden kritischen Betrachtung dieser faksimilierten Manuskriptseiten auch als analytische 'machine à lire'.
Treue Bilder, quantifizierte Prozesse : fotografische Exaktheit zwischen Hochschule und Industrie
(2021)
In Stephan Grafs Beitrag, der sich mit den Vorgängen im Photographischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich befasst, nimmt die Imagination eine bloß marginale Rolle ein. Wie Stephan Graf zeigt, gewinnt nach 1945 John Eggerts auf die 1920er Jahre zurückgehende Erforschung der physikalisch-chemischen Grundlagen der Fotografie an Bedeutung, d. h. das Streben nach Quantifizierbarkeit des fotografischen Prozesses. Der deutsche Physikochemiker verspricht sich schließlich Mitte der 1950er Jahre von der exakten Messung und Analyse abstrakter, in Graustufen gehaltener Bildresultate eine Systematisierung der experimentellen Variationen und letztlich eine gezielte Reproduzierbarkeit des Belichtungsverfahrens. In diesem Sinne werden die Voraussetzungen für die Entstehung und Sichtbarwerdung eines bloß latenten Bildes geklärt und grafisch veranschaulicht.
Judith Sieber zeichnet die Entwicklung und Verwendung von statistischen Grafen in William Playfairs "Commercial and Political Atlas" (1786) nach. Dabei arbeitet sie die gesellschaftspolitische Ausrichtung der sich etablierenden Methode der visuellen Statistik heraus. In der Wiedergabe des Übergangs vom Vertrauen in numerische Genauigkeit (tabellarische Vermittlung von ökonomischem Wissen) zu Playfairs Anwendung visueller Statistik, die auf größtmögliche Einfachheit und Anschaulichkeit abzielt, erläutert sie Playfairs Gewichtung von Anschaulichkeit vor Genauigkeit im Kontext der schottischen Aufklärung. Hierbei wird deutlich, dass der Wendepunkt zur anschaulichen Darstellungsform begleitet ist von Fragen nach der Zugänglichkeit und Sichtbarmachung von Wissen sowie der politischen Rolle der eigenen Wissenschaftsdisziplin.
An den Begriff der Genauigkeit ist ein Gemenge von Medien, Techniken, Fähigkeiten und Parametern gekoppelt, die der vorliegende Sammelband zusammenführen möchte, um Genauigkeit als vielfältige, instabile Kategorie vorzustellen. Ihr scheinbares Gegenstück, die Imagination, wird zweifellos mitgedacht, aber anstatt einer dichotomen Gegenüberstellung soll im Sinne von Musils "phantastischer Genauigkeit" gerade auf die Verwobenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Imagination und Genauigkeit aufmerksam gemacht werden - freilich im Wissen um die Unabschließbarkeit, die sich mit der Öffnung auf ein immer schon disparates und heterogenes Problemfeld aufdrängt.
Genauigkeit gilt in vielen kulturellen Bereichen - von der wissenschaftlichen Forschung bis zur Pünktlichkeit eines Zuges - als erstrebenswertes Ideal. Nicht selten werden hierbei präzise technische Apparaturen ebenso wie organisatorische Kompetenzen und perfektionierte menschliche Fähigkeiten als Hinweise dafür genannt, es handle sich um genaue Verfahren. Doch was macht diese genauer als andere Prozedere, etwa die präzise sprachliche Übertragung einer Übersetzerin? Woran sind solche Vorstellungen, Ideale und Verfahren von Genauigkeit gekoppelt - und welche Rolle übernimmt hier eigentlich die Imagination? Entgegen der verbreiteten Annahme einer Gegensätzlichkeit von Imagination und Genauigkeit verhandelt der Sammelband gerade deren Verschränkungen in Wissenschaften und Künsten. Robert Musil hat dieses Verhältnis auf die Frage zugespitzt, was denn eine genaue Abhandlung über die Ameisensäure am Jüngsten Tag überhaupt nützen würde - dass gleichzeitig aber auch jeder Vorstellung des Jüngsten Tags zu misstrauen sei, die nicht einmal die Ameisensäure genau erforscht habe. Diese zwei Seiten des Bestrebens, die Welt zu verstehen, finden sich wieder in Musils Idee einer "phantastischen Genauigkeit". Doch wie verbindet sich der Fokus auf Fakten und Gewissheiten, auf die Etablierung von Gesetzen und Regeln, die überprüfbar und genau sind, mit jenem imaginären und "phantastischen" Teil, der allererst neue Möglichkeitsräume denken lässt? Solchen Transfer- und Konfliktmomenten von Genauigkeit und Imagination widmen sich die Beiträge des interdisziplinären Sammelbands. Von den Aufzeichnungsprozessen von Pulskurven über kartografische und statistische Übertragungsleistungen bis zu künstlerischen Praktiken aus Literatur, Malerei und Video Art wird eine Reihe unterschiedlicher Episoden vorgeschlagen, in welchen die Auslotung dieses Verhältnisses einen Anfang findet.
Der Artikel skizziert einige Schwerpunkte eines Forschungsprojekts zu Metaphern des Alltäglichen im Werk des Nikolaus von Kues. Eine übergeordnete Fragestellung richtet sich auf die Bedeutung von Metaphern für die Ausbildung und die Praxis spezifisch religiösen Sprechens. Als gleichzeitige Praxis und Verdeutlichung des Prozesses des Transzendierens spielen Metaphern des Alltäglichen in seinen Predigten, aber auch in seinen philosophischen Schriften bei Cusanus eine besondere Rolle. Es ist daher eine lohnende Aufgabe, den metaphorischen Rückgriff auf Alltägliches im Werk Nikolaus' systematischer darzustellen, als es bisher geschehen ist. Als einen eigenständigen linguistischen Bereich im Sinne eines semantischen bzw. metaphorischen Feldes, also als ein semantisches Register konstituierend, sind sie bisher nicht wahrgenommen und im Zusammenhang analysiert worden.
In der Emblematik der Frühen Neuzeit wird die Eule als Motiv auf vielfältige Weise dargestellt. Hierbei ist es lohnenswert, sich die durchaus komplexe Zuschreibungsgeschichte und Symbolik der Eule vor Augen zu führen, da diese explizit und implizit in den jeweiligen Emblemen aufgegriffen werden. Das Schleiereulen-Emblem aus den "Imprese Sacre" des Paolo Aresi (1574-1644) kann als ein Beispiel für die Vielfalt der Bedeutungsebenen frühneuzeitlicher Embleme angesehen werden. Im ihm sind gelehrte Diskurse der Theologie sowie der antiken und zeitgenössischen Naturkunde versammelt.
Liebe und Tanz sind allgegenwärtig, kontrastierende Akte ('entrées') ersetzen die strenge Bauform der Tragödie, Gesangsnummern changieren zwischen Virtuosität und Leichtigkeit: Mit Werken wie "L'Europe galante", "Les Indes galantes" oder "Les surprises de l'Amour" kultiviert das französische Musiktheater in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Opéra-ballet. Neben thematischen und gestalterischen Rokoko-Klischees halten hierüber wichtige Innovationen Einzug: musikalische Klangfarbenregie trifft, weit vor Gluck und Mozart, auf eine stoffliche Neuausrichtung der Oper. Nicht mehr mythologische Held:innen, sondern bürgerlich-komödiantische Figuren dominieren die Szene - in einem 'realen' Umfeld, das sogar den europäischen Kontinent als Schauplatz verlässt. Was der Komponist Rameau und sein Librettist Fuzelier 1735/36 mit ihren "Indes galantes" vorlegen, darf auch knapp 300 Jahre nach der Uraufführung im künstlerischen Sinne grenzüberschreitend genannt werden.
"Andromaque", die zweite Tragödie, mit der Racine an eine Euripideische Vorlage und damit an die Tradition der griechisch-antiken Tragödie anknüpft, ist ein Drama des Leidens und Mitleidens. Der vorliegende Beitrag untersucht die Sprache und Bildlichkeit der Affekte, die Racines Tragédie im intertextuellen Rekurs auf entsprechende Passagen in Homers "Ilias", Euripides "Andromache" und Vergils "Aeneis" entwickelt. Als Schlüsselaffekt der Tragödie erweist sich die 'pitié', die im Verlauf des Dramas verschiedene Formen annimmt: mal verbindet sie sich mit erotischem Begehren (Pyrrhus), mal mit Trauer und Klage (Andromache). Dabei treten uns die Emotionen und Affekte der Figuren oft im Medium prägnanter Szenen entgegen, denen besondere Bedeutungsdichte und visuelle Ausdruckskraft eigen ist. Von diesen 'Pathosszenen' gilt vor allem der in der Figurenrede wiederholt evozierten Triade von Andromache, Astyanax und Hektor Beachtung, die als sprachlich-bildhafte Figur die dramenpoetische Affektmodellierung bestimmt.
Mit Petrarcas literarischem Œuvre wird gemeinhin das Einsetzen einer spezifisch frühneuzeitlichen Konzeption selbstautorisierter Autorschaft verbunden, in der in Übereinstimmung mit Selbstaussagen einer über das Gesamtwerk hinweg konstruierten Autor-Persona ein zentrales Distinktionsmerkmal der Literatur der beginnenden Frühen Neuzeit gegenüber dem Mittelalter ausgemacht wird. Anhand des Dialogs "Secretum" versucht der Aufsatz aufzuzeigen, in welches Verhältnis sich Selbstautorisierung zu als vergangen inszenierten Denkmodellen setzt, die durch die Annahme eines zeichentheoretischen Analogismus fundiert sind, wie ihn Foucault beschreibt. Das Petrarkische Spiel mit 'auctoritas' und Zeichentheorie verdeutlicht dabei, wie sehr die vermeintlich getrennten Modelle des Vergangenen und des Neuen voneinander abhängen, um die komplexen Ermöglichungsstrukturen dargestellter Subjektivität zu gewährleisten, auf die eine klare Teleologie Mittelalter-Renaissance den Blick versperren könnte.
Das vorliegende Themenheft vereint Beiträge, die sich mit literarischen und philosophischen Texten sowie dramatischen und musikdramatischen Werken aus einem historischen Zeitraum beschäftigen, der in etwa von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins frühe 18. Jahrhundert reicht und der hier - gemäß einer mittlerweile gut etablierten Begriffskonvention - als 'Frühe Neuzeit' angesprochen werden soll.
Den Aufsätzen des Hefts, die von Wissenschaftlern und Nachwuchsforschern der Ruhr-Universität Bochum verfasst wurden, geht es unterdessen weniger darum, erneut eine Diskussion über diesen Begriff und den damit verbundenen Periodisierungsvorschlag zu führen, um dessen Tragweite auszuloten. Vielmehr möchten die Beiträge in Form ausgewählter Fallstudien einzelne Genres und Textsorten in den Blick nehmen, um anhand je spezifischer Fragestellungen deren jeweilige Gestaltungsformen, deren literarische und ästhetische Darstellungsmittel und Wirkungsweisen zu studieren.
Das vorliegende Themenheft vereint Beiträge, die sich mit literarischen und philosophischen Texten sowie dramatischen und musikdramatischen Werken aus einem historischen Zeitraum beschäftigen, der in etwa von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins frühe 18. Jahrhundert reicht und der hier - gemäß einer mittlerweile gut etablierten Begriffskonvention - als 'Frühe Neuzeit' angesprochen werden soll. Den Aufsätzen des Hefts, die von Wissenschaftlern und Nachwuchsforschern der Ruhr-Universität Bochum verfasst wurden, geht es unterdessen weniger darum, erneut eine Diskussion über diesen Begriff und den damit verbundenen Periodisierungsvorschlag zu führen, um dessen Tragweite auszuloten. Vielmehr möchten die Beiträge in Form ausgewählter Fallstudien einzelne Genres und Textsorten in den Blick nehmen, um anhand je spezifischer Fragestellungen deren jeweilige Gestaltungsformen, deren literarische und ästhetische Darstellungsmittel und Wirkungsweisen zu studieren.
Die Metapher vom Eisernen Vorhang beherrscht unsere Wahrnehmung des Kalten Kriegs bis heute. Doch welchen Einfluss hatte die Trennung zwischen Ost und West auf die sozial- und kulturhistorische Selbsterforschung Europas in der zeitgenössischen Geschichts- und Literaturwissenschaft? Barbara Picht macht das Ost-West-Paradigma selbst zum Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftsgeschichte, anstatt es zu übernehmen. Sie analysiert signifikante kulturelle Selbstentwürfe im Europa des Kalten Krieges mit einem Schwerpunkt auf Geschichte und Literatur. Am Beispiel des Werkes von Fernand Braudel und Robert Minder (Frankreich), Werner Conze und Ernst Robert Curtius (BRD), Walter Markov und Werner Krauss (DDR) und Oskar Halecki und Czesław Miłosz (Polen bzw. US-amerikanisches Exil) zeigt sie, dass die "Interpreten Europas" der bipolaren Logik der Systemkonfrontation nicht gehorchten. Die "institutionelle Macht" des Kalten Krieges war sehr wohl zu spüren, doch vom beherrschenden Bild des 'iron curtain' muss man sich lösen, geht es um die Geschichte der europäischen Geistes- und Kulturwissenschaften im Systemkonflikt.
In der Geschichte moderner Gesellschaften sind Zeitschriften und Öffentlichkeit so eng aufeinander bezogen, dass sie nahezu synonym erscheinen. Schließlich soll Öffentlichkeit derjenige Raum sein, in dem freie Menschen sich als Gleiche begegnen und über Belange kommunizieren, die von allgemeinem Interesse sind. In Gemeinwesen, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung nicht durch unmittelbaren Kontakt garantiert sind, helfen Zeitschriften dabei, Öffentlichkeit - oder ausdifferenzierte Teilöffentlichkeiten - herzustellen. Sie tun dies, indem sie Texte und Bilder, Gattungen und Disziplinen, Stimmen und Stimmungen versammeln und bündeln, und indem sie in mal mehr, mal weniger regelmäßiger Folge öffentlichen Austausch auf Dauer stellen.
Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie 'French Theory' herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm. Dennoch bietet die Rede von einer 'French Theory' - im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne - einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen 'Brazilian Theory' auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel "The Forest and the School" eine erste Anthologie. In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug. Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel "Brasilianische Interventionen" im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: "Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken". Selbst von einer sich andeutenden "Brasilianisierung der Theorie" ist hier die Rede. Doch lässt sich angesichts der zunehmend vernetzten, internationalen und multilingualen Welt, in der diese Theorie entsteht, überhaupt noch sinnvoll das Label eines Nationalstaats verwenden?
Am zweiten Wochenende des Oktobers 1913 versammelten sich weit über zweitausend junge Frauen und Männer auf dem Hohen Meißner in Hessen. Eingeladen zu diesem Treffen hatte eine lose Vereinigung von Jugendbünden, die den patriotischen Auswüchsen des Kaiserreichs etwas entgegensetzen wollten. Denn im gleichen Monat fanden die offiziellen Festakte zum hundertjährigen Jubiläum der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig statt, in der die napoleonischen Truppen ihre entscheidende Niederlage erlitten hatten. Anlässlich des Rückblicks auf dieses historische Ereignis sollte ein monumentales Denkmal eingeweiht werden. Zu den jugendlichen Gegnern der Reichspolitik gehörten Gruppierungen der Wandervögel und Lebensreformer, die sich für einen fundamentalen Wandel einsetzten. Ihr politisches Ziel war es, die Geschlossenheit einer Jugendbewegung zu demonstrieren, die nichts mehr mit den alten Feindschaften zu tun hatte. Die Alternativveranstaltung war als ein "Fest der Jugend" gedacht, das die Sehnsucht nach einem anderen Leben zum Ausdruck bringen sollte. Die Bewegung forderte unter anderem ein neues Naturverhältnis, das den Ausgangspunkt einer sozialen und ökologischen Gegenwelt zur modernen Gesellschaft mit ihren zerstörerischen Tendenzen bilden sollte. [...] Im Kontext der zweiten Umweltbewegung, die zeitgleich mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit entstand, hat die Biologin Lynn Margulis in ihrem Buch "Symbiotic Planet" (1998) eine Sicht auf die Evolution entfaltet, bei der ebenfalls nicht die Konkurrenz der Lebewesen maßgeblich ist, sondern deren Verbundenheit.
Die spezifisch französische Sicht auf die Schlacht von Poitiers hat die periphere Position des damaligen Europas unkenntlich werden lassen. Verdrängt wurde damit vor allem, dass zu diesem Zeitpunkt südlich von Poitiers islamische Herrscher nicht nur Nordafrika, sondern auch weite Teile Europas erreicht hatten. Al-Andalus, das islamische Spanien (711–1492), war zum Zeitpunkt der Schlacht weit mehr als ein islamischer Außenposten auf europäischem Boden. Nicht nur, dass sich die Grenzen zwischen al-Andalus und dem kastilischen Spanien im Zuge der jahrhundertelangen Reconquista ständig verschoben, sie waren auch ausgesprochen durchlässig für Sprachen, Wissen und Literatur. Diese inter- und transkulturelle Gegenwelt von al-Andalus hat in der philosophischen und literarischen Tradition Europas vielfältige Spuren hinterlassen.
Ökologie
(2022)
Als die Ökologie 1866 von Ernst Haeckel aus der Taufe gehoben, d. h. offiziell zu einer biologischen Teildisziplin ernannt wird, gehört die Annahme einer 'ganzen Natur' zu ihren zentralen Glaubenssätzen. Der vielseitig tätige Haeckel betrachtet die Natur als ein "überall zusammenhängendes 'Lebensreich'", das von einer gleichbleibenden Substanz getragen und beseelt wird. In einer gewissen Spannung zu diesem versöhnlichen Bild stehen manche Aspekte von Haeckels ökologischer Lehre. Beschrieben werden dort die wechselseitigen Einwirkungen von Organismus und Umgebung sowie der Organismen untereinander, und diese Interaktionen können durchaus feindselig ausfallen. [...] Haeckels Ausführungen markieren nicht nur den nominellen Auftakt der biologischen Ökologie, sie läuten auch bereits die wechselvolle Karriere von Ganzheitsbegriffen innerhalb dieses Forschungsfeldes ein. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich dabei insofern ausmachen, als der Kategorie des Ganzen hier eine spezifische Funktion zukommt: Sie dient dazu, den größeren Zusammenhang zu benennen, innerhalb dessen die Wechselwirkungen in der Natur, welche dies im Einzelnen auch sein mögen, beschreibbar werden. Denn von Haus aus hat es die Ökologie nicht mit isolierten Individuen zu tun, sondern mit den Bezügen, die zwischen diesen und ihrer Außenwelt bestehen. [...] Hinzu kommt, dass sich auch das Verständnis des Ökologischen selbst in den letzten rund 50 Jahren gravierend gewandelt hat. 'Ökologie' bezeichnet seither nicht mehr allein eine biologische Teildisziplin, sondern eine Weise des Denkens, die auf Relationalität im weitesten Sinn bezogen ist, die sich also mit Beziehungsgefügen, Verbundenheiten und Inklusivität befasst. In diesem erweiterten Verständnis hat die Ökologie seit den 1960er Jahren, besonders aber seit der Jahrtausendwende in den verschiedensten Wissens- und Anwendungsfeldern Einzug gehalten. Während Forschungszweige wie der vor etwa drei Jahrzehnten institutionalisierte 'Ecocriticism' noch explizit an die Leitbilder des Naturschutzes und der Umweltethik anknüpfen, hat sich das ökologische Denken inzwischen vielerorts aus dem durch 'Natur' bestimmten Bezugsrahmen herausgelöst. Dies geht mit einer Problematisierung der Annahme einher, dass es so etwas wie eine 'erste' Natur, auf die sich Ökologie exklusiv zu beziehen hätte, überhaupt geben kann. So lässt sich gegenwärtig einerseits eine kaum noch überschaubare Diversifizierung des ökologischen Denkens feststellen, während andererseits Ansätze zu einer 'allgemeinen Ökologie' entwickelt werden, die die vielfältigen ökologischen Phänomene ontologisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt des 'ganzen Seins', zu erfassen suchen.
Mit ontologischen Problemen des Ganzen beschäftigt sich Robert Matthias Erdbeer in seiner Untersuchung des modernen Computerspiels. Er knüpft dabei an moderne Spielkonzeptionen von Schiller über Gadamer bis hin zu Wolfgang Iser an, die das Spiel als Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, v. a. aber in der Koppelung von Vorhandenem und Möglichem einer außerordentlichen "ontologischen Belastung" ausgesetzt hätten. Diese Belastung setze das Computerspiel in seinem eigenen Medium konsequent um und fort. Beim Gaming gehe es um eine grundlegende "Inszenierung von Handlungsmodalität" im Sinn einer "kohärenten Selbst- und Welterfahrung". Ganzheit komme dabei insbesondere über das Weltmodell der virtuellen Storyworld, über das Selbst als Avatar und in der Reflexion und Gestaltung des Spiels als Integral der Medienkünste zum Ausdruck.
Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die Ganzheit der Epoche
(2022)
Barbara Picht beschäftigt sich mit Ganzheitsvorstellungen, die dem Begriff der Epoche im modernen Geschichtsdenken zugrunde liegen. Ganzheit wie Einheitlichkeit betrachtet Picht dabei insofern als maßgeblich, als die Epoche einerseits über ausschließlich sie selbst charakterisierende Merkmale definiert werden solle, dabei andererseits aber auch solche Züge herauspräpariert werden müssten, die eine bestimmte Epoche mit anderen verbinde. Die Behauptung der Ganzheit einer Epoche sei in der Regel mit politischen Absichten verbunden. Zum Problem für die Integrität der Neuzeit als Epoche wird die für das moderne Geschichtsbewusstsein konstitutive Vorstellung einer 'offenen Zukunft'. Das schreibe dem Selbstverständnis der Neuzeit eine grundlegende Paradoxie ein. Die Neuzeit kenne zwar einen Anfang, könne aber in einer offenen Zukunft an kein Ende kommen und deshalb auch keine - ganze - Epoche sein. Diese Schwierigkeit erweist sich Picht zufolge jedoch als Glücksfall, denn die für das Ganze der Epoche prekäre Prozessualität habe eine "historiographisch produktive Dauerunruhe" ausgelöst.
Karin Kukkonen nimmt nicht den Text als Medium ins Visier, sondern die Form des Romans, dem sie ein hohes Bewusstsein für die eigene "Unabgeschlossenheit" attestiert. Der von Georg Lukács auf die Moderne gemünzten Formel der "transzendentalen Obdachlosigkeit" trage der Roman dadurch Rechnung, dass seine Teile "nie den Eindruck eines geschlossenen Ganzen" zu erwecken versuchen. Kukkonen legt dies am Beispiel der narrativen Darstellung moderner "Protokolle" offen, die sie als Mechanismen zur Ordnung jeweiliger Lebenswelten begreift. Moderne Romane kündigten in der Regel eine "organische Logik der Lebensgeschichte" auf und verschrieben sich buchstäblich einer "sozialen, prozessualen Logik des Protokolls". Solche Protokolle könnten von Zügen und Fahr- oder Bau plänen über das Schlangestehen bis hin zur Organtransplantation reichen. Die literarische Umformung der Prozesslogik moderner Protokolle analysiert Kukkonen vornehmlich bei Zola, Sorokin und Maylis de Kerangal.
Andrea Polaschegg untersucht aus medienpoetischer Sicht die Friktionen zwischen dem Text und den philosophischen oder literarischen Ganzheitspostulaten, die an dessen Stoffe, Gegenstände oder gar Gattungszuschreibungen herangetragen werden. Den Text begreift Polaschegg als "transitorisches Medium", "das vorne beginnt und hinten endet" und das jede Bemühung unterläuft, "eine organische Einheit wechselseitiger Teil-Ganzes-Beziehungen oder eine statische Einheit aus übereinandergeschichteten Teilen zur Darstellung zu bringen". Dieser Einsicht hätten sich mit letzter Konsequenz allerdings bislang weder poetologische noch literaturwissenschaftliche Denktraditionen gestellt. Seit der Autonomieästhetik lasse sich ganz im Gegenteil eine Fülle an Versuchen beobachten, die fundamentale 'Sukzessivität' von Texten metaphorisch über konzeptionelle 'Simultaneisierungen' stillzustellen. In diesem Umfeld nimmt Polaschegg insbesondere die oft als Ganzheitsgarant dienende Metaphorik der Architektur in den Blick, die sie bis in das bekannte, den 'Aufbau' dramatischer Texte visualisierende Pyramidenmodell Gustav Freytags hinein verfolgt.
Astrid Deuber-Mankowsky wirft einen Blick auf Alfred N. Whitehead und sein 1929 erschienenes Hauptwerk "Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie". Zur Ausformulierung seines denkbar umfassenden Ziels einer "vollständigen" Kosmologie rekurriere Whitehead auf eine "systematische Philosophie des Prozesses". Whitehead sei davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis sich den Ergebnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu stellen habe und zugleich versuchen müsse, sich gegen deren Absolutheitsansprüche zu behaupten. Während die Quantentheorie gezeigt habe, dass sich kleinste Teilchen diskontinuierlich zueinander verhalten, beharre Whitehead auf der Möglichkeit, ein Ganzes zu denken und am "Prinzip der Kontinuität" energisch festzuhalten. Sein Bemühen ziele darauf ab, das berühmte, auch von Leibniz systematisch aufgegriffene Diktum "natura non facit saltus" wieder in sein Recht zu setzen. Die Spannung zwischen Kontinuität und Atomizität begreife Whitehead konsequent als "Komplementarität", ein entscheidendes Relais hierfür stelle seine Entdeckung der "realen Potentialität" dar. Anders als man vielleicht zunächst annehmen könnte, steht Whiteheads Interesse an Leibniz damit nicht in fundamentalem Widerspruch zu dem Latours, umso weniger als eine Zäsur zwischen Natur und Sozialem oder eine Einschränkung von Subjektivität auf den Menschen schon für Whitehead keine Verbindlichkeit mehr besaß.
Hanna Hamel beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit Latours vieldiskutierter Gaia-Konzeption. Latours Aufkündigung einer pseudoobjektiven Anschauungsform der Erde als 'Globus' und die Favorisierung der Imagination Gaias als "wüstes Gewirr" sei dem Versuch geschuldet, klassische Vermittlungsideen von Innen und Außen oder die Repräsentation des einen durch das andere kategorisch zu verabschieden. An deren Stelle trete "ein Ganzes ohne distinkte Teile, ohne polare, absichtsvolle oder gar harmonische Ordnung". Übergänge und Kreuzungen etwa von natürlichen und sozialen Ordnungen habe Latour immer schon in ihrer Prozessualität kenntlich gemacht. Es handle sich dabei stets um "zeitlich wie räumlich wirksame wechselseitige Modifikationen einer Vielzahl von Wirkmächten". Ohne Berücksichtigung dieser Größen lässt sich der Klimawandel in den Augen Latours (wie Hamels) weder bekämpfen noch überhaupt adäquat erkennen.
Zeitliche Prozesse können Formen das Ganzen mitunter vor erhebliche Herausforderungen stellen. Das zeigt sich insbesondere dort, wo das Ganze zum Zweck einer bildlichen Veranschaulichung fixiert werden soll. Historisch betrachtet lassen sich in den Beziehungen zwischen Ganzheit und Prozessualität ähnliche Entwicklungen feststellen wie in denen zwischen Ganzheit und Teil. Forderungen nach einer maximalen Integrität des Ganzen, die im Prozess eine Bedrohung oder Gefahr wittern, erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft erst als moderne Perspektive. Folgerichtig lehnen sich aktuelle Ganzheitskonzeptionen an frühneuzeitliche philosophische Modelle (neben Leibniz gilt dies v. a. für Spinoza) an, wenn sie auf eine programmatische Versöhnung zwischen Ganzem und Prozess abzielen.
Welt, Wort, Mensch : (Un-)Gestalten des Ganzen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
(2022)
Musil entwickelt seine literarische Ganzheitsreflexion in enger Auseinandersetzung mit der Wissenschaft seiner Zeit: von der Gestaltpsychologie bis hin zur Thermodynamik, wie Inka Mülder-Bach in ihrer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" zeigt. Musils Text sei einerseits von zahlreichen Dualismen geprägt, andererseits erteile er einem 'klassischen' Verständnis von Teil und Ganzheit eine deutliche Absage. Einem Briefpartner beschied Musil 1931 kurz und bündig: "Eine Totalität lässt sich nicht durch noch so viele Einzelheiten darstellen." Zentral ist hierbei nicht zuletzt der Begriff der Darstellung. Totalität wird bei Musil in erster Linie zu einem Problem des eigenen literarischen Verfahrens. Mülder-Bach legt dar, dass das Phänomen der Ganzheit unzählige Aspekte seiner Schreibweise tangiert: vom Wortbau über die Syntax und die Metaphorik bis hin zu der für die Darstellungsebene des Romans zentralen Form des 'Gleichnisses'. Auch die politische Prekarität 'Kakaniens' oder das Geschwisterverhältnis seien als Spiegelungen und Ausdruck der Ganzheitsproblematik zu begreifen. Den Umgang mit Figuren der Vielfalt, der Vollständigkeit, der Teilung, der Verdopplung, der Mitte, der Grenze, der Symmetrie oder des Gleichgewichts sieht Mülder-Bach dabei oft in zunächst paradox erscheinende Versuche einmünden, Trennung und Verbindung irgendwie zusammenzuziehen oder gar zu vereinen. Auch die bekannte auf die Geschwister gemünzte Wendung der "Ungetrennten und Nichtvereinten" erschließe sich erst vor diesem Hintergrund. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Romans seien alle Musil'schen Antworten auf das Ganzheitsproblem freilich als "tentativ" zu begreifen.
Sophie-C. Hartisch untersucht die Funktion der Konstellationsmetapher im Diskurs der geisteswissenschaftlichen Selbstbeschreibungen im frühen 20. Jahrhundert. Die doppelte Grundlagenkrise sowohl der Naturwissenschaften als auch der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften bewirken in ihren Augen die Attraktivität eines Denkens in 'Konstellationen'. Mit der (streng genommen) falschen Suggestion eines sogenannten 'Sternbildes' würden abstrakte Strukturen vermeintlich anschaulich und könne Totalität als "Kippfigur zwischen Werden und Darstellung" repräsentiert werden, die die Ganzes-Teil-Problematik neu konfiguriere. Zwar verspreche die 'Konstellation', die Geisteswissenschaften mittels einer Anlehnung an die Astronomie gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren. Allerdings ist die für die Konstellation zentrale Kategorie der 'Bedeutsamkeit' (der Sterne) keine astronomische, sondern eine astrologische Vorstellung. Die als Pseudowissenschaft verpönte Astrologie wird in den Geisteswissenschaften unter der Hand zum Garanten für die Legitimität und Objektivität historisch ausgerichteter Wissenschaften.
Der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts gilt das Interesse des Beitrags von Eva Axer. Sie untersucht in erster Linie die Kategorie der 'inneren Form', die neben der Literatur- auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft beschäftigte. Im Werk Wilhelm Scherers, Reinhold Schwingers und Oskar Walzels werde die 'innere Form' emphatisch als eine in sich geschlossene Sinneinheit literarischer Texte konzipiert, die den Blick auf den Aufbau und eine Beziehung der Teile untereinander indes keineswegs ausschließe. Prinzipiell werde die 'innere Form' als ein den Teilen vorgängiges Ganzes gedacht, der ein hohes Maß an Dynamik eigne. Die Hoffnung auf eine innere Einheit des Werks erweise sich in der Regel allerdings als so mächtig, dass Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, materielle Bedingungen oder funktionale Beziehungen der Literatur in dieser wissenschaftlichen Tradition keine systematische Berücksichtigung finden könnten.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.