CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Resilienz
(2018)
Im 'Posthistoire', so kann man wohl feststellen, wird die Aufgabe der Abblendung sozialer Risiken von Begriffen übernommen, die dem weiten Feld ökologischer Debatten entnommen sind. In diesem Sinne hat Norbert Bolz unlängst die inflationäre Rede von 'Nachhaltigkeit' oder 'sustainability' analysiert. [...] Die Übertragung des Begriffs der Nachhaltigkeit aus dem Bereich der Forstwirtschaft in den Bereich gesellschaftspolitischer Debatten hat ihren Grund in der utopischen Aufladung ökologischer Ansätze in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit den sechziger Jahren. Das von Bolz benannte Problem ist also nicht allein eines der politischen Rhetorik, sondern darüber hinaus das einer zunehmend undeutlicher werdenden epistemischen Differenz von Natur und Gesellschaft. Dies schlägt sich in der Verwendung von Begriffen nieder, die gleichermaßen natürliche und soziale Prozesse zu beschreiben vermögen und sich dabei zugleich als wirkmächtige Metaphern für die Programmatiken eines soziotechnisch ausgerichteten Regierens anbieten. Exemplarisch lässt sich dies am Begriff der 'Resilienz' studieren.
Trotz der sorgsam gepflegten Begriffsgeschichte (kaum ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fachwörterbuch ohne entsprechendes Lemma) scheint 'Religion' ein auffällig unkonkreter, im Grunde ungeklärter Begriff, der in Anbetracht dessen in seinem Alltagsverständnis erstaunlich wenig erklärungsbedürftig scheint. Das Problem der Religionswissenschaft, ihren Gegenstand zu bestimmen, - dies soll hier als Indiz für das Problem mit dem Begriff 'Religion' dienen - liegt vielsagenderweise u. a. darin, dass keine Definition in der Lage ist, alles, was man als Religion zu bezeichnen gewohnt ist, gleichzeitig abzudecken und jeder Definitionsversuch als einseitig und letztlich als voreingenommen abgelehnt wurde. Es gab nie und gibt bis heute keine konsensfähige Definition und einige Fachvertreter*innen geben gar zu bedenken, so etwas wie Religion gebe es im Grunde eigentlich gar nicht.
Proletarier
(2018)
Der These des Begriffshistorikers Werner Conze – enthalten schon im Titel seines Aufsatzes von 1954: "Vom 'Pöbel' zum 'Proletariat'. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland" - hat der radikale Sozialhistoriker Ahlrich Meyer bescheinigt, im Gewand "neutraler" Begriffsgeschichte im nachhinein bloß ein sozial-eliminatorisches Programm zu sanktionieren, dessen letzte Konsequenzen erst die Nazis endgültig exekutiert hätten - mit tatkräftiger "wissenschaftlicher" Unterstützung von Historikern wie dem Conze-Freund Theodor Schieder oder eben Conze selbst. Die "postnazistische" westdeutsche Geschichtswissenschaft habe letztlich bloß das alte "nazistische Programm der staatlichen Integration der deutschen Kernarbeiterklasse auf die Geschichte projiziert". Wie dem auch sei - auch hier wird einmal mehr deutlich, dass Begriffsgeschichte von Begriffspolitik nicht zu trennen ist. Aber zurück zum Vormärz: Wie immer man die "Conze'sche Integrationsthese" (Meyer) einschätzen mag, mit dem 'Pöbel' und dem 'Proletariat' stehen sich zwei sozialhistorische Protagonisten gegenüber, deren Begriffsgeschichte im Deutschen allemal problematisch ist.
Petra Gehring greift nach einem Ausdruck, der erstens in der Sprache des Faches Philosophie zuweilen in semi-terminologisch wirkender Art und Weise vorkommt, der zweitens, wie man in der Metaphernforschung sagen würde: realsemantisch auf Ingenieurswissen verweist und der drittens auf vielversprechende Weise - was die konkrete Herkunft angeht - changiert: die "Plattform". Ohne in der Wirbelschleppe einer ganz bestimmten Thematik diskursfähig geworden zu sein, hat sich das Wort in der Arbeitssprache der Geisteswissenschaften jedenfalls so weit festgesetzt, dass man es als eingebürgert bezeichnen kann. Um einen "naturwissenschaftlichen" Term handelt es sich nicht, man wird vielmehr an eine begehbare Fläche, an eine Stützpfeilerkonstruktion, die Ausblicke eröffnet, und insofern zuerst und zu Recht an Bautechnik denken. Gleichwohl kennen wir inzwischen auch die Online-Plattform und überhaupt besteht da ein Anfangsverdacht, der in Richtung Kommunikationstechnik weist.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Messie
(2018)
Erst seit 2004 findet man im Duden zwischen 'Messias' und 'Messing' das neue Lemma 'Messie'. Es bezeichnet eine "Person mit chaotischer Unordnung in der Wohnung". Etwas später ist der Begriff auch in der Medizin zwar nicht gerade heimisch geworden, doch hat er sich zumindest eingenistet: Zwischen 'Mesmerismus' und 'Messung' verweist der "Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie" 2012 mit dem Lemma 'Messie-Syndrom' auf den Haupteintrag 'Vermüllungssyndrom': "Bez. für zwanghaftes Horten u. Sammeln z. T. wertloser Gegenstände (Sammelzwang) u. die Unfähigkeit, sich davon zu trennen; [...] Wohnungen bzw. Häuser sind kaum begehbar, z. T. entstehen hygienische Probleme (z. B. bei Sammeln v. Joghurtbechern)". Zwar leitet sich der Begriff 'Messie' vom englischen 'mess' - "Unordnung, Durcheinander, Chaos, unübersichtliche Situation" - ab, doch scheint es sich um einen Pseudoanglizismus wie 'Handy' oder 'Fitness-Studio' zu handeln [...] Aber auch wenn englische Muttersprachler den Begriff 'Messie' heute nicht sofort verstehen, stammt er eben doch aus dem Englischen, genauer gesagt, aus dem Amerikanischen.
Mauscheln
(2018)
Der Begriff 'Mauscheln' ist paradox: er existiert in keiner anderen Sprache als im Deutschen und ist unübersetzbar. Als Fremdwort wird er zumindest im Englischen gebraucht, doch aus dem deutschen Wortschatz ist er heute verschwunden, zumindest soweit dieser ein öffentlicher ist. 'Mauscheln' ist verpönt, obwohl der Begriff seit dem 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Als Ausdruck des "Verhältnisses zwischen Juden und Christen in Deutschland" haften ihm antisemitische Stereotypen über den betrügerischen Juden an. Seine Geschichte hält die Erfahrung fest, dass die "Verfolgung und Vernichtung der Juden durch sprachliche Agitation vorbereitet" wurde. Sie geht allerdings nicht in dieser Erfahrung auf.
משל [maschal] - Spruch, Gleichnis, Herrschaft, Prägung ... : über die Faszination einer Wurzel
(2018)
In dem 1792 veröffentlichten Aufsatz "Spruch und Bild, insonderheit bei den Morgenländern" entwickelt Johann Gottfried Herder eine Apologie der Spruchdichtung, die zwischen Poesie und Prosa, zwischen Volksdichtung und Kunstliteratur stehe und vor allem im 'Morgenland' - also bei den Persern, Arabern und Hebräern - in Blüte gestanden habe. [...] Dabei bezeichne jenes 'Wort' משל nicht nur Ursprung und Natur der Sprüche, sondern sogar den expressiven Charakter der menschlichen Sprache überhaupt, wie Herder mit einem Hamann-Zitat fortsetzt: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts [...]. Sinne und Leidenschaften verstehen nichts als Bilder." Sprüche, Bilder, Sinne, Leidenschaften - all das, so legt der Text nahe, bildet einen Zusammenhang, den Herder und auch andere gerne den des 'Ausdrucks' nennen, der hier aber "mit einem einzigen Wort" umrissen wird, eben mit dem Graphem משל, einem Ausdruck von 'Ausdruck'. Was 'bedeutet' dieser Ausdruck und was bedeutet es, diesen Ausdruck so in den Text einzufügen, wie Herder das tut?
Luftmenschen
(2018)
Wörter können zweifach bewegt werden: wie Erbschaften in der Zeit und wie Güter im Raum. Sie gedeihen nicht nur in ihrer eigenen Sprache, sondern auch in anderen, vor allem dann, wenn dort im Mündlichen oder in der Schriftsprache eine Art Bezeichnungs-"Vakuum" besteht: Wo immer sie dringend benötigt werden, dort haben sie potentiell auch Platz. Die Bewegung selbst erfolgt zuerst mit den Sprechern, und mit diesen bleiben Worte auch im Gebrauch lebendig; gehen sie dann in die Umgangs- oder sogar Hochsprache ein, weitet sich ihr linguistischer Einfluss aus, sie werden beständiger, erscheinen fest verknüpft mit ihrer neuen Umgebung. Mitunter ist dann ihre Herkunft im Rückblick nicht mehr so ohne weiteres zu eruieren. Trotzdem bleiben solche Begriffe Indikatoren für ein Milieu, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort bestand und das ihnen ihre erste Ursprünglichkeit eingeschrieben hat. Die deutschen Lehnwörter im Hebräischen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Intellectual history
(2018)
Kaum einer der ins Deutsche eingewanderten Termini ist von so vielen Nachbarn umgeben wie 'intellectual history': Ideengeschichte, 'history of ideas', intellektuelle Geschichte, Intellektuellengeschichte, Intellektualgeschichte, Geistesgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, historisch-semantische Epistemologie und einige andere mehr. Das Terrain ist dicht besetzt und teilweise hart umkämpft, und gerade das prädestiniert den Begriff zur Aufnahme in einen Katalog der unübersetzbaren Ausdrücke. Denn einige der Nachbarn erheben Gebietsansprüche, andere grenzen sich ab und errichten Zäune, einige wenige lassen sich entspannt auf keine Grenzstreitigkeiten ein. Bei letzteren - der verlustfrei übersetzbaren 'History of ideas' sowie der Philosophiegeschichte - handelt es sich um alte Bekannte aus Kindertagen. Der Umstand, dass 'intellectual history' sich in einem solchen Umfeld behaupten kann, dass sie weder mittels Übersetzung assimiliert noch überhaupt verdrängt wird, hängt damit zusammen, dass der Ausdruck offenbar über eine spezifische Differenz zu möglichen Übersetzungen oder Kandidaten zur Besetzung seiner Stelle verfügt. Worin diese spezifische Differenz besteht, zeigt die Geschichte dieses begrifflichen Kompositums.
Buchstäblich auf der Flucht rutschte Kurt Goldstein sein Hauptwerk aus der Feder. Im Frühjahr 1934, während eines Zwischenaufenthalts in Amsterdam, schrieb er binnen weniger Monate "Der Aufbau des Organismus: Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen". In diesem Buch entfaltete Goldstein seine auf der Basis von klinischen Erfahrungen gewonnenen physiologischen Anschauungen zu einer allgemeinen Theorie des Organismus. Zentraler Gedanke dieser Theorie war die These, dass sich die Leistungsvielfalt eines Organismus nicht als Summe möglichst exakt zu zergliedernder Einzelreaktionen beschreiben, sondern nur aus dem Gefüge ihres Zusammenwirkens erfassen lasse.
Empathie
(2018)
Die partielle Begriffsgeschichtsvergessenheit mit Blick auf Empathie scheint Effekt ihrer gelungenen Psychologisierung und Übernahme in naturwissenschaftlich orientierte Disziplinen zu sein. Eine Geschichte des Begriffs, die jene antike 'empatheia'-Tradition und die Empathie-Diskurse der letzten 110 Jahre nicht von vornherein separiert, wäre vielleicht eine Geschichte langsamer Affektkontrolle. Der Transfer ginge dann so: 'Empatheia' - mit Gefühl - Mitgefühl. Er beschriebe einen Wandel der Empathie in ein soziales, kommunikatives Geschäft und einen allmählichen 'emotional turn' innerhalb der Empathie-Begriffsgeschichte, der das Erfasstwerden von äußeren, gegebenenfalls dämonischen, Kräften dadurch bannen konnte, dass er aus dem radikalen Kontrollverlust, den die antike 'empatheia' hieß, zuerst ein - modern verinnerlichtes und eingehegtes - 'gefühlvoll' werden ließ. Im 20. Jahrhundert, angereichert mit ästhetischem Einfühlungswissen, gab Empathie, als Begriff und Gegenstand, nicht nur der Psychologie epistemologischen Halt. Sie wurde mit ihrer Vereinnahmung durch die 'psy sciences' zur vergötterten Gabe und menschlichen Natur. "[S]uper-empathizer" sind Idole der Gegenwart, und als pathologisch gilt das Empathie-Defizit. Heute ist Empathie, Gefühl zweiter Ordnung, Übergriff und "Erwartungserwartung", selbst ein Medium der Affektkontrolle.
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Coming-out / Outing
(2018)
Im Deutschen hat sich ein Anglizismus eingebürgert, der aus zweien eins macht; die ursprüngliche Bedeutung von Coming-out wird dabei auf Outing übertragen. Das "Anglizismen-Wörterbuch" definiert 'outen' als "homosexuelle Personen, insbes. Prominente, gegen ihren Willen in der Öffentlichkeit bloßstellen, indem man ihre Homosexualität preisgibt"; 'Outing' als "Bloßstellen von homosexuellen Personen, insbes. von Prominenten, gegen deren Willen in der Öffentlichkeit". Während der Eintrag zu 'Coming out' im selben Wörterbuch gerade eben eine halbe Seite lang ist, finden sich zu 'outen' und 'Outing' mehr als anderthalb Seiten. So sehen Erfolgsgeschichten aus. Denn das Verb 'outen' hat lexikographisch signifikante Bedeutungserweiterungen erfahren, so dass gleich drei weitere Bedeutungen angegeben werden, "kleine Schwächen, Schönheitsfehler etc. von Prominenten gegen deren Willen öffentlich bekanntmachen", und schließlich: "von sich selbst (unfreiwillig) in der Öffentlichkeit zugeben, daß man in einem best. Bereich in seinem Lebenswandel von der Mehrheit abweicht, bes. Schwächen oder Vorlieben hat". Das Wörterbuch weiß um die Fährnisse des translingualen Verkehrs und fügt erläuternd hinzu, das outen als reflexives Verb in englischen Wörterbüchern nicht existiert, '*to out oneself' ist nicht möglich. Das intransitive 'to come out' lässt sich weder syntaktisch noch semantisch mit dem transitiven 'to out somebody' kurzschließen. Wenn 'outen' aber auch "von sich selbst in der Öffentlichkeit zugeben, daß man homosexuell, bisexuell etc. ist" bedeuten kann, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Outing Coming-out vollständig verdrängt haben wird. Mehr und mehr ist heute so auch schon von Selbst-Outing die Rede.
Charaktermaske
(2018)
Als Kompositum zweier Nomen erscheint der Ausdruck 'Charaktermaske', so wie etwa auch 'Begriffsgeschichte' oder 'Verblendungszusammenhang', "spezifisch deutsch". Aber auch im Deutschen wirkt er sperrig und fremdartig, weil die Bedeutungen der beiden zur Einheit gebrachten Substantive in Spannung zueinander stehen und sowohl historisch wie funktional auseinanderweisen. Marx macht sich in seiner Umwertung des Begriffs diese Spannungen zunutze. Der semantisch neu besetzte Ausdruck wird bei ihm zum "Träger von Dissonanz" und übernimmt damit Funktionen eines Fremdwortes, wie Adorno sie in seinem Aufsatz "Wörter aus der Fremde" beschrieben hat. Dazu gehört die Zerstörung des "Schein[s] der Naturwüchsigkeit", die Marx durch ein Verfahren der Verfremdung des vermeintlich Vertrauten bewirkt. Hergestellt wird sie durch einen frappierenden Terrainwechsel, nämlich die Übertragung aus der Sphäre des Theaters bzw. der Ästhetik in den Kontext der politischen Ökonomie. Die emphatische Metaphorisierung konstituiert eine Art "innersprachliches Ausland", das nicht nur Fremd-, sondern auch Muttersprachlern die Arbeit der 'Übersetzung' abverlangt, um sich den Begriff verständlich zu machen.
Begriffsgeschichte
(2018)
Die jüngeren Aufbrüche und Umbrüche haben den Begriff 'Begriffsgeschichte' nicht unberührt gelassen: "Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse hat sich mittlerweile der Terminus historische Semantik interdisziplinär etabliert." Die Ausnüchterung des Begriffs im Terminus, der Begriffsgeschichte in der historischen Semantik, hilft bei der Abwehr prekärer und vielleicht auch gar nicht mehr zeitgemäßer Fragen, zumal der notorischen nach dem 'Begriff des Begriffs' der Begriffsgeschichte. Paradoxerweise drängen sie aber wieder, wenn sich die Begriffsgeschichte selbst historisch zu werden beginnt. Und da neben Interdisziplinarität und Internationalisierung auch Historisierung unabdingbar zum Ausweis wissenschaftlicher Geltung und Aktualität gehört, kommt Begriffsgeschichte um ihre Selbsthistorisierung gerade jetzt, zu Zeiten ihres späten Ruhmes, nicht herum.
Die Wendung 'avant la lettre' führt mitten ins Epizentrum jener Fragen, die sich mit den derzeitigen Öffnungen und Umbrüchen in den Methoden der Begriffsgeschichte stellen. Sie gehört ins Register des Unübersetzbaren, auch wenn man sie in Barbara Cassins "Dictionnaire des intraduisibles" (2004) vergeblich sucht. Denn sie wird im Deutschen oder Englischen gleichbedeutend verwendet wie im Französischen. Es handelt sich zudem um eine metaphorische Formulierung - ein Tatbestand, der allerdings oft hinter ihrem fremdsprachlichen Charakter zurücktritt. Denn es wird nicht vielen bekannt sein, dass die Formulierung in ihrer wörtlichen Bedeutung dem Bereich der Drucktechnik entstammt. Und schließlich verweisen Modus und Bedeutungsgehalt von 'avant la lettre' auf Fragen, die mit dem Vorbegrifflichen oder aber dem Unbegrifflichen zusammenhängen.
Autonomie
(2018)
Bei 'Autonomie' handelt es sich um einen alten Begriff mit altgriechischen und lateinischen Wurzeln, der in der Moderne zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden ist. Parallelausdrücke wie 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit', 'Eigengesetzlichkeit', 'Mündigkeit', 'Unabhängigkeit', 'Autarkie' sowie Komplementär- und Gegenbegriffe wie 'Heteronomie', 'Fremdbestimmung', 'Abhängigkeit', 'Bevormundung' verweisen auf ein weitverzweigtes Wortfeld ('Prädestination-Willkür', 'Determinismus' bzw. 'Naturalismus-Freiheit', 'Dogmatismus-Kritizismus', 'Realismus-Idealismus', 'Transzendentismus-Immanentismus', 'Autarkie-Interdependenz' bzw. 'Globalisierung') mit langer (Verflechtungs-)Geschichte. Der Begriff zirkuliert heute als Nomaden- und Grenzgängerbegriff in verschiedensten, einander gegenseitig befruchtenden Feldern (Politik, Pädagogik, Kunst, Kultur, Ökonomie, Medizin, Ökologie, Robotik etc.). Er interagiert als interdisziplinärer oder transversaler Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie z. B. Identität) und fördert wechselseitige Übertragungen zwischen ethisch-politischen und anderen Semantiken.
Apokalypse
(2018)
"Die Apokalypse" ist fester Bestandteil unserer Vorstellungswelt, wo sie landläufig für Katastrophen- und Untergangsszenarien aller Art steht oder schlicht für das "Ende der Welt". Als Bildungsgut, als kulturelles Kapital, gilt dagegen die Kenntnis, dass das griechische ἀποκάλυψις eigentlich "Offenbarung" bedeute. Genaugenommen bezeichnet es das Auf- (ἀπο) bzw. Hochheben eines Schleiers (καλύπτρα). Die Substantivierung des zugehörigen Verbs καλύπτειν, "verhüllen" ist κάλυψις. Die präziseste Übersetzung wäre also "Entschleierung" oder, wenn der abgeleitete abstrakte Sinn betont werden soll, "Enthüllung" - das lateinische 'revelatio'. [...] Seine biblisch-monotheistische Karriere beginnt das Wort in der Septuaginta, der ersten jüdischen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die auch für die Verfasser des Neuen Testaments der Standardtext wird.
Bei der exklusiven Alternative ist nur eines von beiden machbar. Diese Semantik, die nur eine von beiden Möglichkeiten zulässt, wird transparent in der lateinischen Ursprungsbedeutung 'alter' - der eine von beiden. Im Fremdwort 'alternieren' ist diese Bedeutung 'zwischen zwei abwechselnd' noch erkennbar, die im Prinzip allerdings zwei gleichwertige Lösungen impliziert. Die Wortprägung 'Alternative' - als Kompositum aus 'alter' ("der andere") und 'nativus' ("geboren, auf natürlichem Weg entstanden") - existiert im klassischen Latein noch nicht, sondern stellt eine relativ späte adjektivische Variante im Mittellateinischen dar und erscheint seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Texten als Adverb 'alternative', mit beginnendem 18. Jahrhundert wurde dann das auslautende '‑e' aufgegeben und adjektivischer Gebrauch möglich. Umgangssprachlich wird der Ausdruck zwar häufiger unpräzise in einem vageren Sinne verwendet und meint dann nicht nur genau zwei, sondern ganz unbestimmt mehrere Möglichkeiten ("es gibt doch viele Alternativen"), aber in der politischen Rhetorik der Gegenwartssprache dominiert auch im Sprachgebrauch jene logisch, linguistisch und etymologisch fundierte Bedeutung des Terminus. Wenn also der Begriff im politischen Kontext auftaucht, zeigt er - sprachwissenschaftlich gesagt - diese binäre Opposition, und wenn er hier personalisiert, eignet ihm auch diese antagonistische Zuspitzung und kompromisslose Polarisierung.
Agent
(2018)
Seit einiger Zeit tümmeln sich Agenten in der deutschen Sprache, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Äußerst beunruhigend ist, dass sich dort sowohl 'virtuelle' als auch 'reale Agenten' finden, die in 'agentenbasierten Modellierungen' für die Simulierung der Interaktion in sozialen Netzwerken und als 'Bio-Agenten' in Form von Ameisen, deren Staaten 'Multiagentensysteme' repräsentieren, oder Schlauchpilzen (der Art 'Fusarium oxysporum') tätig sind, die Kokapflanzen noch bis tief in den Amazonas hinein verfolgen - und ganz unvermutet als 'Agenten des Wandels' im Ruhrgebiet wieder auftauchen, diesmal allerdings als Bezeichnung für eher harmlose Ökoprojekte. [...] Nach dem Beginn der Aufklärung hat sich der 'agent' bis ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein auch noch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen fast viral vermehrt.
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dokumentiert die Beiträge zu dem Workshop "Politische Ikonologie - Begriffsgeschichte - Epochenschwellen", den das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung am 24. und 25. November 2017 im Warburg-Haus Hamburg veranstaltet hat. Der Workshop befasste sich mit Übertragungen, Überschneidungen, Ablösungsprozessen zwischen Begriffsgeschichte und (politischer) Ikonologie. Dabei sollte der historische Index in deren Verhältnis in wenigstens doppelter Hinsicht bedacht werden: Einerseits ging es um die Frage, wie die von Aby Warburg und seinem Umfeld ausgehenden Bild- und Semantiktheorien mit den in der Begriffsgeschichtsforschung thematisierten Epochenschwellen umgehen, andererseits darum, wie und warum die Ikonologie im 20. Jahrhundert selbst zum favorisierten Instrument wird, um den kulturellen und politischen Bedeutungswandel zu fassen.
Reinhart Kosellecks Bildnachlass dokumentiert dessen jahrzehntelange Forschungen zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes und der Geschichte des Reiterdenkmals, einschließlich seiner leidenschaftlichen Fotopraxis. Kaum bekannt und von besonderem Interesse für das hier verfolgte Rahmenthema "Politische Ikonologie - Begriffsgeschichte - Epochenschwellen", zeugt dieser reiche Fundus aber auch von intensiven kunstgeschichtlichen und kunsttheoretischen, mitunter kunstphilosophischen und bildwissenschaftlichen Interessen des Bielefelder Historikers, die dieser Zeit seines Studiums und keineswegs nur parallel zu seiner historischen Arbeit verfolgte. Denn diese Spuren führen tief in das historische Denken Kosellecks hinein, und sie zeigen, dass dessen Blick bei aller konkreten Bildarbeit nie dem Sichtbaren allein galt, sondern immer auch dem Unsichtbaren, dass er sich das Unsichtbare - geschichtliche Strukturen und Prozesse, geschichtliche Zeit und Bewegung, schlicht Geschichte - in der Sichtbarkeit des mentalen wie konkreten Bildes zu vergegenwärtigen und in die Sichtbarkeit des anschaulichen Textes zu überführen suchte. Dabei hat die Aufarbeitung von Kosellecks Bildnachlass mit Blick auf sein historisches Werks ein komplexes Bedingungsverhältnis und eine erstaunliche Verquickung sprachlich-diskursiver und sinnlich-bildlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen ans Licht gebracht, die es unter anderem erlauben, konkrete Verbindungslinien zwischen der spezifisch Koselleck'schen Begriffsgeschichte und bestimmten Bereichen der Kunst, Kunstgeschichte und Kunsttheorie zu ziehen. An dieser Schnittstelle setzt der vorliegende Beitrag an und lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf Bedeutung und Einfluss des Wiener Kunsthistorikers Werner Hofmann (1928–2013), dessen zentraler Wirkungsort die Hamburger Kunsthalle werden sollte. Hofmann soll dabei beispielhaft für einen bemerkenswerten Schwerpunkt betrachtet werden, auf den sich Kosellecks Interessen im Bereich der Kunst und der Bilder konzentriert zu haben scheinen: den Zusammenhang von Bild und Zeit.
Leistung
(2019)
Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Begriffe seiner Selbstbeschreibung hervorgebracht: Die 'Leistungsgesellschaft' ist eine dieser gängigen Selbstzuschreibungen, die sich im Kern auf einen Begriff zurückführen lassen: 'Leistung' erscheint auf den ersten Blick als klar zu fassen - wenn nicht sogar mathematisch-physikalisch präzise definiert als 'Arbeit pro Zeit'. Doch erschöpft sich das Bedeutungsspektrum des Leistungsbegriffs in dieser Formel? Was will eine Gesellschaft von sich aussagen, wenn sie sich als 'Leistungsgesellschaft' versteht? Jasmin Brötz geht im Folgenden auf Nina Verheyens populärwissenschaftliche Vorschau (Die Erfindung der Leistung, München 2018) auf ihr Habilitationsprojekt ein. [...] Grundlegende These des Buches ist, dass in der Gesellschaft Leistung gemeinhin als "individuelle Leistung" verstanden wird. Kollektive Anteile an einer Leistung, so Verheyen, werden dabei systematisch ausgeblendet. Die Autorin wirbt daher für ein "soziales Leistungsverständnis", das kollektive Aspekte von Leistung ebenso berücksichtigt, wie es ein Bewusstsein für das historisch gewachsene und wandelbare Konzept von Leistung entwickelt. Diesen eigenen normativen Anspruch verbindet sie mit einem konstruktivistischen Ansatz, indem sie die Zuschreibungen von Leistung dekonstruiert und darüber hinaus ganz im Sinne von Foucault Leistung als Mittel der Disziplinierung und Hierarchisierung hinterfragt.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Diversität: Bemerkungen zur Begriffsgeschichte der Diversität ausgehend von drei Sammelbänden
(2019)
Auffallend an der Geschichte des Begriffs der Diversität ist die Spannung zwischen der sehr langen Geschichte seines Gebrauchs und seinem dementsprechend sehr weiten Anwendungsbereich einerseits und der spezifischen Signalwirkung in der politisch-sozialen Sprache seit den 1980er Jahren andererseits. Bis zu dieser Zeit erscheint der Ausdruck in den großen deutschsprachigen Enzyklopädien meist nur mit einer kurzen Erläuterung seiner Bedeutung als "Verschiedenheit". Bereits in der Antike fungiert dieses Wort allerdings - ebenso wie die in seinem semantischen Umfeld stehenden Ausdrücke 'ποικiλία' und 'varietas' - als ein Wertbegriff, und zwar vor allem im Kontext der Ästhetik. Das Bunt-Schillernde, das die primäre Bedeutung von 'poikilia' im Griechischen ist, wird von Platon zwar noch abgelehnt, weil es etwas Oberflächliches sei, das nur für Kinder und Frauen Unterhaltung biete und von dem Eigentlichen, das in die Tiefe geht, ablenke. Später, besonders in der römischen Antike, avanciert die Darstellung von Vielfalt aber zu einem zentralen Prinzip der Ästhetik (so dass die Vielfalt ein "römisches Prinzip" genannt wurde). Erklärt wird dies mit politischen und kulturellen Entwicklungen wie der Verfasstheit des römischen Reiches als ein Vielvölkerstaat, der den vielfältigen Sinnenfreuden nicht abgeneigten römischen Alltagskultur (der Oberschicht) und nicht zuletzt dem Polytheismus. Auch in den christlichen Kontext wird die Vorliebe für Vielfalt übernommen und der eine Gott über die Vielfalt der Erscheinungen seiner Welt gepriesen. Dieser Hintergrund des Begriffsfeldes bildete eine Bedingung für die Konjunktur des Ausdrucks Diversität am Ende des 20. Jahrhunderts. Falko Schmieder beleuchtet anhand von drei in den letzten Jahren erschienenen Sammelbänden, wie diese Konjunktur sich entfaltete.
Innovation
(2019)
Der kanadische Wissenschaftshistoriker Benoît Godin legte im Jahre 2015 die erste umfassende Begriffsgeschichte von 'Innovation' vor, die sich im Wesentlichen auf englisch- und französischsprachige Quellen bezieht. Falko Schmieder beschäftigt sich nun mit der ersten begriffsgeschichtlichen Studie zur Verwendung von 'Innovation' im Deutschen, Susanna Webers "Innovation. Zur Begriffsgeschichte eines modernen Fahnenworts". Den aktuellen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung einer enormen Reichweite und Expansion des Begriffs in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen.
Hegemonie
(2019)
Perry Andersons jüngstes Buch "Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs" ist ein Beleg für die internationale Konjunktur der Begriffsgeschichte und speziell für deren zunehmend globale Ausrichtung. Die Geschichte des Begriffs, die Anderson erzählt, berührt nämlich "acht oder neun verschiedene Nationalkulturen". Sie hat voneinander unabhängige Ursprünge, die in der griechischen Antike und in der noch älteren chinesischen Zhou-Dynastie liegen. Anderson hält fest, dass die lange und komplexe Bedeutungsgeschichte von 'Hegemonie' in den aktuellen Verwendungen zumeist ignoriert wird oder nicht mehr präsent ist; seine Überzeugung ist aber, dass wir diese Geschichte des Begriffs "verstehen müssen, um seine Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen". [...] Die Gegenwart spielt für die Begriffsgeschichte aber auch deshalb eine besondere Rolle, weil der Begriff Hegemonie ungeachtet seiner langen Geschichte erst in jüngerer Zeit eine allgemeinere Bedeutung erlangt hat; im englischen Sprachraum liegt der große Sprung in den 1990er Jahren, in Deutschland dürfte das ähnlich sein. In dem "maßgeblichen Kompendium 'Geschichtliche Grundbegriffe'" hat der Begriff jedenfalls, so Anderson, "signifikanterweise keinen Eintrag" erhalten . Die möglichen Gründe dafür, über die Anderson nicht spekuliert, bringt Falko Schmieder hier zur Sprache.
Heimat
(2019)
Heimat ist ein Begriff, der aktueller ist denn je. Die Süddeutsche Zeitung erklärte im April 2018: "Heimat ist der Debattenbegriff der Zeit." Im Kontext der weltweiten Migrationsbewegungen und der gleichzeitig erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen in Europa spielen 'Heimat' und verwandte Begriffe in den tagesaktuellen Diskussionen immer eine unterschwellige oder auch explizite Rolle: Vom Verlust der Heimat durch Krieg, Vertreibung oder wirtschaftliche Not über das 'Abendland' als konstruierte Heimat und die Angst vor ihrer Islamisierung bis hin zum seit 2018 um 'Heimat' erweiterten Namen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat - es existieren viele Auslegungen und Bedeutungszuschreibungen für diesen Begriff. All diese gegenwärtigen Semantiken von 'Heimat' haben eine Geschichte und einen historischen Ursprung, denen die Sprachwissenschaftlerin Andrea Bastian in ihrer hier von Martin Schlüter besprochenen Untersuchung (Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995) nachspürt.
Die Absicht von Johannes Rohbecks Beitrag ist eine kritische Würdigung der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck. Dabei konzentriert sich Rohbeck auf Kosellecks Untersuchungen über die Historiographie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. [...] Zunächst beginnt Rohbeck mit den Verdiensten Kosellecks um die Geschichtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Da diese Leistung unbestritten ist, beschränkt er sich bei seiner Würdigung auf einige Hinweise. [...] Danach stellt Rohbeck einige begriffsgeschichtliche Behauptungen infrage; hier handelt es sich um philologische Korrekturen zu den Begriffen Fortschritt und Geschichte. Rohbeck zeigt außerdem, dass diese Korrekturen auf Kosellecks grundsätzliche Positionen verweisen. Sodann zielt seine Kritik auf allgemeine Einschätzungen zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Moderne, insbesondere auf die These von der 'Unverfügbarkeit der Geschichte'. Im Gegensatz zu Koselleck glaubt Rohbeck, dass es einige aktuelle und drängende Probleme gibt, die menschliches Handeln erfordern, um wenigstens teilweise in die Geschichte eingreifen zu können.
Globalisierung
(2019)
Wer denkt, Globalisierung habe etwas mit Marktwirtschaft zu tun, irrt nicht. Auf diesen kurzen Nenner ließe sich die ausführlichste begriffsgeschichtliche Studie bringen, die bislang zu 'Globalisierung' vorliegt. Doch wird man mit dieser verknappenden Formel weder dem Phänomen noch der von Olaf Bach 2013 veröffentlichten Studie "Die Erfindung der Globalisierung" gerecht. Denn zu Recht versteht er 'Globalisierung' nicht als einen ökonomischen Fachbegriff, sondern untersucht "Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs".
Editorial
(2019)
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dient der Vorbereitung eines auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikonprojekts zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik im 20. Jahrhundert. In theoretisch-methodischer Hinsicht knüpft es an die vielen Debatten zur Neuausrichtung der Begriffsgeschichte an, zu denen vor allem Zeithistoriker*innen wichtige Beiträge geliefert haben.
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dient der Vorbereitung eines auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikonprojekts zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik im 20. Jahrhundert. In theoretisch-methodischer Hinsicht knüpft es an die vielen Debatten zur Neuausrichtung der Begriffsgeschichte an, zu denen vor allem Zeithistoriker*innen wichtige Beiträge geliefert haben.
Benoît Garnot beschreibt die Diversität historischer Konzepte der Zeugenschaft und die Veränderung ihrer Szenarien. Während diese in der Vormoderne in ihrer Performativität durch Ritualisierung und Sakralität gekennzeichnet waren, ist für das moderne Szenarium juridischer Zeugenschaft von einer Entsakralisierung zu sprechen, in der die "staatsbürgerliche Tugend" an die Stelle der "religiösen Pflicht" zur Verfolgung der Wahrheit trete. Anstelle einer angerufenen und entscheidenden göttlichen Instanz tritt die "freie richterliche Überzeugung", durch die das Amt wiederum dem Staat verpflichtet ist. Von einem Phänomen der Resakralisierung ist im Kontext der Opferzeugen zu sprechen; die Wahrheit dient hier auch der Memoria der Gemeinschaft.
Der Zeuge verkörpert eine Schlüsselfigur unserer Kultur und Wissenspraxis, obwohl das mittels Zeugenschaft generierte Wissen immer einen umstrittenen Status hat. In diesem Band werden verschiedene Typen und Formen des testimonialen Wissens diskutiert, kulturhistorische und systematische Perspektiven zusammengeführt und in ihren Verflechtungen zwischen epistemischem Wert und ethischer, politischer, sozialer, künstlerischer und religiöser Bedeutung beleuchtet. Im Fokus stehen dabei vor allem die Praktiken und Handlungsszenarien der Bezeugung, da sich in ihren Konstellationen und Dynamiken die Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses und die Optionen zur Etablierung eines Zeugenwissens entscheiden.
Resistance
(2019)
The term 'resistance', as it appears in the writings of Walter Benjamin, marks the attempt to think a politics that emerges out of a certain experience of history and time. This entry shows that 'Widerstand' is conceived here principally as a resistance against the course of a catastrophic history - a desire for time to cease its flow and come to a standstill.
Der Begriff des Monuments ist sicher nicht der erste, dem man augenblicklich eine gesteigerte Attraktivität bescheinigen könnte. Monument - das klingt nach Historismus und Historienschinken, nach Denkmalpflege und moosigen Steinen, nach brachialem 19. Jahrhundert, Bildungsbürgertum und Baedeker. Monument klingt nach allem - nur nicht nach Medium, Lektüre oder Codierung, drei Bausteine, an die man nach den jüngsten kulturwissenschaftlichen Relektüren des Monuments mit diesem verbinden sollte. Denn möglicherweise ist seine Inschrift erst heute lesbar geworden und sein Jetzt der Erkennbarkeit erst in diesen Tagen gekommen. Möglicherweise mußte das Monument im Schatten jeder Aufmerksamkeit vor sich hin dämmern, um aus der begriffsgeschichtlichen Abstellkammer wieder hervorgeholt werden zu können; vielleicht bedurfte es jenes monumentalen Schlummers, damit ein Prinz 1969 kommen und es aus diesem Schlummer erwecken konnte. Spätestens seit Foucault den Begriff in seiner Einleitung in die Archäologie des Wissens wachgeküßt und wieder zum Leben erweckt hat, gehört er in das neo-historistische Repertoire von Literatur- und Kulturwissenschaftlern: Tatsächlich stellt es eine der Kuriositäten des derzeitigen wissenschaftlichen Diskurses dar, daß die aufgerüstete kulturwissenschaftliche Rede von Codierung und Hardware so selbstverständlich in terms of Monumenten spricht, als befände man sich in der Mitte des Historismus. Dabei weisen schon Codierung und Hardware darauf hin, daß es durchaus veränderte Vorzeichen sind, unter denen das Monument neuerdings wieder in die wissenschaftliche Rede einfließt.
In einem Brief an Florens Christian Rang vom 9. Dezember 1923 schreibt Benjamin: "Mich beschäftigt […] der Gedanke, wie Kunstwerke sich zum geschichtlichen Leben verhalten. Dabei gilt mir als ausgemacht, daß es Kunstgeschichte nicht gibt". Dieser schroffen Feststellung folgen zwei Seiten, in denen Benjamin es sich zum Ziel setzt zu erläutern, was er mit diesem Satz meint, wobei er Fragen stellt und Hypothesen liefert. Benjamin hat hier also keinen dogmatischen Text verfasst, sondern es handelt sich um einen problembezogenen Brief, mit dem er sich an den Freund wendet, in der Hoffnung, dass er sich über dieses schwierige Thema äußern wird. Nach der Feststellung, dass er "ohnehin unter einer gewissen Einsamkeit [leidet,] in die Lebensverhältnisse und Gegenstand [seiner] Arbeit [ihn] gedrängt haben", schließt er nämlich: "Sollten Dir diese Überlegungen trotz ihrer Dürftigkeit die Möglichkeit einer Äußerung gewähren, so würde ich mich sehr freuen".
Eine Antwort Rangs ist nicht erhalten. Benjamins Text gibt uns (mit anderen seiner Schriften, in denen die Kunstgeschichte eine wesentliche Rolle spielt) allerdings einige Indizien, um zu verstehen, was ihn bewegte. Wenn Benjamin sagt, dass "es Kunstgeschichte nicht gibt", spricht er nicht vom Nichtbestehen dieses Fachs, sondern er artikuliert seine Unzufriedenheit bezüglich der Art und Weise, in der die Kunstgeschichte bis dato gewirkt hat, und stellt in diesem Sinne eine Forderung: die Forderung, dass die Kunstgeschichte in einer neuen Form beginnen, oder besser gesagt, wieder beginnen möge. Es geht um eine Wiedergeburt der Kunstgeschichte und ihrer Methoden. Wenn wir den Text weiterlesen, verstehen wir, dass nach Benjamin die traditionelle Kunstgeschichte keine nützliche Antwort auf die Frage liefert "wie Kunstwerke sich zum geschichtlichen Leben verhalten", weil sie mit der Histoire und nicht mit der Geschichte zu tun hat.
Eine der konstanten Fragen in Benjamins Werk ist die nach der Wirkung der geschichtlichen Bedingungen auf schriftliche und bildliche Texte.
Musik und Dichtung sind spätestens seit dem Hohelied Salomos und den bacchantischen Hymnen an Dionysos engstens verbunden. Der gregorianische Gesang des Mittelalters benutzte die lateinischen Texte der Liturgie, Liedkomponisten seit Schubert nehmen ihre Libretti von literarischen Texten her, und Debussys Prélude à l'après-midi d'un faune setzt eine Bekanntschaft mit Mallarmés Gedicht voraus. Die Form der Sonate unterliegt Thomas Manns 'Tonio Kröger' (1903) sowie auch Hermann Hesses 'Der Steppenwolf' (1927), und andere musikalische Formen werden häufig mit raffinierter Bewusstheit angewendet, wie etwa in Robert Pingets 'Passacaille' (1969), Herbert Rosendorfers 'Deutsche Suite' (1972) oder Anthony Burgess' 'Napoleon Symphony' (1974). Thomas Bernhard in 'Der Untergeher' (1983) sowie französische, englische, und amerikanische Schriftsteller derselben Jahre nahmen Bachs Goldberg Variationen als Grundlage für Thema und/oder Struktur ihrer Romane. Und mehrere Komponisten haben versucht, die Musikstücke, die in Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) so ausführlich beschrieben werden, zu realisieren. So verwundert es kaum, wenn gewisse Motive, die mit der Musik eng verwoben sind auch in Dichtungen auftauchen.
Als Franz Horn, Vorreiter einer modernen Literaturgeschichtsschreibung, 1824 nach einer angemessenen Bezeichnung des Zeitraums zwischen 1750 und 1770 suchte, erinnerte er seine Leser daran, dass diese Jahre unlängst noch als das "goldene Zeitalter der deutschen Literatur" bezeichnet worden waren. Dessen Schriftsteller - so Horn bereits 1805 - hätten einen wichtigen Beitrag zum "Wiederaufblühen und der Reife unserer Literatur" geleistet. Genauso sahen es bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein zahlreiche Literaturhistoriker. Karl Herzog bilanziert 1831 die "Selbständigkeit der National-Literatur" unter der Überschrift "Von der Mitte des 18ten Jahrhunderts bis auf unsere Zeit"; für Christian Georg Friedrich Brederlow beginnt das "classische Zeitalter der deutschen Literatur" in der "Mitte des 18. Jahrhunderts", für Werner Hahn setzt die "Zeit der klassischen Vollendung der deutschen Poesie" mit "Klopstock 1748" ein, Karl Gustav Helbig periodisiert "vom zweiten Viertel des 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart", Joseph Hillebrand spricht von einer "nationalliterarischen Reformation unter Lessing", was zugleich "der Anfang ihrer klassischen Wiedergeburt" gewesen sei, und Heinrich Laube sieht mit Lessing gar "diejenige Literatur, welche man die klassische nennt", beginnen.
Was hier immer wieder wie eine zusammenhängende Periode erscheint, die ausgehend von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Ende reicht, sollte schon bald zu einem mehrstufigen Entwicklungsmodell ausdifferenziert werden, an dessen Ende die Weimarer Klassik steht - als mondäner Gipfel, der einen großen Schatten werfen wird auf die vermeintlichen Niederungen der Literaturlandschaft.
Archive verändern sich heute. Überall entstehen neue Archive und die bestehenden wandeln vor allem durch die Möglichkeiten der Digitalisierung rasch ihre Form. Zugleich sehen sich die offiziellen Archive zunehmend einer Vielzahl von Sammlungen von Daten und Bildern gegenüber, von denen keineswegs ausgemacht ist, ob man sie noch als 'Archiv' bezeichnen kann. Durch die Virtualisierung scheinen die Dinge zu verschwinden oder an Kompaktheit zu verlieren; gleichzeitig entsteht immer mehr 'Archivgut' – alles wird archivierbar und unser Leben unterliegt zunehmend der Selbstarchivierung, die alle unsere Äußerungen und Erlebnisse in einem 'Profil' sammelt, das wir vielleicht niemals mehr löschen werden können. Insgesamt ist die fortschreitende Archivierung von allem und jedem vielleicht eines der auffälligsten Komplemente zur wachsenden Beschleunigung spätmoderner Gesellschaften – und es ist alles andere als klar, ob man sie als Zeichen einer Erosion 'des' Archivs oder eher als dessen Universalisierung verstehen kann.
[Rezension zu:] Benoît Godin: Innovation contested : the idea of innovation over the centuries
(2016)
Rezension zu Benoit Godin: Innovation contested : the idea of innovation over the centuries
Über die Auseinandersetzung mit den Innovation Studies hat sich Godin seit Ende der 2000er Jahre verschiedenen Aspekten der Geschichte des Innovationsbegriffs zugewandt und in renommierten Zeitschriften (darunter in 'Redescription, Minerva' und zuletzt in den 'Contributions to the History of Concepts') bereits zahlreiche Aufsätze zu diesem Gegenstand publiziert. Einige davon sind eingeflossen in das Buch 'Innovation Contested', das im Jahre 2015 im Rahmen der Reihe Routledge Studies in Social and Political Thought erschienen ist.
Gagarins Raumanzug
(2015)
Raumanzüge gehören zu Astronauten und Kosmonauten wie der Feuerwehranzug zum 'Firefighter' und der Tauchanzug zum Taucher - sie sind Funktionskleidung, ohne die die Retter in der Not, Entdecker der Tiefsee und Pioniere des Weltraums ihre Heldentaten nicht vollbringen könnten. In der populären Ikonographie der bemannten Raumfahrt sind die meist monochromen, häufig amorph wirkenden Ganzkörperkleidungsstücke mit dem runden, überproportional großen Helm, die die Menschen in etwas schwerfällig sich bewegende, leicht roboterartige Wesen verwandeln, untrennbar verbunden mit dem sogenannten 'Space Race', mit 'Star Wars' und mit '2001: A Space Odyssey'. Nur der erste Mensch im Weltraum, Juri Gagarin, hatte keinen.
Sammelrezension zu Konrad Gross, Wolfgang Klooß u. Reingard M. Nischik (Hg.): Kanadische Literaturgeschichte. Unter Mitarbeit von Heinz Antor, Doris Eibl, Klaus-Dieter Ertler, Albert-Reiner Glaap, Paul Goetsch, Fritz Peter Kirsch, Martin Kuester, Rolf Lohse, Hartmut Lutz, Ursula Mathis-Moser, Markus M. Müller, Andrea Oberhuber, Caroline Rosenthal, Dorothee Scholl und Waldemar Zacharasiewicz. Stuttgart, Weimar (Metzler) 2005. 446 S.
Ingo Kolboom u. Roberto Mann: Akadien: ein französischer Traum in Amerika. Vier Jahrhunderte Geschichte und Literatur der Akadier. Mit Gastbeiträgen von Maurice Basque, Sandra Eulitz, Jacques Gauthier, Ingrid Neumann-Holzschuh und Thomas Scheufler sowie einer CD-ROM mit Materialien und Dokumenten und einer DVD mit dem Film 'Die Akadier - Odyssee eines Volkes' von Eva und Georg Bense. Heidelberg (Synchron) 2005. 1014 S.
Um Verkehrungen zwischen Natur und Gesellschaft plastisch auf den Punkt zu bringen, paraphrasiert Karl Marx im Fetischkapitels des Kapitals einen Vers aus Shakespeares 'Viel Lärm um nichts' (3. Aufzug,3. Szene): "Ein gut aussehender Mann zu sein, ist eine Gabe der Umstände, aber lesen und schreiben zu können, kommt von Natur." Konnte Marx für das Publikum des 19. Jahrhunderts, auch indem er Shakespeares 'fortune' durch das zeitgenössisch eher sozial konnotierte 'Umstände' und 'Physiognomie' durch 'Aussehen' übersetzte, die Evidenz der Differenz von Natürlichem und Gesellschaftlichem noch sicher als rhetorische Schlusspointe für die Verkehrung der dinglich-natürlichen Gebrauchswerte und der gesellschaftlichen Tauschwerte einsetzen, so haben solche Unterscheidungen, vielleicht nicht zuletzt gerade auch aufgrund der von ihm selbst beschriebenen Vergesellschaftungsprozesse ihre unmittelbare Evidenz verloren. Denn wie manche Kognitionswissenschaftler und Linguisten heute die Sprachentwicklung am liebsten durch bildliche Darstellung aktivierter Hirnareale 'biologisch-hirnphysiologisch' fassen, so ist umgekehrt das natürliche physiognomisch Aussehen längst zu einem 'kulturell' konstruierbarem Artefakt geworden. Die vorliegende, aus einer Kooperation zwischen der von Clemens Knobloch geleiteten Siegener Forschergruppe 'Die Kulturkritik des Neoevolutionismus' und Mitarbeitern des 'Zentrums für Literatur- und Kulturforschung' (Berlin) entstandene Ausgabe des e-Journals wendet sich solchen semantischen Verschiebungen zu, wobei zudem der primäre Oppositionsbegriff zu Natur heute nicht Gesellschaft, sondern Kultur ist. Die interdisziplinären Begriffsgeschichten behandeln dabei Begriffe wie 'Kultur' und 'Natur', 'Evolution' und 'Geschichte'‚ 'Fortschritt' sowie 'survival of the fittest'.
Trotz der Annäherung der Begriffe 'Geschichte' und 'Evolution' unter dem Vorzeichen einer semantischen Verschiebung kulturellen Kapitals haben sich bis in die Gegenwart auch begriffliche Differenzen erhalten. So gibt es neben der unbekümmerten Anwendung von 'Geschichte' und 'Evolution' auf alle sich in der Zeit verändernden Dinge auch Versuche, die Begriffe terminologisch stark zu machen und in der Folge dessen 'Evolution' für den Bereich der Natur und 'Geschichte' für den der Kultur zu reservieren. Der Beitrag liefert eine historische Rekonstruktion dieser Entwicklung. Am Anfang stehen dabei einige quantitative sprachwissenschaftliche Beobachtungen zur Entwicklung der Häufigkeit der Begriffe in verschiedenen Textgattungen und zur gegenwärtigen Semantik durch einen Vergleich der häufigsten Genitivattribute. Im zweiten Abschnitt wird die Veränderung des Ausdrucks 'Geschichte' untersucht, zunächst in seiner terminologischen Bedeutung in den Geschichtswissenschaften, dann in seiner Ausweitung auf Gegenstände der Natur. Der dritte Abschnitt liefert eine analoge Untersuchung zu 'Evolution', ausgehend von den Naturwissenschaften und in der Ausweitung auf kulturelle Phänomene. Im vierten Abschnitt wird eine Verbindung der beiden Begriffe näher betrachtet, die im Sinne einer semantischen Verschränkung wirksam ist und sich unter anderem daraus ergibt, dass das Wort 'Evolution' eine teleologische Konnotation hat, die bei 'Geschichte' nicht vorliegt. Der fünfte Abschnitt schließlich beleuchtet die wissenschaftliche Stellung der Begriffe in der Gegenwart und erwägt die Aussichten ihrer terminologischen Differenzierung.