CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Die politischen Aphorismen des Novalis erfreuen sich nach wie vor einer hohen Aufmerksamkeit durch die institutionelle Literaturwissenschaft. Längst geht es dabei nicht mehr, wie noch in der älteren Forschungsdiskussion, in erster Linie um die Frage, ob man die politische Position des Romantikers nun als "konservativ": oder als "progressiv" zu bewerten hat. Hermann Kurzkes resigniertes Urteil, es gebe "keine richtige Interpretation", sondern nur die kontingente Möglichkeit einer "konservativen" und einer "modernistischen" Lektüre der politischen Aphorismen des Novalis', scheint beinahe das letzte Wort behalten zu haben.
An Versuchen, Walter Benjamins 'Einbahnstraße' in die literarhistorischen Traditionen einzuordnen, fehlt es nicht. Vorzugsweise hat man dabei auf den Feldern gesucht, die sich von Benjamins eigenen frühen literarhistorischen Schwerpunkten aus anbieten, dem Barock mit dem Emblem und der Romantik mit dem Fragment, beides mit ebenso vielen Erträgen wie Problemen. Von anderen Aspekten in seinem Werk gehen die Erörterungen zu Traktat und Denkbild aus. Zum Traktat setzen sie bei Benjamins "Innenarchitektur" (WuN VIII, 38) an und nehmen Bezug auf den Konstruktivismus; zum Denkbild gehen sie von seinen "Denkbildern " aus, die unter dem Pseudonym Detlev Holz in der 'Frankfurter Zeitung' vom 15. November 1933 erschienen, wesentlich gestützt durch die Autorität Adornos etwa von Schlaffer und Jäger. Fernerliegendes, wie Anekdote und Mosaik, ist (von Bertrams Nietzsche-Bild her) gleichfalls erprobt worden, und Schöttker hat aus dem jeweiligen Ungenügen heraus auch integrierende Versuche unternommen. Benjamin habe versucht, "den frühromantischen Fragmentarismus, den er im barocken Drama vorbereitet sah, mit den Ideen der konstruktivistischen Avantgarde zu verbinden". Miniatur oder Minimalprosa sind daneben eher unverbindliche Verlegenheitslösungen geblieben. Am nachhaltigsten ist wohl der Aphorismus zur zentralen Kategorie erklärt worden, mit sehr viel Berechtigung und wiederum nicht ohne erhebliche einschränkende Bemerkungen.
In seiner Rezension zur Kritischen Ausgabe der 'Einbahnstraße' schreibt Lorenz Jäger in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' vom 11.3.2010: "Zwischen Moskau und Paris liegt der geographische Raum dieses Buches, auch nach Süden hin ist er offen." Tatsächlich spielt der Süden Europas im Leben und Werk Benjamins eine wichtige Rolle. In Italien und Spanien hat er nicht nur längere Phasen seines Lebens verbracht, sondern bekanntlich auch zentrale, seine intellektuelle Entwicklung prägende Zäsuren erlebt. Seine autobiographischen Texte, Reisebilder und die Besprechungen einschlägiger Werke zur Kultur und Landschaft Südeuropas geben davon ein eindrucksvolles Zeugnis. Hinsichtlich der Rezeption der romanischen Literatur im engeren Sinn wird man aber von einer eher schmalen Tür nach Süden sprechen müssen, jedenfalls gemessen an den breiten Toren, die nach Westen in Richtung Frankreich bzw. nach Osten zur russischen Literatur führen. Gewiss, Benjamin kannte die italienischen Klassiker Dante, Petrarca, Boccaccio, Aretino oder Marsilio Ficino, aber sehr tiefe Spuren haben sie in seinem Werk nicht hinterlassen. Etwas anders sieht es bei den großen Autoren des spanischen 'Siglo de Oro' aus. Mit Cervantes als Erzähler, vor allem aber mit dem "Handorakel" von Baltasar Gracián und den Trauerspielen Calderons hat er sich seit den 1920er Jahren wiederholt und intensiv auseinandergesetzt. Aber auch hier fehlt, sieht man von der kurzen Rezension des spanischen Surrealisten Ramón Gómez de la Serna ab, jede nähere Beschäftigung mit bedeutenden Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Umso auffälliger ist vor diesem Hintergrund das Interesse, das Benjamin dem italienischen Dichter, Philologen, Essayisten und großen Aphoristiker Giacomo Leopardi (1798–1837) entgegengebracht hat. Es findet seinen deutlichsten Niederschlag in der Rezension einer deutschen Übersetzung von Leopardis 'Pensieri', die im Frühjahr 1928 geschrieben wurde und in der 'Literarischen Welt' vom 18.3.1928 erschienen ist. Größere Aufmerksamkeit hat diese Besprechung nicht gefunden. Bekannter ist der sich daran anschließende, zwei Monate später an gleicher Stelle publizierte Disput mit dem Übersetzer Richard Peters, der dem Kritiker Gelegenheit gab, zu grundsätzlichen Fragen der Übersetzungstheorie Stellung zu nehmen (WuN XIII, 144–147). Dagegen wurde die Verbindung zwischen Benjamin und Leopardi bislang in der Forschung von keiner Seite thematisiert.
Die vielberufene Zitierbarkeit der Benjamin'schen Wendungen gehört ins Register jener '-abilities', die Samuel Weber entdeckt hat. Sie berührt sich, sozusagen als 'quotability', mit der Brauchbarkeit, Erkennbarkeit, Kontrollierbarkeit, Kritisierbarkeit, Lesbarkeit, Mitteilbarkeit, Reproduzierbarkeit, Übersetzbarkeit, Vererbbarkeit, jenen Qualitäten, die einer Sache, durchweg einer Sache sprachlich-textlicher Faktur, virtuelle Kraft zusprechen. Diese Kraft bezeichnet nicht nur einen Charakter der passiven Eignung oder aktiven Befähigung, sondern dem Vorbild des lateinischen Gerundiums einen impliziten Imperativ. Was zitierbar ist, kann nicht nur, sondern muss zitiert werden, und es wirkt als ein Zu-Zitierendes. Benjaministische Benjamin-Forschung befolgt diesen Imperativ allzu wörtlich. Sie setzt autoritative Zitate an die Stelle sowohl des Kontextes, wo sie zuerst erschienen waren, wie auch der Technik des Denkens und Schreibens, denen sie ihre Spezifik verdanken. Für den autoritativen Gestus des Benjamin'schen Schreibens stehen viele Termini parat, und ein nicht abwegiger Terminus ist der des Aphorismus. Man wird auch vom Fragmentarismus des Benjamin'schen Schreibens sprechen dürfen, von seinem Hang zu Sentenzen (eben zitierbaren Sätzen), zur physiognomischen Zuschreibung, zum gnomischen, einprägsamen, inschrifthaften und monumentalen Wort. Die vieldebattierte Frage, ob Benjamins Stil aphoristische oder fragmentaristische Züge habe, kann in dieser Allgemeinheit etwas akademisch anmuten. Ein Anderes sieht, wer Aphorismus und Fragment zusammendenkt - wie etwa Gerhard Neumann in seiner monumentalen Studie 'Ideenparadiese'-, ein Anderes, wer sie unterscheidet.
Dass Paul Valéry, zunächst über seine Schriften, später auch persönlich als Vortragsredner, den einundzwanzig Jahre jüngeren Walter Benjamin intellektuell stark beeindruckt hat, ist in dessen Briefen, Aufsätzen und Rezensionen, dem Verzeichnis der gelesenen Schriften und dem Quellenverzeichnis zum Passagen- Werk gut dokumentiert. Danach lernte Benjamin von Valérys Werk seit Mitte der 1920er Jahre neben der Lyrik und 'Monsieur Teste' auch die literaturtheoretischen und kulturkritischen Essays kennen: zunächst den ersten Band der Sammlung 'Variété, Eupalinos ou l’architecte' und 'L’ Âme et la danse', dann auch die 'Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, L’ Idée fixe' (wohl 1934), die 'Pièces sur l’art' und 'Regards sur le monde actuel', beide in der Ausgabe 1938. Fasziniert hat Benjamin an Valéry nach Ausweis seiner bisweilen geradezu hymnischen Urteile vor allem die Betonung der Intellektualität und Bewusstheit gerade auch bei den vagen Objekten der ästhetischen Reflexion und damit die Gegnerschaft zum surrealistischen Konzept. Ihre Nähe ist gelegentlich aber auch mit der gemeinsamen Affinität zum Aphoristischen in Verbindung gebracht worden, die in Benjamins Valéry-Lob keinen direkten Niederschlag findet. Ich will daher hier einmal etwas genauer der These einer generischen Nähe zweier Korpora von kurzen Reflexionen uneinheitlicher Textsortenzugehörigkeit nachgehen, die kurz nacheinander erschienen sind - und vielleicht auch nicht ganz unabhängig voneinander: Valérys 'Rhumbs' (die hier metonymisch für verschiedene Einzelsammlungen aus dem später sogenannten 'Tel-Quel'-Konvolut stehen) und Benjamins 'Einbahnstraße'.