CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Refine
Language
- German (3)
Has Fulltext
- yes (3)
Is part of the Bibliography
- no (3) (remove)
Keywords
- Großstadt <Motiv> (3) (remove)
Mein Aufsatz widmet sich einigen Gedichten des 20. Jahrhunderts, in denen Wahrnehmungserfahrungen in Städten bzw. Großstädten wie etwa Paris, Tübingen, New York, Köln oder Rom formuliert und lyrisch aufbereitet sind. Dabei geht es mir um eine kritische Prüfung des in den Literaturwissenschaften stark dominierenden Verständnisses von Großstadtlyrik. Diese kritische Prüfung vollzieht sich im Folgenden anhand der Kategorie der Stimmung. Mit dieser Kategorie verbindet sich ein in der Forschung zur modernen Großstadtlyrik bisher kaum entwickelter theoretischer Zugriff, der vorab in aller Kürze mit dem Schlagwort 'Neue Phänomenologie' zu bezeichnen ist. Ich werde also für einen theoretischen Paradigmenwechsel plädieren und den Vorschlag machen, über Großstadtlyrik neu und anders nachzudenken, als dies die germanistische und vor allem komparatistische Forschung im Grunde bis heute tut. Bisher waren und sind die einschlägigen Arbeiten zu dieser Thematik stark beeinflusst von den Baudelaire-Studien Walter Benjamins, genauer gesagt von der von Benjamin an Baudelaire untersuchten Wahrnehmungskrise als einem vermeintlichen Signum moderner Großstadterfahrung. Bekanntlich sah Benjamin in den Paris-Gedichten Baudelaires eine sogenannte Choc-Erfahrung angelegt, die vor allem in Baudelaires berühmtem Gedicht 'A une passante' artikuliert sei. Der Tenor der Forschung zur Großstadtlyrik liegt seither auf der Deutung moderner Lyrik als Ausdruck einer Wahrnehmungskrise, die insbesondere durch die Arbeiten Silvio Viettas geradezu kanonisch wurde.
Egon Erwin Kisch und Siegfried Kracauer, zwei herausragende Vertreter der literarischen Reportage in der Weimarer Republik, treffen sich in der Übertragung von Rhetoriken der Reiseliteratur auf das Objekt ihres Schreibens: die urbane Moderne westlicher Provenienz. So schreibt Kisch im Vorwort zu 'Der Rasende Reporter' (1925), dass "nichts […] exotischer [ist] als unsere Umwelt ", während Kracauer seine Textsammlung 'Die Angestellten' (1930) als eine "kleine Expedition" bezeichnet, "die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist" und das soziokulturelle Milieu der Angestellten zum "[u]nbekannte[n] Gebiet" erklärt. Die fremden und exotisierten Populationen, deren Kulturen durch Forschungsreisen in noch unerschlossene Räume zu entdecken und durch Forschende zu beschreiben und analysieren sind, sind zur Zeit der Weimarer Republik längst nicht mehr nur jenseits der geographischen Grenzen der europäischen Moderne verortet. Sie sind in die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde urbane Moderne des Westens selbst verlagert worden, ist doch die Bevölkerung der Großstadt eine Ansammlung von einander fremden Individuen und Gruppen, von verschiedenen Klassen-, Sub- und ethnisierten Kulturen. Für das bürgerliche Beobachtungsubjekt besitzen die ihm unbekannten Räume der modernen Großstadt - so bezeugen Kischs und Kracauers Aussagen - einen Grad an Exotik, der selbst den Afrika zugeschriebenen Grad übertrifft.
Bei beiden Autoren ist das Fremde klassenmäßig kodiert. Unterschichten sind omnipräsent in Kischs Reportagesammlung und die Angestellten leben laut Kracauer trotz eines dezidiert anderen ideologischen Selbstverständnisses unter "ähnliche[n] soziale[n] Bedingungen wie […] das eigentliche Proletariat". Die Reisen ins Andere der Großstadt sind in diesen Fällen also oftmals Reisen zu Proletariern in einem weiten Sinne des Wortes, der Proletarier nicht auf die in der Industrie beschäftigen, klassenbewussten Arbeiter marxistischer Theorie und Politik festschreibt. Proletarier werden so zum Objekt einer Erforschung der Großstadt und zu Figuren einer großstädtischen Reiseliteratur.
Organisation: Achim Hölter (Münster), Volker Pantenburg Berlin) und Susanne Stemmler (Berlin)
Brecht-Haus, Berlin, 16. bis 18. März 2007
Nach dem 'linguistic turn' oder dem 'pictorial turn', in denen die Textualität und Bildlichkeit kultureller Artefakte ins Zentrum gerückt wurden, liegt das Augenmerk in den Literatur- und Kulturwissenschaften verstärkt auf deren Räumlichkeit: In den letzten Jahren ist demnach vermehrt vom 'spatial turn' die Rede gewesen. Der visuellen Umcodierung von Gegenwartskultur Rechnung tragend, wendeten die Beiträge der Tagung 'Metropolen im Maßstab' ihre Aufmerksamkeit auf die moderne literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema (Groß-)Stadt.