CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Kurz nach 1730 entsteht im Zuge der Gottschedischen Dichtungsreformen eine Vielzahl von Tragödien, die sich zunächst und vorzugsweise an französischen, englischen und antiken Textvorlagen abarbeiten, sukzessive aber auch eigene Evidenz und Wirkung entfalten. Gottsched selbst versucht, diese Entwicklung durch poetologische und systemphilosophische Normierung zu steuern und gleichzeitig mit seiner exemplarischen Dramenanthologie der Deutschen Schaubühne (1741-45) textlich zu befördern. In der Vorrede zum ersten Band betont er, es sei nicht ratsam, "ewig bey unsern Nachbarn in die Schule zu gehen, und sich unaufhörlich auf eine sclavische Nachtretung ihrer Fußstapfen zu befleißen". Stattdessen sei es an der Zeit, "unsre eigene Kräfte zu versuchen, und die freyen deutschen Geister anzustrengen; deren Kraft gewiß, wie in andern Künsten und Wissenschaften, als auch in der theatralischen Dichtkunst, unsern Nachbarn gewachsen, ja überlegen seyn wird." Die so angestoßene literaturgeschichtliche Produktivität äußert sich in den vielen Versuchen, entweder eingedeutschte oder vermehrt eigenständige Dramen zu verfassen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Tragödien der frühen Aufklärung zuallererst eine hohe formale Konvergenz zwischen Normpoetik und textueller Darstellung beobachten. Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung ist auf den ersten Blick ebenso gewährleistet wie die metrische Organisation durch den Alexandriner und das adlige Figureninventar. Gleichwohl ergeben sich nicht selten argumentationslogische Widersprüche und Diskrepanzen zwischen theoretischer Maßgabe und literarischer Gestaltung, und dies bereits bei Texten, die unmittelbar nach Gottscheds ersten Reformbemühungen in den 1730er Jahren entstehen. Die poetologisch, moralisch und philosophisch orientierte Normgebung wird dann jedoch weitaus weniger als Schreibhilfe und Schreibanleitung denn als Ausgangspunkt zu genuinen Umgangs- und Darstellungsweisen begriffen. Die Eigenständigkeit der Tragödien - so die Annahme - resultiert nicht nur aus der von Gottsched geforderten stofflichen Loslösung von nichtdeutschen Textfonds, sondern auch aus dem Umstand, dass die Texte die normativen Bedingungen, unter denen sie entstehen, formal zwar einhalten, argumentativ und handlungsstrategisch aber gezielt unterlaufen oder sich ihnen ganz entziehen.
Voltaires Verwirrung
(2011)
Ausgehend von einer Anekdote über den 80 Jahre alten Voltaire hebt Fabio Camilletti die Wiederholungserfahrung als zentralen Aspekt des Unheimlichen hervor. Den Philosophen Voltaire, der durch den Anblick eines abendlich betenden Mädchens plötzlich beunruhigt und schockiert wird, versteht Camilletti als eine vielsagende Figur der ängstlichen Verzauberung. Dieser Begebenheit folgend untersucht der Beitrag das Unheimliche im Primitivismus des 19. Jahrhunderts und macht deutlich, dass die jeweiligen Bestrebungen, die Vergangenheit wiederzubeleben, mit Rückgriff auf die Struktur des Verdrängungsprozesses interpretiert werden können.
The article analyses A. Boissier's image "Les Amants électrisés par l'amour" in view of the larger question of how something is able to arouse interest on first sight, but also in repeat encounters. Highlighting the engraving's didactic iconography, the article shows how it revolves around the solution to a riddle and uses a typical design of the Enlightenment to show the uncovering of a deception. As such, the engraving is part of a long tradition of showing (supposedly) supernatural events, more specifically the tradition of Magia naturalis. At the same time, the image contains dissonances and can be seen to simulate suspense through dichotomies that can be identified as antagonistic historical concepts. The article furthermore discusses the amalgamation of love and electricity in contemporary discourses and addresses the temporal dimension of the engraving, which constructs itself out of an absence, out of something yet unseen.
Scharlatane waren für die Gelehrtendiskurse der Frühen Neuzeit von kaum zu überschätzender Bedeutung, da sich anhand ihres Negativbeispiels Verhaltensideale formulieren ließen, die für die Wissenschaft maßgeblich waren. Das Interesse an dieser Figur reichte auch in die Literatur hinein, wo sie in vielfältiger Weise aufgegriffen wurde und um 1800 verstärkt in Erscheinung trat. Christoph Martin Wieland war einer der Autoren, die sich besonders intensiv mit ihr befassten. In seinem Roman Geschichte der Abderiten (1773-1779) inszeniert er den geistigen Gegensatz, der zwischen dem Protagonisten Demokrit, einem beispielhaften Gelehrten, und seinen Mitbürgern, den törichten Abderiten, besteht. Die These des vorliegenden Beitrags lautet, dass Wieland damit auf eine poetische Reflexion von Wissen abzielt, wobei er mit Hilfe des Scharlatanmotivs die wissenschaftlichen Ausschlussmechanismen seiner Zeit ironisiert. Mithin sind es die Bedingungen der Produktion von Wissen, die im Text aufs Korn genommen werden. Dabei spielt Wieland die komischen Konflikte durch, die auftreten können, wenn das der Aufklärung nahestehende Wissenschaftsethos eines Demokrit auf den Eigendünkel einer unaufgeklärten Gesellschaft trifft.
Die deutschsprachige ästhetische und kulturtheoretisch-anthropologische Debatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts thematisiert in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder den Umgang mit Fremdheitserfahrung. Sie umfasst in diesem Zusammenhang unterschiedlichste theoretische Modelle der prekären Vermittlung zwischen gegensätzlichen Polen wie besonderer Einzelerfahrung und allgemeinem Erfahrungsganzem, zwischen Einzelphänomen und Kontext, zwischen Fragment und Totalität oder zwischen Singularität und Universalität. Entsprechende Fragestellungen rücken in der Zeit der Spätaufklärung vor allem mit Blick auf die Vermittlung (inter)kultureller Fremdheit in den Fokus des theoretischen und literarischen Interesses: Dies gilt vor allem für die Kulturpraxis inner- und außereuropäischer Reisen, die im Rahmen der zeitgenössischen 'Reisemode' zu Debatten über die Möglichkeit kosmopolitischen Weltbürgertums, über Modi interkultureller Begegnung oder die Legitimität kolonialer Expansion ebenso wie zur Entwicklung einer konkreten ethnopoetischen Reise- und Reisedarstellungspoetik Anlass gibt. Dieser philosophisch-theoretischen und literarischen Konjunktur von Reisediskursen korrespondieren gleichzeitig unterschiedliche Entwürfe einer transnationalen vergleichenden Kulturgeschichte, die immer wieder in kulturelle Hierarchisierungsmodelle münden, in denen europäischen Kulturen erwartungsgemäß eine wenn nicht qualitative oder normative, so doch immerhin strategische Überlegenheit zuerkannt wird. Hiermit verbinden sich drittens frühe Ansätze zur Theorie und Praxis 'weltliterarischer' Bildung sowie Appelle für eine grenzüberschreitende Beschäftigung mit literarischen und kulturellen Artefakten als Vorläufermodelle komparatistischer Literatur- und Kulturwissenschaft.
Der Beitrag von Daniel Weidner stellt anhand dreier kommentierter Bibelübersetzungen im 18. Jahrhundert verschiedene Kommentierungsverfahren als Möglichkeiten kritischer Bibellektüre vor, die sich eben nicht nur an ein Fachpublikum, sondern vor allem auch an die Öffentlichkeit wendet. Seine Untersuchung setzt an der Zäsur in der Aufklärung an. Anhand der Kommentierungsverfahren in der Wertheimer Bibel (1702-1749), in Michaelis' kommentierender Bibelübersetzung "mit Anmerkungen für Ungelehrte" (1769-1792) und in Herders Liedern der Liebe (1778) zeigen sich durchaus verschiedene Strategien der Übertragung, Aktualisierung und Anpassung: Die Wertheimer Bibel 'übersetzt' die Wörter der Bibel in die Sprache der kritischen Vernunft, Michaelis will popularisieren, nutzt aber die Historisierung auch zur Apologetik gegen etwa deistische Kritik, und Herder zerlegt den Text kritisch, um ihn poetisch lesen zu können und den Leser zu erreichen. Indem die verschiedenen Kommentare dabei auch ihre eigenen Spannungen und Paradoxien ausstellen - etwa, indem sie ihrerseits weitere Kommentare fordern oder sich unlösbare Aufgaben stellen -, wird deutlich, wie schwer auf einen Nenner zu bringen der Übergang zur Moderne ist.
Projektemacher
(2016)
Projekte sind Versprechen auf die Zukunft. Wie eine Wette oder komplizierte Finanzprodukte arbeiten sie in einem Modus Operandi, der vorzugsweise dem Noch- Nicht, dem Als-Ob oder dem Könnte-Sein verpflichtet ist. Entworfen, initiiert und angepriesen werden Projekte heutzutage häufig von allgemein als 'Team' bezeichneten Gruppen oder einzelnen Personen, die sich sodann nicht ohne Stolz 'Unternehmer' oder 'Berater', 'Entrepreneur' oder 'Visionär' nennen. Bereits im 17. Jahrhundert war allerdings ein derartiger Typus von planvoller Zukunftsgestaltung bekannt, wobei man hier für die treibende Kraft des Vorhabens den Begriff 'Projektemacher' prägte. Im Folgenden geht es um die Heraufkunft und Entwicklung dieser Figur. Zunächst gilt es jedoch, den Gegenstand ihres Handelns, das Projekt, etwas näher zu beleuchten.
Although the first travels to America were largely motivated by material interests, the news about native peoples published in Europe by the travellers little by little influenced a conception of the world, which was still dominated by medieval traditions. In general, the experience of the alien was still described in the forms of the own, but gradually the empirical knowledge began to structure a new discourse. The author analyses the earliest books on voyages to Brazil in the middle of the l6th century by Hans Staden, Jean de Léry and André Thevet. He observes how they develop discursive orders of their own, trying to deal with strange phenomena. They mark a first step for Western thought in the process of creating a space for the alien, who really exists – in this case on the coast of Brazil.
Den Traditionsbruch der Rhetorik im 18. Jahrhundert und die Verlagerung ihrer Wissensbestände in andere Disziplinen hat die jüngere Forschung detailliert untersucht. Was das Verhältnis der Rhetorik zu Theologie und Religion betrifft, so konzentrieren sich die Darstellungen häufig auf die Feststellung, der Pietismus habe die Lehre von den Affekten (vom movere und delectare) isoliert, was, verkürzt gesagt, die Entstehung sowohl der Ästhetik wie der Erfahrungsseelenkunde beförderte. Dagegen gelte für die der Ironie verwandten, in den Poetiken, Politik- und Klugheitslehren verwendeten technischen Termini der Simulation (Vorspiegelung des Falschen) und Dissimulation (Verbergung des Wahren), dass sie durch die Codes der Aufklärung (Mensch-Schauspieler, Natürlichkeit-Künstlichkeit, Innerlichkeit-Äußerlichkeit) ihre Selbstverständlichkeit als Mittel der Selbstdarstellung und Selbsterhaltung verloren hätten. Als probates Mittel der höfischen und Ständegesellschaft seien Methoden der Vortäuschung und Verstellung moralisch und politisch desavouiert worden, da sie dem Ideal körpersprachlicher Unmittelbarkeit einerseits, rationaler Argumente und Überzeugungen, aufrichtiger moralischer Intention und einer Sprache unverzerrter Mitteilung andererseits widersprachen. Täuschung und Verstellung lebten in Folge der aufklärerischen Kritik vornehmlich in Theorien des Theaters weiter. In der Theologie dagegen fände das Ideal unverstellter Authentizität seinen Ausdruck zum Beispiel in Lavaters theologisch interessierter Physiognomie. Dem steht zunächst der Befund gegenüber, dass seit dem 18. Jahrhundert gerade in den zentralen Debatten um Religion und Theologie das Spiel mit Maskierungen und Demaskierungen, Verschleierungen und Entschleierungen, Verhüllungen und Enthüllungen (die tatsächlich auf das Theaterregister verweisen, aber zugleich literalisiert werden) ubiquitär ist.
Theory's engagement with language on the one hand, with literature's potential to generate knowledge that is theoretically relevant on the other, has a long history. One of its roots lies in the approach to culture and society developed by enlightenment anthropology and philosophy. In this paper Christian Moser intends to analyze the function attributed to language in eighteenth-century theories of the origin of culture and society. What we nowadays call 'cultural theory' is genealogically related to these early investigations into the constitution of human society. Social theories of the enlightenment first emerged in the contexts of a secularized universal history and the nascent discourses of anthropology and the philosophy of history. They often took the form of a 'conjectural history': speculations about the origin of society and its institutions; the origin of government, of law, and of social inequality; all of them linked systematically to the origin of language. While present-day cultural theory no longer harbours this obsession with origins, it still carries with it a rich legacy of enlightenment thought, not least its idea that social structure and linguistic structure are interconnected. Therefore it seems apposite to trace back current 'languages of theory' to eighteenth-century 'theories of language' and their interplay with 'theories of society.'