CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Refine
Year of publication
- 2016 (3) (remove)
Document Type
- Part of a Book (3)
Language
- German (3)
Has Fulltext
- yes (3)
Is part of the Bibliography
- no (3)
Keywords
- Literaturarchiv (3) (remove)
Die Machtergreifung der Bolschewiki 1917 führte zu einer jahrzehntelangen tiefen Spaltung der russischen Literatur und Kultur, viele Vertreter von Literatur und Kunst verließen das Land oder wurden in die Emigration getrieben. Epochen- und Biographiebrüche, Kriege, Terror- und Gewaltexzesse hatten zur Folge, dass zahlreiche literarische Archive und persönliche Sammlungen geplündert, vernichtet, in alle Winde verstreut wurden oder gänzlich verloren gegangen sind. Die rigide ideologische Kontrolle, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht vorrangig für das gedruckte Wort galt, betraf zunehmend auch jegliches unveröffentlichtes literarisches Wort. Jegliche schriftliche Äußerung einer eigenen Weltsicht kam in dieser Kultursituation einem Wagnis gleich. Das Aufbewahren unveröffentlichter Manuskripte in einem privaten, mitunter (insbesondere in den Jahren des Terrors unter Stalin) aber auch in einem staatlichen Archiv, konnte lebensbedrohlich sein.
Johann Wolfgang Goethe ist für die Beschäftigung mit Fragen des Archivs nicht nur ein symptomatischer oder beispielhafter, sondern ein beispielgebender Autor. Er besetzt eine wichtige Funktionsstelle in der Koppelung moderner Autorschaft ans Archiv. Genauer gesagt, steht er wie wohl kein anderer Schriftsteller – jedenfalls in der deutschen Literaturgeschichte – für die Selbstinstitutionalisierung von Autorschaft durch eine bestimmte Art der Selbstarchivierung, die man, im Anschluss an den von Steffen Martus geprägten Terminus der Werkpolitik, als Archivpolitik bezeichnen könnte. Vor allem die epochale Erkenntnis des alt gewordenen Goethe, "sich selbst historisch" zu werden, führte zu archivarischen Maßnahmen größeren Stils, die ihrerseits jene Erkenntnis immer weiter beförderten. Das so entstehende Spät- oder Alterswerk ist nicht einfach nur die Summe der relativ spät verfassten Texte dieses Autors, vielmehr liegt seine Spezifik im Altern des Werks selbst. So erklärt sich zum einen die Emphase, mit der Goethe sein Lebenswerk, sein Leben im Werk und sein Leben als Werk, konzipierte, zum anderen die große Aufmerksamkeit, die er auf die Sortierung seiner Schriften, Notizen, Bilder und Objekte, auf die Materialität seiner Produktion insgesamt wendete.
Der Untertitel meines Textes spielt offensichtlich mit einer Phrase Martin Heideggers, die häufig verkürzt wie eine simple sprachliche Gleichung formuliert wird: Herkunft = Zukunft. Der "Primat der Zukunft", die Akzentuierung des herzustellenden Werks, welche die Vergangenheit der kommenden Zeit unterwirft, ist eine rhetorische und epistemische Figur, die ich einerseits aus spezifisch medienarchäologischer Sicht kommentieren, anderseits mit einem Erweiterungsangebot bedenken möchte, das auf aktuelle kulturtechnische Sachverhalte reagiert. Die Unterwerfung des gerade Vergangenen unter die Anforderungen des Künftigen als eine Geste gleichsam ökologischer Verkoppelung. Kulturproduktion im Energiesparmodus: Die Avantgarde – wenn man diesen Begriff noch verwenden darf – wird durch die Nutzbarmachung und schöpferische Neuinterpretation der vergangenen Gegenwarten brisant und mitunter brillant, wenn sie den Transformationsprozess in ästhetisch überzeugender Manier zu schaffen in der Lage ist. Ich diskutiere das Thema in vier Abschnitten: zwei Hinführungen über einen Umweg, einem exemplarischen Mittelteil und einer vorsichtig verallgemeinernden Bewegung als Ausgang, die keinesfalls als letztes Wort in unserem Kontext begriffen werden möchte, sondern als Beginn einer Diskussion.