CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Let's call it Nachbarschaft
(2024)
Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8 neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.
Für Jorge Luis Borges ist die Bibliothek Ort unermesslichen Wissens und Metapher für die Unendlichkeit. Umberto Eco beschreibt sie in "Der Name der Rose" als einen Raum voller Kräfte, als Schatzhaus voller Geheimnisse. Mögen sich die Bibliotheken über die Jahrhunderte auch einen Teil dieses Zaubers bewahrt haben, sind sie heute mehr denn je moderne Informationseinrichtungen in einer digitalen Gesellschaft. Vor allem in großen wissenschaftlichen Bibliotheken ist dieser Wandel spürbar; als Dienstleistungsunternehmen ist ihre Atmosphäre von Betriebsamkeit und Anonymität geprägt. Kleinere Institutsbibliotheken hingegen haben sich stärker einen Teil des Magischen bewahren können. In gewisser Weise verfügen sie über eine besondere Atmosphäre, einen "spirit", geformt von dem Ort selbst und den dort anwesenden Menschen. Auch in der Bibliothek des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) liegt ein ganz besonderer Bücherduft in der Luft, in dem die Zeit konserviert scheint. Die Geschichte dieser Bibliothek ist geprägt von etlichen Brüchen und Umbrüchen und spiegelt damit, gleichsam als Gedächtnis ihrer wechselnden Trägereinrichtungen, nicht zuletzt auch deutsch-deutsche Geschichte wider.
Bibliotheken nach Babel
(2008)
7. Symposium des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München Kloster Seeon, 8. bis 9. Juli 2006
Nicht nur in Borges' Erzählung 'La Biblioteca de Babel' (1941) und Ecos Roman 'Il nome de la rosa' (1980) bildet die Bibliothek einen besonderen ästhetischen Reflexionsraum in der Literatur. Als Ort der Ordnung und der Unordnung, der Wahrheit und der Fiktion, des Wissens und der Inspiration wird sie in Beiträgen des Symposiums beleuchtet. Dessen Titel "Bibliotheken nach Babel" verweist sowohl auf fiktive Bibliotheken in der Nachfolge derjenigen aus der Feder von Borges als auch auf reale, die eingerichtet wurden, um Ordnung ins Chaos ungeordneten Wissens zu bringen und somit für historisch geprägte Wissensordnungen stehen.
Historische Adelsbibliotheken sind unschätzbare Geschichtsquellen. Überliefern die erhaltenen Adelsarchive überwiegend Dokumente, die sich einerseits auf Herrschaftsverhältnisse und Grundbesitz und andererseits auf "Familiensachen" beziehen, aus denen die verwandtschaftliche Verflechtung der adligen Häuser hervorgeht, so werfen die Adelsbibliotheken in ganz besonderer Weise Licht auf die Kultur-, Bildungs- und Sozialgeschichte des Adels seit dem ausgehenden Mittelalter.
Mit der Einführung von dampfkraftbetriebenen Transportmitteln für die Personenbeförderung und dem zügigen Ausbau des Eisenbahnnetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der internationale Buchmarkt auf dem Sektor der Reiselektüre einen enormen Aufschwung. Der Griff zur Lektüre galt dem Reisenden als sinnvoller Zeitvertreib im Eisenbahnabteil, denn die Fahrzeit selbst wurde vielfach als langweilig empfunden. Die soziale Praxis des Lesens in der Eisenbahn war stark abhängig von außerliterarischen Faktoren, u.a. der Abteilgestaltung, der Reisegeschwindigkeit und des Reisekomforts. Die für Europa typische Sitzanordnung in den Abteilen der ersten und zweiten Klasse, die der Postkutsche nachempfunden war, zwang die Reisenden, deren Zusammensetzung an jeder Station wechseln konnte, zu einem andauernden Blickkontakt. Dieses vis-à-vis-Verhältnis empfanden viele Passagiere als unerträglich, ja peinlich. Herrschte in der Postkutsche noch eine rege Kommunikation, wurden die Passagiere für mehrere Tage auf eine aufeinander angewiesene Gemeinschaft eingeschworen, beendete die Eisenbahn die Reiseunterhaltung. Mit der Zunahme der Reisegeschwindigkeit seit den 1870er und 1880er Jahren gewöhnte sich der Reisende allmählich an das neue Transportmittel und auch der Blick aus dem Abteilfenster verlor an Attraktivität, zumal die zunehmende Geschwindigkeit der Eisenbahn nur noch eine impressionistische Wahrnehmung der vorbeiziehenden Landschaft erlaubte. Der Reisende wandte sich jetzt vermehrt einer imaginären Ersatzland-schaft, der Lektüre, zu. Die Reiselektüre etablierte sich als probates Mittel gegen Reiselangeweile. Mit der Einführung des Durchgangswagens und der Verbesserung des Reisekomforts – z.B. wurde die Beleuchtung der Abteile, eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Lektüre, durch eine Gasinstallation gewährleistet – nahm Lesen während der Eisenbahnfahrt jetzt ein geradezu epidemisches Ausmaß an.
Beschaffen, Sammeln und Aufbewahren von geheimen Manuskripten und Büchern erforderten eine professionelle Kommunikation und risikobewusstes Agieren aller Beteiligten im Verborgenen. Daher gilt ein erstes Augenmerk der Aufhellung der vorhandenen Infrastruktur für die Installation von verborgenen Kommunikations- und Distributionssystemen und deren zunehmender Kommerzialisierung im 18. Jahrhundert. Befördert wurde der Kommerzialisierungsprozess durch die nüchterne Erkenntnis der Verfolgungsbehörden, die Zirkulation und Rezeption von Geheimliteratur nicht wirkungsvoll unterbinden zu können. Die Ineffizienz der Literaturkontrolle entfachte in Deutschland nicht zuletzt eine bis in das ausge-hende 18. Jahrhundert andauernde Kontroverse über eine kontrollierte Freigabe von heterodoxen Diskursen. Daher empfanden die Konsumenten dieser Art Literatur auch kein Unrechtsbewusstsein, sahen sie im Umgang mit „gefährlichen“ Texten ein Privileg der akademischen Elite, der sich Gelehrte, Sammler und Bibliophile zugehörig fühlten.