CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Die Biopolitik ist in den letzten Jahrzehnten zu einem grundlegenden Studienbereich für das Verständnis unserer politischen Modernität und zu einem wertvollen Instrument für die Analyse von literarischen Texten geworden. In der aktuellen Literatur zu Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel" (1959) findet man jedoch keine ausführliche Studie, die eine biopolitische Perspektive als hermeneutische Annäherungsmethode einnimmt. Eine Analyse von "Die Blechtrommel" vor dem theoretischen Rahmen der Biopolitik ist aber für eine umfassende Lektüre des Textes notwendig, wie im Folgenden belegt wird. [...] Um sich der nationalsozialistischen Biopolitik zu widersetzen und bürgerliche Rationalitätsparadigmen zu untergraben, lässt Grass verschiedene Facetten der Populärkultur (insbesondere Volks- und Kunstmärchen), die der Nationalsozialismus entweder unterdrückte oder für seine Ideologie manipulierte, wieder aufleben. Strukturell und inhaltlich verbindet Grass' Roman die Verfolgung 'entarteter' Kunst mit der Verfolgung und Ausrottung 'entarteter' Menschen, für die der verfolgte Zwerg Oskar zur zentralen Metapher und Stimme wird. Der groteske Körper Oskars bildet in seinem Überleben und subversiven Praktiken gegen die diktatorische Autorität einen alternativen Diskurs gegen NS-Körperideale, die vor allem von Rezeptionen der klassischen Kunst beeinflusst waren. Durch eine Reihe intertextueller Bezüge zur Märchen-Tradition und seine Ästhetik des Grotesken erschafft der Roman eine irrationale Gegenkultur, die sich dem zerstörenden Rationalismus der Nazi-Biopolitik und der Kontinuität dieses Eugenik Gedankens im Nachkriegsdeutschland entgegenstellt, wobei gleichzeitig die Absurdität der Stunde Null entlarvt wird.
Wie bei kaum einem anderen deutschsprachigen Schriftsteller nach 1945 haben Grass' Werke bei Erscheinen regelmäßig Debatten und Skandale provoziert. Neben dem Bild eines notorischen, auf große Wirkung bedachten Tabubrechers hinterließen sie Unklarheit darüber, was genau sie über den Autor, sein Verständnis von Literatur und die Form seiner Werke aussagen. Nicht einmal das jeweils Anstößige blieb nachhaltig anstößig oder verständlich. Wurden etwa der Blechtrommel bei Erscheinen intolerable Obszönität oder "pornographische Exzesse" nachgesagt, so gehört der Roman mittlerweile zu den anerkannten Klassikern der Moderne und das vermeintlich Obszöne zu den etablierten Momenten literarischer Darstellung. Andere Streitfälle wanderten ab ins Reich biographischer Anekdoten, etwa die Empörung über den 'Ein weites Feld' zerreißenden Großkritiker auf dem Cover des Spiegel. Und auch die jüngeren Skandale um Grass' Dienst bei der Waffen-SS4 oder sein israelpolitisches Gedicht werden wohl nur als rezeptionsgeschichtliche Randnotizen überdauern.
Die Umwertung von einst Skandalösem in literarische Konformität oder biographische Kuriosität gehört zu den üblichen Prozessen der Historisierung ästhetischer Wirkung: Aus den Provokationen von gestern werden nicht selten die Vorurteile von morgen, aus evidenter Akutmoral erklärungsbedürftige Zeitgeschichte. Man hätte also gute Gründe, Grass' literarische Texte gegen ihre skandalöse Wirkung in Schutz zu nehmen, doch bei einem Schriftsteller, dessen Werk fest mit seinem Auftreten als öffentliche Person und steter politischer Dreinrede verbunden war, sind die Folgen seiner Historisierung schwer absehbar: Muss mit der provozierenden Kraft der Werke nicht auch ihr ästhetischer Reiz oder das Interesse an ihnen verloren gehen? Grass wäre nicht der erste Autor, der trotz einer starken Wirkung auf Zeitgenossen posthum in Vergessenheit geriete.
Im Krebsgang ist eine Erzählung, die einem widerstrebenden Erzähler abgenötigt wird. Paul Pokriefke ist ein mittelmäßiger Journalist, der der für eine Biographie nicht unwichtigen Frage nach den Umständen seiner Geburt ausweicht, indem er sich von jeher strikt geweigert hat, über die damit zusammenhängenden schrecklichen Ereignisse zu reden, bis ihn ein alter Schriftsteller zwingt, sein Schweigen zu brechen. In der Nacht des 30. Januar 1945 befand sich die hochschwangere Tulla Pokriefke auf der "Wilhelm Gustloff", dem Schiff, das Gotenhafen (heute Gdynia) mit 10.000 Flüchtlingen verlassen hatte und kurz darauf von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde und versank. Paul wurde während der Versenkung geboren und geborgen, die so viele Menschen - darunter 4.000 Kinder - das Leben kostete.
Um sein langes Schweigen zu begründen, beruft sich Paul auf seine alles andere als erfreuliche Jugend, über die die Stimme der Mutter einen langen, bedrückenden Schatten wirft. In Tullas Augen gehört die Versenkung des Schiffes nicht in die Vergangenheit, sondern in eine ewige Gegenwart, die seit Pauls verhängnisvollem Geburtstag andauert. Ihr damals weiß gewordenes Haar ist das deutliche Zeichen eines nie überwundenen Traumas, welches die Zeit zum Stillstand gebracht hat.