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Überleben
(2016)
Der Begriff des Überlebens hat im 20. Jahrhundert eine steile Karriere erlebt, die es rechtfertigt, von ihm als einem neuen geschichtlichen Grundbegriff zu sprechen. Eine besondere Auffälligkeit ist dabei die Veränderung des Zeitsinns dieser Kategorie, die nicht mehr nur retrospektiv, sondern zunehmend auch prospektiv in Form der Antizipation drohender Gefahren verwendet wird. Der sachliche Grund für diese semantische Innovation liegt in der – im Zusammenhang mit neuen Formen politischer Herrschaft und technologischer Entwicklungen gemachten – Entdeckung von Neben- und Spätfolgen, die über den Horizont der Gegenwart hinausreichen. Die Futurisierung des Überlebensbegriffs zeigt ebenso wie das neue Schlagwort der 'Überlebensgesellschaft' an, dass am Eingang in die Spätmoderne das Verhältnis von Mensch und Natur, Vergangenheit und Zukunft, gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern grundsätzlich prekär geworden ist.
In der von Adorno häufig gebrauchten Periodisierung 'Nach Auschwitz' artikuliert sich das Bewusstsein einer historischen Zäsur, die zu einer Revision der überkommenen Grundbegriff e und kulturellen Leitvorstellungen nötigt. Die Tiefe des zivilisatorischen Einschnitts lässt sich daran ermessen, dass er sogar die vermeintlich unverrückbare Relation von Leben und Tod fundamental verändert hat. Im Folgenden möchte ich verschiedene Formen der Zerrüttung dieser Relation durch den Nationalsozialismus untersuchen. Ich thematisiere das nationalsozialistische Programm der Vernichtung durch Arbeit, den Umgang der Nazis mit den Körpern der Ermordeten, die Gestalt des Muselmanns, die medizinischen Menschenversuche der Nazis sowie die Spätfolgen und Nachwirkungen der Konzentrations- und Vernichtungslager. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen eines Aufsatzes keines dieser Themen auch nur annähernd detailliert ausgeführt werden kann. Ein Ziel meiner Ausführungen liegt in der Analyse verschiedener Formen und in der Darstellung der spezifischen Charakteristika und Folgewirkungen der Formen, in denen die Nazis traditionelle Bestimmungen des Verhältnisses von Leben und Tod verändert oder zerstört haben.
Ausgehend von Šalamovs Poetik und mit Blick auf die Positionen von Solženicyn und Semprún sollen im Folgenden einige Aspekte des vielschichtigen Problemfeldes 'Überleben und Schreiben' diskutiert werden. Dabei geht es mir, das sei betont, nicht um einen Vergleich zwischen dem sowjetischen GULag und den nationalsozialistischen Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern. Ein solcher Vergleich war auch von keinem der drei Autoren intendiert, selbst wenn sich deren Refl exionen mitunter auch auf die europäischen Terrorpraktiken des 20. Jahrhunderts insgesamt erstreckten. Die Art und Weise, wie das Überleben in literarischen Texten thematisiert wird, hängt eng mit der Frage nach den poetologischen Konsequenzen zusammen, nach Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens über das Erlebte, nach der Modellierung des Lagers in fiktionalen Räumen. Mit Ausnahme von Solženicyns 'Archipel GULAG', in dem gestützt auf zahlreiche mündliche und schriftliche Berichte von Überlebenden der "Versuch einer künstlerischen Untersuchung" des GULag-Systems als Ganzes unternommen wird, handelt es sich bei den nachfolgenden Beispielen um literarische Darstellungen des Lagers aus der Perspektive eines Einzelnen. Die literarische Rekonstruktion des im Lager Erlebten verlangte jedem Schreibenden ethische und ästhetische Entscheidungen ab.
Vielfältig sind die Definitionen, die das Überlebensparadigma im Sinne eines die Weltsicht prägenden Denkmusters zu erfassen versuchen, und verschieden sind die Aspekte, die der Betrachter in seiner Auffassung jeweils als die dominierenden pointiert. Nichtsdestoweniger wurzelt das moderne Verständnis vom 'Überleben' zuletzt im evolutionistischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem evolutionistischen Diskurs sind nicht bloß Darwins Werke zu verstehen, sondern vielmehr die Konstellation von Autoren, Diskursen, Berichtigungen, Anregungen, Ergänzungen, die sich um Darwins Evolutionstheorie drehen und die den Namen Darwinismus tragen. Anders ausgedrückt: Unsere Auffassung des Überlebensbegriffs ist in diesem Diskurs verfangen und kann von ihm nicht restlos loskommen. Dies gewinnt an höchster Evidenz in den Reflexionen über das Überleben von kulturellen Artefakten, die in Analogie zu den Exemplaren bestehender Spezies als Resultat einer 'natürlichen' Auslese gedeutet werden. Unter den unzähligen Beispielen einer Übertragung des Auslesegesetzes von der biologischen auf die kulturelle Evolution mag hier die Reflexion von Hans Blumenberg vorgeführt werden, denn sie bietet viel mehr als eines der rein evolutionistischen Modelle, die eine Erläuterung des kulturellen Überlebens präsentieren. Kein weiterer Autor hat meines Erachtens in der Nachkriegszeit solch einen anspruchsvollen Versuch unternommen, das Darwinsche Evolutionsgesetz jenseits der Fehlschlüsse des Sozialdarwinismus wiederherzustellen und es für die kulturelle beziehungsweise ästhetische Anthropologie fruchtbar zu machen. Des Weiteren erzielte Blumenberg mit seiner theoretischen Berichtigung zuletzt die Beschreibung eines humaneren Modells der kulturellen Produktion, dessen ethische Dimension im Folgenden auszuloten ist. Das Heranziehen einiger Betrachtungen über Primo Levis narrative Erfahrung dient anschließend dazu, die ethische Grundproblematik herauszudestillieren, die das Verbleiben in diesem - obschon korrigierten - Überlebensparadigma in Hinblick auf das historische Gedächtnis impliziert.