CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Seit Jacob Burckhardts Thesen zum Individualismus in der Renaissance gilt das 'Selbst' als eine eingehend diskutierte Größe, die ungeachtet ihrer diversen Erscheinungsformen nicht nur als das bündige Kennzeichen einer Schwellenzeit, sondern geradezu als ihr alleiniges Produkt angesehen wurde: die Epoche zwischen Spätmittelalter und Aufklärung steht schlichtweg für den 'Ursprung' der modernen Individualität. [...] Dem wohl prominentesten oratorischen Initiator, der explizit für eine 'reformatio mundi' steht, widerfuhr seitens der historiographischen Nachwelt bezeichnenderweise beides, eine ergebene Verklärung als Führergestalt sowie die Apotheose im prometheischen Schema: Martin Luther gilt bis heute nicht nur als 'Rebell' oder 'Revolutionär', sondern vor allem auch als 'Schöpfer der deutschen Schriftsprache'. Spätestens hier gilt es zu differenzieren. Gerade die Person des Wittenberger Gelehrten, Predigers und Seelsorgers gibt Anlass zur sorgsamen Klärung eines frühneuzeitlichen Selbst-Bewusstseins. Das Selbst-Verständnis des Augustinermönchs gründet zunächst ausschließlich in theologischen Traditionen und ist daher vor allem mit Komposita wie 'Selbsterforschung', 'Selbstgespräch' ('soliloquium') und 'Selbsterkenntnis' ('cognitio sui') in Verbindung zu bringen. Diese Kategorien aber sind primär und unlösbar an die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen gekoppelt [...] Und dennoch - in diesem der Moderne eher fremd anmutenden Katalog der genannten Komposita begegnet tatsächlich auch die 'SelbstÜbersetzung': als Praxis und Phänomen wie in Form erhellender Paraphrasierungen. Voraussetzung für die Praxis scheint zunächst ein Geschehen auf der machtpolitischen Ebene zu sein. Mit dem Rückgang der von Papst und Kaiser getragenen Universalherrschaft im westlichen Europa, mit dem Schwinden eines nachantiken Herrschaftsanspruchs ('translatio imperii') im Sinne des mittelalterlichen römischen Reichsgedankens ist gleichermaßen auch der rasch fortschreitende Rückgang des Lateinischen als flächendeckende Gelehrten- und Verwaltungssprache eingeleitet. Indem nun die einzelnen regionalen Teilherrschaften nach politischer Autonomie streben, erhält auch die polyphone Sprachkultur Europas einen neuen Stellenwert: weitgehend noch pränationale, also eher territoriale Interessenkollektive verlegen sich auf die Regelung ihrer Angelegenheiten im eigenen Idiom. Dieses kann damit aus dem Schattendasein eines als 'laienhaft' und 'illiterat' verachteten Ungenügens heraustreten und sich als vollgültiges Pendant der antiken Vorgaben erweisen. [...] Ein zweites Novum tritt zeitgleich hinzu. Zwecks parteigebundener Regelung der lokalen und bald auch der bi- oder multilateralen Angelegenheiten erhalten die antiken Vorgaben der Redekunst eine neue und sehr zentrale Funktion: das vor Ort im Sinne bestimmter Interessen auftretende Einzel- oder Kollektivsubjekt (Territorialgewalt) artikuliert sich sprachlich-persuasiv, vertritt einen lokalen Standpunkt ('opinio' / 'point de vue') und versucht seine Zuhörer durch Überzeugung zu einem politisch wirksamen Handeln zu bewegen. Hierfür dient der Autortext, ebenso aber auch seine zweckgerichtete Übersetzung. In dieser konkretisiert sich ein Subjekt nicht nur als Mittler zwischen Parteien, Ständen und Interessen, sondern auch zwischen Sprachen und Kulturen.
Lutherstil
(2022)
Wie Stil und Rhetorik in einem einzelnen Autor mit- und gegeneinander wirken können, zeigt Barbara N. Nagels Analyse der Texte Martin Luthers, dessen Stil die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache bekanntlich geradewegs bedingt haben soll. In engem Kontakt mit der jüngeren Lutherforschung arbeitet Nagel auf originelle Weise den antirhetorischen Affekt heraus, der Luthers Bibelstil, seinen deutschen Stil und den Disputationsstil grundiert. Was immer im Ausgang von Luther seit Buffons bekanntem Diktum und bis Nietzsche vom Stil behauptet worden ist, für Luther selbst war Stil Lüge und deshalb jüdisch konnotiert (und aus diesem Grund für ihn problematisch). Was heute 'hate speech' heißt und schon damals nicht auf das Reden beschränkt blieb, hat einen seiner Ursprünge in Luther.
Ich spreche im Folgenden über ein Thema, das 'Hermeneutik nach Luther' heißen soll. Als Hermeneutik verstehe ich dabei im Anschluss an Friedrich Schleiermacher - also im Anschluss an einen protestantischen Theologen, der seine eigene Hermeneutikkonzeption vorwiegend mit Bezug auf die Auslegung des Neuen Testamentes entwickelt hat, das heißt in einem dezidiert christlichen und zugleich mehrfachen, noch näher zu klärenden nach-Luther'schen Sinn - die "Kunst des Verstehens". Die Bestimmung verdeutlicht, dass das Verstehen nichts Selbstverständliches ist. Verstehen versteht sich nicht von selbst. Es muss selbst verstanden werden. Hermeneutik bezeichnet nach diesem Verständnis eine Aufgabe, und zwar, wie Schleiermacher zu betonen nicht müde wird, eine niemals abgeschlossene, immer weiter fortzusetzende Aufgabe.
Vom Schriftexegeten, Kirchenlehrer und wahren Propheten respektive Apostel im 16. und 17. Jahrhundert, der mit Gotteshilfe Übermenschliches geleistet habe, über den Befreier der Vernunft und des Gewissens in der Aufklärung bis hin zum Nationalhelden, Heroen der deutschen Kultur und Vorbild bürgerlicher Lebensführung im 19. Jahrhundert - dies sind nur wenige Haupttransformationen, denen Luther im Laufe der Geschichte unterworfen wurde und an deren Vollzug sowie Tradierung die bildende Kunst entscheidend beteiligt war. Die Tatsache, dass sich jede Epoche, ja jede Generation "ihren eigenen Luther schuf", wurde zusammen mit der Heterogenität dieser zeitgebundenen Konstrukte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als ein gravierendes Forschungsproblem erkannt, das den deutschen Theologen und Kirchenhistoriker Heinrich Böhmer 1906 dazu veranlasste, ernüchtert festzustellen, dass es "so viele Luthers gibt, als es Lutherbücher gibt". In seiner herausragenden Studie zu Lucas Cranachs Bildnissen des Reformators von 1984 zeigte jedoch der Kunsthistoriker Martin Warnke, dass es bereits zu Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tod des Wittenberger Theologen 1546 vor allem so viele Luthers gab, als es Lutherbilder gab. Cranach, der Hofmaler des sächsischen Kurfürsten, schuf mit den auffällig in ihrer Ikonografie variierenden und für die breite Öffentlichkeit bestimmten druckgraphischen Portraits ein wirkmächtiges "Image" des Reformators, das zum fundamentalen Bestandteil der protestantischen Publikationspolitik wurde und dabei zugleich gerade durch seine Mannigfaltigkeit eine mediale Angriffsfläche für das katholische Lager bot. Die Werke Cranachs, in denen das offizielle Bildnis des Theologen gleichsam generiert und autorisiert wurde, weisen differenzierte künstlerische Strategien der Sakralisierung und Heroisierung auf, welche von der Mehrzahl der etwa fünfhundert zeitgenössischen (Rollen-)Portraits Luthers kontinuierlich rezipiert und innovativ uminterpretiert wurden. Sie feiern den Wittenberger Bibelprofessor nicht nur als omnipräsenten und omnipotenten Gottesmann, sondern verklären ihn zur universellen Verkörperung der Reformation, zum personalisierten Sinnbild der neuen Theologie. Der Genese, den Facetten sowie der zeitgenössischen Rezeption dieses Phänomens in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts möchte der vorliegende Text anhand der exemplarischen Analyse ausgewählter Bildnisse des Reformators nachgehen.
Luther war nicht nur zu Lebzeiten, sondern weit über seinen Tod hinaus eine Instanz, die wie wenige andere Kirchenleute nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern umfassend als moralische, gesellschaftliche, politische und nationale Instanz galt. Anknüpfend an diese immense Bedeutung Luthers für die deutsche Kulturgeschichte, soll im vorliegenden Aufsatz die Geschichte dieser dezidiert deutschen Heroisierung bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden. [...] Um diesen Prozess historisch zu begreifen, ist es zunächst erforderlich bis zu Luthers Selbststilisierungen und bis zu den Anfängen der Lutherverehrung zurückzugehen, um eine Genealogie des Heros Luther zu entwickeln. Nach einigen einleitenden Überlegungen dazu (1.) wird es (2.) am Beispiel des Reformationsjubiläums 1617 um die Frage gehen, wie kulturelle Heroisierung kulturelle Anti-Heroisierung und damit Parteilichkeitsbildung bedingen kann. Im Anschluss (3.) wird die Frage erörtert, wie durch gezieltes Anknüpfen an bestimmte Momente der Reformation auf dem Wartburgfest 1817 versucht wurde, der Parteibildung der freiheitlich-nationalen Bewegung in Deutschland eine kulturelle Dimension zu geben. Schließlich wird (4.) nach der Gegenwart und Zukunft des Heros Luther gefragt. Da die Deutung Luthers als Heros, wie wir sehen werden, eng einherging mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins in Deutschland, steht zu vermuten, dass der Heros Luther in den letzten Jahrzehnten ins Wanken geraten ist. Ob dem so ist oder ob das heroische Konzept fortbesteht, wird dabei und den Beitrag abschließend ebenfalls zu erörtern sein.
Prodigien
(2016)
Gegenstand dieses Essays ist eine in der frühen Neuzeit weit verbreitete historische Kulturtechnik der Vorzeichendeutung, nämlich die Vorhersage der Zukunft aus Ereignissen oder Gegenständen, die nicht dem Lauf der Natur zu entsprechen scheinen. Der Oberbegriff für solche Abweichungen lautet zeitgenössisch Praesagium, oder, häufiger, Prodigium, das sich von dem Verbum defectivum 'aio', 'sagen', ableitet. Es geht demzufolge um im Gegenstand selbst befindliche Vorhersagen, die direkt oder indirekt auf Gott zurückgehen. Mit Prodigien werden meist ungewöhnliche Veränderungen im gestirnten Himmel bezeichnet, worunter z.B. das Auftauchen von Kometen oder Meteoren, aber auch Devianzen vom Lauf der Natur auf der Erde gehören, wobei unter Letzteren vor allem – und darum soll es hier besonders gehen – Monstren, also Missgeburten bei Tieren und Menschen, gefasst werden.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Lacans mit Blick auf Luther elaborierte Freudkritik. Aus Raumgründen wird auf eine Darstellung der Funktion verzichtet, die Lacan dann, mit Blick vor allem auf die Antigone des Sophokles, der Kunst zuweist. Kunst schafft Lacan zufolge zwischen uns und dem "Ding" die lebensnotwendige Distanz, womit der Kunst eine anthropologische Schlüsselrolle zufällt. Lacan erinnert an eine Einsicht, die bereits Erik H. Erikson in seiner frühen, von Lacan ignorierten Luther-Monographie formulierte: die Einsicht in die klandestin protestantische Dimension der Psychoanalyse.
This contribution was prompted by events in East Germany that ultimately led to German unification. Many forces contributed to the collapse of the GDR as a separate state, the final and most visible was the mass exodus via Hungary and Czechoslovakia. The Communist regime resisted change when change was taking place in most of East Germanys neighbors to the east and southeast. But an ever increasing number of increasingly restless citizens insisted on it and, not given a chance to change matters by improving the system, effected the most radical change of all: they swept away an unresponsive, cynical and calcified government.