CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Ende Januar 1980 machte sich die Westberliner Band Tangerine Dream auf in den Ostteil der Stadt. Ihr Ziel war der Palast der Republik, in dessen Großem Saal sie im Rahmen der Jugendkonzerte des Radiosenders DT 64 auftreten sollte. Die nach 1990 etablierte Erzählung dieser Episode der Popgeschichte lautet folgendermaßen: Die futuristischen Klänge Tangerine Dreams und die von ihnen vorgeführten technischen Möglichkeiten hätten die Zuschauer so sehr beeindruckt, dass einige von ihnen in der Folge selbst die Flucht aus dem realsozialistischen Alltag mittels elektronischer Musik erprobten. [...] Die Apostrophierung ihres Auftritts als deutschdeutsche Entwicklungshilfe, als Ermutigung zur träumerischen Flucht aus der popmusikalischen Randzone, trifft weniger die historischen Umstände, als dass sie ein hegemoniales Narrativ von der emanzipativen Kraft des Pop als geschichtlichem Prozess beschreibt, der sukzessiv zur Vollendung strebt. Kein Zweifel: Der Auftritt von Tangerine Dream in Ostberlin nimmt einen exponierten Platz in der deutschen Geschichte elektronischer Musik ein.[...] Nicht im Hinblick auf einen musikalisch verabreichten Eskapismus ist Tangerine Dreams Konzert in Ostberlin bedeutsam, sondern im Hinblick auf ein technisches Potential, das bei ihm zur Aufführung kam.
Für die Literaturwissenschaft bedeutet Historisierung inzwischen eine nahezu selbstverständliche Übung, wenn es um die Analyse von Diskursen und produktions- oder rezeptionsästhetischen Aspekten in Einzelwerken geht - bei literarischen Gattungen ist sie aber noch immer eine Herausforderung. Die Versuche, die Großgattungen Epik - Lyrik - Dramatik nicht als überzeitliche Grundformen der Dichtung, sondern als geschichtlich wandelbare Konstrukte zu beschreiben, haben nicht selten zum Verschwinden der Gegenstände geführt. [...] Das Drama ist besonders schwer zu historisieren, weil es einerseits eine Gattungstradition hat, die bis zu den Tragödien der griechischen Antike zurückreicht, es aber andererseits stärker als andere Gattungen permanent aktualisiert werden muss, nämlich auf der Bühne. Damit pendelt die Gattung zwischen dem Anspruch überzeitlicher Gültigkeit und einer Wandelbarkeit, die gleichermaßen die Möglichkeit der Historisierung infrage zu stellen scheinen.
Für Jorge Luis Borges ist die Bibliothek Ort unermesslichen Wissens und Metapher für die Unendlichkeit. Umberto Eco beschreibt sie in "Der Name der Rose" als einen Raum voller Kräfte, als Schatzhaus voller Geheimnisse. Mögen sich die Bibliotheken über die Jahrhunderte auch einen Teil dieses Zaubers bewahrt haben, sind sie heute mehr denn je moderne Informationseinrichtungen in einer digitalen Gesellschaft. Vor allem in großen wissenschaftlichen Bibliotheken ist dieser Wandel spürbar; als Dienstleistungsunternehmen ist ihre Atmosphäre von Betriebsamkeit und Anonymität geprägt. Kleinere Institutsbibliotheken hingegen haben sich stärker einen Teil des Magischen bewahren können. In gewisser Weise verfügen sie über eine besondere Atmosphäre, einen "spirit", geformt von dem Ort selbst und den dort anwesenden Menschen. Auch in der Bibliothek des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) liegt ein ganz besonderer Bücherduft in der Luft, in dem die Zeit konserviert scheint. Die Geschichte dieser Bibliothek ist geprägt von etlichen Brüchen und Umbrüchen und spiegelt damit, gleichsam als Gedächtnis ihrer wechselnden Trägereinrichtungen, nicht zuletzt auch deutsch-deutsche Geschichte wider.
Der Warschauer Künstler Karol Radziszewski gestaltet seit 2015 das Queer Archives Institute (QAI). Es ist bis Ende September 2019 im Schwulen Museum Berlin zu sehen und präsentiert Dokumente queeren, vor allem schwulen Lebens aus verschiedenen Ländern Osteuropas in der Spätzeit des Staatssozialismus und während der ersten Jahre nach dessen Untergang.
Die Absicht von Johannes Rohbecks Beitrag ist eine kritische Würdigung der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck. Dabei konzentriert sich Rohbeck auf Kosellecks Untersuchungen über die Historiographie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. [...] Zunächst beginnt Rohbeck mit den Verdiensten Kosellecks um die Geschichtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Da diese Leistung unbestritten ist, beschränkt er sich bei seiner Würdigung auf einige Hinweise. [...] Danach stellt Rohbeck einige begriffsgeschichtliche Behauptungen infrage; hier handelt es sich um philologische Korrekturen zu den Begriffen Fortschritt und Geschichte. Rohbeck zeigt außerdem, dass diese Korrekturen auf Kosellecks grundsätzliche Positionen verweisen. Sodann zielt seine Kritik auf allgemeine Einschätzungen zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Moderne, insbesondere auf die These von der 'Unverfügbarkeit der Geschichte'. Im Gegensatz zu Koselleck glaubt Rohbeck, dass es einige aktuelle und drängende Probleme gibt, die menschliches Handeln erfordern, um wenigstens teilweise in die Geschichte eingreifen zu können.
Heimat
(2019)
Heimat ist ein Begriff, der aktueller ist denn je. Die Süddeutsche Zeitung erklärte im April 2018: "Heimat ist der Debattenbegriff der Zeit." Im Kontext der weltweiten Migrationsbewegungen und der gleichzeitig erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen in Europa spielen 'Heimat' und verwandte Begriffe in den tagesaktuellen Diskussionen immer eine unterschwellige oder auch explizite Rolle: Vom Verlust der Heimat durch Krieg, Vertreibung oder wirtschaftliche Not über das 'Abendland' als konstruierte Heimat und die Angst vor ihrer Islamisierung bis hin zum seit 2018 um 'Heimat' erweiterten Namen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat - es existieren viele Auslegungen und Bedeutungszuschreibungen für diesen Begriff. All diese gegenwärtigen Semantiken von 'Heimat' haben eine Geschichte und einen historischen Ursprung, denen die Sprachwissenschaftlerin Andrea Bastian in ihrer hier von Martin Schlüter besprochenen Untersuchung (Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995) nachspürt.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Leistung
(2019)
Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Begriffe seiner Selbstbeschreibung hervorgebracht: Die 'Leistungsgesellschaft' ist eine dieser gängigen Selbstzuschreibungen, die sich im Kern auf einen Begriff zurückführen lassen: 'Leistung' erscheint auf den ersten Blick als klar zu fassen - wenn nicht sogar mathematisch-physikalisch präzise definiert als 'Arbeit pro Zeit'. Doch erschöpft sich das Bedeutungsspektrum des Leistungsbegriffs in dieser Formel? Was will eine Gesellschaft von sich aussagen, wenn sie sich als 'Leistungsgesellschaft' versteht? Jasmin Brötz geht im Folgenden auf Nina Verheyens populärwissenschaftliche Vorschau (Die Erfindung der Leistung, München 2018) auf ihr Habilitationsprojekt ein. [...] Grundlegende These des Buches ist, dass in der Gesellschaft Leistung gemeinhin als "individuelle Leistung" verstanden wird. Kollektive Anteile an einer Leistung, so Verheyen, werden dabei systematisch ausgeblendet. Die Autorin wirbt daher für ein "soziales Leistungsverständnis", das kollektive Aspekte von Leistung ebenso berücksichtigt, wie es ein Bewusstsein für das historisch gewachsene und wandelbare Konzept von Leistung entwickelt. Diesen eigenen normativen Anspruch verbindet sie mit einem konstruktivistischen Ansatz, indem sie die Zuschreibungen von Leistung dekonstruiert und darüber hinaus ganz im Sinne von Foucault Leistung als Mittel der Disziplinierung und Hierarchisierung hinterfragt.
Hegemonie
(2019)
Perry Andersons jüngstes Buch "Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs" ist ein Beleg für die internationale Konjunktur der Begriffsgeschichte und speziell für deren zunehmend globale Ausrichtung. Die Geschichte des Begriffs, die Anderson erzählt, berührt nämlich "acht oder neun verschiedene Nationalkulturen". Sie hat voneinander unabhängige Ursprünge, die in der griechischen Antike und in der noch älteren chinesischen Zhou-Dynastie liegen. Anderson hält fest, dass die lange und komplexe Bedeutungsgeschichte von 'Hegemonie' in den aktuellen Verwendungen zumeist ignoriert wird oder nicht mehr präsent ist; seine Überzeugung ist aber, dass wir diese Geschichte des Begriffs "verstehen müssen, um seine Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen". [...] Die Gegenwart spielt für die Begriffsgeschichte aber auch deshalb eine besondere Rolle, weil der Begriff Hegemonie ungeachtet seiner langen Geschichte erst in jüngerer Zeit eine allgemeinere Bedeutung erlangt hat; im englischen Sprachraum liegt der große Sprung in den 1990er Jahren, in Deutschland dürfte das ähnlich sein. In dem "maßgeblichen Kompendium 'Geschichtliche Grundbegriffe'" hat der Begriff jedenfalls, so Anderson, "signifikanterweise keinen Eintrag" erhalten . Die möglichen Gründe dafür, über die Anderson nicht spekuliert, bringt Falko Schmieder hier zur Sprache.
Innovation
(2019)
Der kanadische Wissenschaftshistoriker Benoît Godin legte im Jahre 2015 die erste umfassende Begriffsgeschichte von 'Innovation' vor, die sich im Wesentlichen auf englisch- und französischsprachige Quellen bezieht. Falko Schmieder beschäftigt sich nun mit der ersten begriffsgeschichtlichen Studie zur Verwendung von 'Innovation' im Deutschen, Susanna Webers "Innovation. Zur Begriffsgeschichte eines modernen Fahnenworts". Den aktuellen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung einer enormen Reichweite und Expansion des Begriffs in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen.
Editorial
(2019)
Diese Ausgabe des "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" dient der Vorbereitung eines auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikonprojekts zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik im 20. Jahrhundert. In theoretisch-methodischer Hinsicht knüpft es an die vielen Debatten zur Neuausrichtung der Begriffsgeschichte an, zu denen vor allem Zeithistoriker*innen wichtige Beiträge geliefert haben.
Wer die sogenannte Höhenkammliteratur auf die Schlüsselwörter 'Geld' (inkl. verwandter Begriffe wie Taler, Kreuzer, Schulden, Zins, Schatz etc.) und 'Medium / Medien' abtastet, muss mit Überraschungen rechnen. [...] Eigenartig ist es, dass weder früher noch heute, also in Zeiten der Hochkonjunktur von 'Medien', die Begriffe 'Geld' und 'Medium' eng aneinander gekoppelt sind. Wendungen wie 'das Medium Geld' wird man in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrhunderte nicht finden. Geld wird auch in gängigen Einführungen in Medienwissenschaft und Medientheorien nur selten ausdrücklich als Medium wahrgenommen und thematisiert - und dies, obwohl einflussreiche Theoretiker wie Georg Simmel, Marshal McLuhan und Niklas Luhmann Geld ausdrücklich und mit guten Gründen als mächtiges Medium verstanden haben. Dabei ist schon auf der phänomenologischen Ebene unverkennbar, dass Geld und Medien engstens aufeinander angewiesen sind. Geld muss medial erscheinen, um seine Geltung zu entfalten. Es funktioniert nur, wenn es beglaubigt wird, und muss sich dennoch oder deshalb systematische Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit gefallen lassen - wie andere Medien auch.
Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf "erstaunliche Parallelen" zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den "gegenwärtigen Entwicklungen". [...] Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht "um den Preis der Enthistorisierung" allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide.
The paper engages with the works of Thomas Kling (1957-2005) and elaborates on the specific incorporation of history in Klings poetics. Kling was both known for his wild style of lyrical performance as well as for his vast knowledge of history. Kling aptly puts the style of his lectures in the tradition of the "histrion", the actor in ancient Rome. The paper argues that the connection of history and the theatricality of the histrion becomes fundamental to his poetics. History is for Kling a material that combines linguistic, cultural and literary references that need a performative elaboration. The paper traces this constellation of performativity and history within Klings early poems and essays. It then turns towards a reading of his poems "Manhattan Mundraum" and "Manhattan Mundraum Zwei". In these poems Kling intertwines the performative aspects of his poetics with an inquiry into the history that has shaped the island of Manhattan and the language of its "Mundraum".
Editorial
(2020)
Diese Ausgabe des "Forums Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" vereint zwei Themenschwerpunkte, die, unabhängig voneinander entstanden, auch inhaltlich zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In drei englischsprachigen Beiträgen des ersten Teils geht es um die sich semantisch und in ihrer historischen Genese überlappenden Begriffe 'Energie', 'Entropie' und 'Anthropozän'. Der zweite Themenschwerpunkt behandelt begriffshistorische Verschiebungen im Theoriegebäude der Sprachwissenschaft. Die Ausgabe wird beschlossen durch den Politikwissenschaftler Kari Palonen (Universität Jyväskylä, Finnland), der einen Band zur Geschichte der politischen Ideengeschichte rezensiert.
Der Beitrag unternimmt einen Vergleich zweier Romane, die inhaltlich, erzähltechnisch und sprachlich eng miteinander verknüpft sind, obwohl ihre Entstehungszeiten etwa 50 Jahre auseinander liegen: Juan Rulfos "Pedro Páramo" und Yuri Herreras "Señales que precederán al fin del mundo". Beide Autoren lassen ihre Figuren aus einem Nicht-Ort oder einem "unsichtbaren Ort" (was die wörtliche Übersetzung von 'Hades' wäre) sprechen, aus dem Paradox des "Ich-bin-tot"-Sagens, und verweisen damit auf altmexikanische, altgriechische sowie mittelalterliche Unterweltreisen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass von dort niemand zurückkehren kann, dennoch ist es einigen mythologische Figuren gelungen, die Grenze zwischen Leben und Tod gewissermaßen kurzzeitig außer Kraft zu setzen: Orpheus, Odysseus, Herakles, Aeneas, Dante, bei den Mayas sind es Junajpu und Xbalanq'e, die im Ballspiel die Herren Xibalbas, der Unterwelt der Maya, besiegen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die eigentlich unerlaubte Wiederkehr bzw. Rückkehr hängt eng mit der Schau einer Vergangenheit zusammen, die zentral ist für ein Verständnis der regionalen/nationalen Gegenwart. Den Romanen Rulfos und Herreras ist eine inszenierte Abwärtsbewegung gemeinsam, der schrittweise Abstieg in eine politische Vergangenheit, die die Gegenwart der Protagonist*innen verstehen helfen soll. Beide Romane verbinden damit auch eine Suche nach einem abwesenden Familienmitglied. Zudem greift Herrera auf die besondere Erzählweise Rulfos zurück, die sich erst aus einem Sprechen aus dem Tod ergeben kann.
Wende
(2020)
Wer heute bezogen auf die deutsche Geschichte von 'der Wende' spricht, meint die im Herbst 1989 in der DDR beginnenden und mit deren Anschluss an die Bundesrepublik endenden politischen Umwälzungen. Zwar favorisieren damalige Akteure und manche Historiker dafür pathetischere Bezeichnungen wie 'Freiheitsrevolution' oder das vom damaligen Westberliner Bürgermeister Walter Momper am Tage nach der Maueröffnung geprägte, etwas sperrige Oxymoron 'friedliche Revolution'. Doch gerade die ostdeutsche Alltagssprache hat diese nie übernommen, vielleicht, weil im DDR-Sprachgebrauch 'Revolution' mit sozialem Fortschritt, mit etwas grundsätzlich Neuem verbunden war. Dass 'Wende' zur nahezu neutralen Bezeichnung dieser Prozesse werden würde, war zeitgenössisch keineswegs absehbar.
Vor allem in Deutschland ist die historische Perspektive spätestens seit Dilthey erste (akademische) Bürgerpflicht und Inbegriff von Geisteswissenschaftlichkeit überhaupt. Erfrischend und gründlicher provozierend ist deshalb der Blick in das Buch eines jungen Anglisten der Yale University, das auch in den USA, wo die Humanities von jeher nicht so eng an den Primat der Geschichte gekoppelt waren, für einige Aufregung gesorgt hat. Im Alleingang, abseits geläufiger Periodisierungen und Selbstbeschreibungen, hat Joseph North eine - eingestandenermaßen tendenziöse - Geschichte seines Fachs vorgelegt
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte der Geschichtsmetaphorik versteht sich als Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" die Metaphorik nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen Darstellungen herausgestellt und speziell an die verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschichtlicher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der Interpretationssprache nach und diskutiert damit verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen der von Koselleck der Geschichtsphilosophie zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie dem 'Crashkurs' oder dem 'Realexperiment') werden die historischen Grenzen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ausgelotet.
Im Beitrag werden zwei filmische Positionen zusammengeführt. In beiden finden sich Inszenierungen von Gemeinschaft und Prekarisierungen als ästhetische Aushandlungen einer Politisierung der Filmform. Während der schwedische Film "Folkbildningsterror" (2014) politische Zustände im Musical zur Disposition stellt, untersucht der US-amerikanische Thriller "The Owls" (2010) die Konsequenzen homophober Entwürfe lesbischer Figuren im Film, die bis in die aktuelle Filmgeschichte reichen.
"What makes a great magazine editor?", fragte der britische Literaturwissenschaftler Matthew Philpotts kürzlich in einem Essay für "Eurozine" und stellte eine Typologie von Herausgebertypen auf, die in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutende Rollen spielten. [...] Der Kanon der 'großen' verlegenden Männer legt den Gedanken nahe, dass Hildegard Brenner (*1927) in der intellektuellen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts eine Ausnahmeerscheinung darstellte.
Die verfügbaren theoretischen und kulturhistorischen Untersuchungen über das Lesen zeigen kaum Neigung, sich mit dem Problem der Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von anderen Wissensbeständen zu beschäftigen; vielleicht, weil es so selbstverständlich scheint, dass die Fähigkeit zu lesen keine Domäne bildet, die exklusives Eigentum einer Wissenschaft sein könnte. Da jedoch viele geisteswissenschaftliche Disziplinen der Vorstellung verhaftet bleiben, dass sie über besondere Methoden des Lesens verfügen, die ansonsten unerreichbares Wissen hervorbringen, klafft hier eine epistemologische Lücke.
Die gemeinsam geschriebene Doppelpublikation "ONE + ONE" und "I – I" des Philosophen Armen Avanessian und der Literaturwissenschaftlerin Anke Hennig bildet den Abschluss ihrer Arbeit am Spekulativen, die 2012 an der FU Berlin begonnen wurde und maßgeblich zum Import des spekulativen Realismus in Deutschland beitrug. [...] Das Spannende an den Büchern ist jedoch nicht ihre kultur-, literatur- und sprachtheoretische Beschäftigung mit der Gegenwart, sondern die textperformative Ebene, auf der die Autor*innen unentwegt den Prozess des "Zu-zweit-Schreibens" mitthematisieren, um so dem Kreativitätsdispositiv und dem solipsistischen Schreiben an der Universität eine 'echte' kooperative Schreibweise entgegenzusetzen. Ihr Vorhaben amalgamiert auf diese Weise Theorie, Biographie und Fiktion, wobei das kooperative Schreiben nicht nur als Beiwerk für den Transport der Inhalte fungiert, sondern auch zu einem stilistisch-performativen Leitprinzip wird.
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von 'Rettung'. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, 'whatever it takes', wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt "Archipelagische Imperative.Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800" nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen.
Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren. [...] Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen.
Sowohl Etymologie als auch Metaphorik des Transparenzbegriffs kreisen um die Verbindungen von Licht zur Erkenntnis und wiederum zur Moral, die an den Transparenzbegriff weitergegeben wurden, was den Fokus auf den übertragenen Gebrauch von Transparenz lenkt. 'Transparenz' verweist folglich auf mehr als eine bloße Zustandsbeschreibung, denn sie stellt einen Begriff dar, der aus historischen, sozialen sowie technologischen Gründen wirkmächtig wurde und sich auf eine zunehmende Zahl von Gesellschaftsbereichen bezieht. Die medialen Veränderungen, die sich durch Digitalisierung und ständige Vernetzung ergeben, stoßen somit ein tieferes und allgemeines Nachdenken über das Verhältnis von Öffentlichkeit, Transparenz und Demokratie an. Gerade im digitalen 21. Jahrhundert werden Begriff und Konzept, die auf ideengeschichtliche Wurzeln in der Aufklärung zurückgreifen und die beiden Bedeutungshemisphären von Staat und Individuum nachzeichnen besonders wichtig. [...] 'Transparenz' wohnt eine deutlich deskriptive sowie eine normativ-metaphorische Ebene inne, die in der Originalität des Begriffs in der Optik und im optischen Bereich wurzeln, wie besonders im Bereich der Architektur manifest wird. Transparenz vereinfacht die Herstellung der für die Demokratie notwendigen Öffentlichkeit, stellt dabei allerdings eine Art vorgelagerten Zustand beziehungsweise eine grundlegende Eigenschaft dar, welche Öffentlichkeit erst ermöglicht. Als normativ und metaphorisch anschlussfähige Ideologie bezieht sich Transparenz jedoch auch auf das Individuum. Die Transparenz des Individuums, die sich im digitalen Bereich besonders deutlich am digital gläsernen Menschen zeigt, stellt nicht nur eine Gefahr für die individuelle Privatsphäre dar, sondern macht den Einzelnen überwachbar und erhält so eine politische Dimension. Insgesamt prägt Transparenz daher als gesellschaftliche Ideologie moderne Lebenswelten.
Editorial
(2022)
Die vorliegende Ausgabe des FIB präsentiert in zwei Beiträgen die Geschichte von Begriffen, die in besonderer Weise der Idee des E-journals entsprechen. Denn ihre Bedeutung lässt sich nur Disziplinen überschreitend rekonstruieren. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Rettig untersucht den Begriff der Statik, Lea Watzinger den der Transparenz. Beide Arbeiten geben Einblick in begriffsgeschichtliche Thesen ihrer jüngst abgeschlossenen Qualifikationsschriften. [...] Clemens Knobloch zeigt in seinem Rezensionsessay zu dem von David Ranan herausgegebenen Glossar "Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe", dass sich hinter dem Titel höchst anregende, gerade die widersprüchliche Pragmatik von politischen Gegenwartsbegriffen herausarbeitende Begriffsgeschichten auffinden lassen.
Statik
(2022)
Bei der Statik handelt es sich um einen vielschichtigen Begriff, der zumeist ausgeblendet wird und dem sich Kunst-, aber auch Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen bislang nur selten explizit widmeten. Im Folgenden wird es um die weitere Aufschlüsselung dieses Begriffs gehen, wobei die Kunst der Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht. Im abschließenden Teil wird der Blick dann auf weitere, für die Klärung des Begriffs relevante Bereiche gerichtet. Die Bemerkungen können nur ausschnitthaft darstellen, dass Moderne und Postmoderne stärker von der Statik geprägt sind, als man gemeinhin annimmt. Sie konterkariert die gängigen Erzählungen von Beschleunigung und hemmungsloser, ungezügelter Bewegung als einem Kennzeichen der Moderne. Dabei tritt sie nicht in Distanz zur Dynamik - vielmehr kann sie nur in Anbindung an diverse Prozesse gefasst werden.
Die vorliegende Ausgabe des FIB präsentiert in zwei Beiträgen die Geschichte von Begriffen, die in besonderer Weise der Idee des E-journals entsprechen. Denn ihre Bedeutung lässt sich nur Disziplinen überschreitend rekonstruieren. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Rettig untersucht den Begriff der Statik, Lea Watzinger den der Transparenz. Beide Arbeiten geben Einblick in begriffsgeschichtliche Thesen ihrer jüngst abgeschlossenen Qualifikationsschriften. [...] Clemens Knobloch zeigt in seinem Rezensionsessay zu dem von David Ranan herausgegebenen Glossar "Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe", dass sich hinter dem Titel höchst anregende, gerade die widersprüchliche Pragmatik von politischen Gegenwartsbegriffen herausarbeitende Begriffsgeschichten auffinden lassen.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
'Aktivismus' wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskriptive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts. Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, insbesondere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. Forderungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. [...] Bedeutungskonstituierende Kriterien für 'Aktivismus' wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. [...] Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf.
"A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?" - so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten. Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie "If we go ahead on this, everyone will die" oder "We are drifting toward a catastrophe beyond comparison" auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay "You and the Atomic Bomb" (1945) eröffnet hatte - ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.
Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in "Berlin Global" : eine Führungs- und Ausstellungsreflexion
(2024)
Februar ist Black History Month und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir - Gianna Zocco und Sandra Folie - im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts "Schwarze Narrative transkultureller Aneignung" besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen. Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, "wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind". Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen. Unter dem Titel "Sichtbar werden" führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch - miteinander, aber auch mit der Gruppe - durch die Spuren Schwarzer Geschichte(n) in der Ausstellung. Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung "sichtbar werden", fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des 'narrating back' und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums begreifen lassen? Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.
Im vorliegenden Aufsatz stellt die Verfasserin die Frage nach einer geschichtsphilosophischen Lesart von Toni Morrisons Roman "Beloved" (1987). Dafür vergleicht sie zunächst Friedrich Nietzsches "Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" (1874) mit Walter Benjamins "Thesen über den Begriff der Geschichte" (1940), indem sie dem nicht von ungefähr kommenden Zusammenhang von kritischer Historie und Kritischer Theorie nachspürt. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse, wie der Umgang mit Historie das (Er-)Leben in der Zukunft und für die Zukunft beeinflussen kann, wird Morrisons Roman nach den verschiedenen Entwürfen des Umgangs mit Geschichte untersucht: Anhand der Mutter Sethe und den beiden Töchtern Denver und Beloved wird anschaulich gemacht, wie sich ein 'Zuviel' an Geschichte negativ auf die Zukunft auswirken kann, aber auch, wie das Vergessen als Mittel der Ermöglichung von Zukunft fungiert.