CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Gesichtsauflösung und Biometrie sind zunächst nur schwer zusammenzubringen. Beschäftigt man sich jedoch ein wenig mit der Informationstechnologie, so kommt man schnell darauf, dass Auflösung bei Bildern eine eklatante Rolle spielt, allerdings nicht im Sinne von wegbrechen, verschwinden sondern ganz im Gegenteil; hier meint man eher einen Detaillierungsgrad. Je höher die Auflösung eines Bildes, desto mehr kann man erkennen, desto mehr kann man aus dem Bild auslesen.
In unserem visuell geprägten Kulturkreis bestimmt das Gesicht die Identität eines Menschen - doch ab wann kann von einer Gesichtsauflösung gesprochen werden? Deutliche Abweichungen von der in der Gesellschaft bekannten und deshalb akzeptierten Norm lassen sich als Gesichtsdefekte, Gesichtsdeformitäten oder eben als Gesichtsauflösung betrachten. Ursächlich können beispielsweise Unfälle, Infektionen, Tumorerkrankungen oder angeborene Fehlbildungen sein. Der Alterungsprozess sollte hingegen nicht als Gesichtsauflösung interpretiert werden. Hier handelt es sich um eine Strukturanpassung des Gewebes. Aufgabe der Medizin bzw. in diesem Falle der gesichtschirurgischen Profession ist es, dem Vorgang der Gesichtsauflösung entgegen zu wirken. Sie bietet die Möglichkeit, durch rekonstruktive Verfahren das Gesicht in seiner Ursprünglichkeit zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Besteht im Falle von Gesichtsdefekten keine Möglichkeit mehr, durch operative Techniken eine adäquate Wiederherstellung zu gewährleisten, so kann auf die Versorgung mit künstlichen Gesichtsteilen zurück gegriffen werden. Ziel ist es, ein dysmorphes (fehlgestaltetes) Gesicht in ein wieder erkennbares, also in dem soziokulturellen Umfeld des Betroffenen akzeptiertes Gesicht umzuwandeln. Angestrebt wird, das durch die unterschiedlichen Ursachen geschädigte Gesicht im Rahmen ästhetischer Aspekte wieder herzustellen. Dadurch soll dem Betroffenen die problemlose Integration in sein soziales Umfeld ermöglicht werden. Für den Betroffenen kann dadurch ein Teil der bekannten Normalität wieder hergestellt sowie ein akzeptables Dasein vermittelt werden.
Gesichtsauflösungen
(2013)
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird aus einem wiedergeöffneten Stollen der Bergwerke von Falun in Schweden der nahezu unversehrte Leib eines verschütteten Mannes geborgen. Die verblüfften Bergleute blicken in ein frisches Gesicht, in "die noch unveränderten Gesichtszüge eines verunglückten Jünglings" – wie es in der Quelle, in Gotthilf Heinrich von Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808) heißt. Gleichsam eingelegt in Kupfervitriolwasser hat das Gesicht in 300 Ellen Tiefe überdauert, doch kann dessen Konservierung der Berührung mit Luft und Licht und mithin dem Auge der Umstehenden nicht standhalten. Gesicht und Körper lösen sich auf, zerfallen zu Staub, doch erst, nachdem ein altes Mütterchen "an Krücken und mit grauem Haar" den Konservierten erkennt und an ihre Brust drücken kann: Nicht die Mutter, nein sie ist die Braut des Jünglings von vor fünfzig Jahren, und ihr eingefallenes, "verwelktes" Gesicht kontrastiert der Wirkung des seinen. Die Geschichte vom konservierten Bergmanngesicht ist eine der bekanntesten Kombinationen von Literatur und anorganischer Chemie. Johann Peter Hebel und E.T.A. Hoffmann haben diese Geschichte der Flüssigkeiten als eine Art Antidoton gegen die Auflösungserscheinungen des Gesichts erzählt, die zumindest bei Hebel von einer Verwirrung der Chemikalien und ihrer Wirkungen geprägt ist. Denn die schnelle Auflösung, freilich nach vollzogener Identifikation durch die alte Braut, widerspricht dem chemischen Prozess, durch die jedoch deutlich werden soll, dass der unversehrte Kopf in Vitriol, seine Erkennbarkeit und Präsenz nur um den Preis der Sichtbarkeit zu haben ist: Allein als ein den Blicken und Interaktionen mit den Menschen entzogener Kopf bleibt er sich gleich, ist er intakt, unvergänglich. Damit wird gleichsam auf dem Haupt des aus der Zeitlichkeit herausgefallenen Bergmanns ein Spiel um natürliche und erworbene Konservierungsmodalitäten durch das Vitriol des Berges einerseits und das Gedächtnis der ergrauten Braut andererseits ausgetragen. Als Garanten gegen die Auflösung buhlen sie um die Haltbarkeit und physische Integrität des Menschen, genauer um das Bild von ihm. Durch eine "Verwirrung der Chemikalien", die im Übertrag von der Quelle zur Prosaerzählung erfolgte, wird der Konservierungsstoff Kupfervitriol oft als Eisenvitriol oder folgenreicher und entgegen der Nomenklatur gar als Schwefelsäure überliefert. In dieser starken Säure allerdings hätten sich nicht nur Gesicht und Körper des Bergmanns in maximal zwei Stunden, sondern auch das ganze Bergwerk zersetzt. Im konservierten Bergmann als der Geschichte einer aufgeschobenen Auflösung konvergieren einige Themenfelder der folgenden Beiträge: Neben dem Entzug und der Bergung eines unversehrten Antlitzes, dem eine Art facelifting zuteil wurde, sind es die Umstände seiner Erinnerung und die Bedingungen zu seiner Wiedererkennung, seine Fragilität und sein Zerfall. Themen, in die an dieser Stelle ein wenig eingeführt werden soll.
Prophetie und Prognostik : Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten
(2013)
Jede Prognostik bezieht ihre diskursive Macht aus der Behauptung, in gewisser Weise über die Zukunft verfügen zu können, jede Prophetie versucht in ihren Appellen, die Zukunft zu verändern. In beiden Fällen verschränken sich Formen des Zukunftswissens mit Modi wirksamer Rede.
Dabei ist Prophetie nicht einfach eine unwissenschaftliche 'Vorstufe' der Prognostik. Noch die differenzierten Prognosen über Klima, Bevölkerung und Ökonomie, die aus den Zukunftsmodellierungen heutiger Szenariotechnik gewonnen werden, stehen in der Nähe zur Prophetie.
Prophetie und Prognostik untersucht diese Wissensformen, Symboliken und Aussageweisen in verschiedenen Religions- und Wissenschaftskulturen, in bildender Kunst und Literatur.
Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen Weisen erforscht, in denen Prophetie und Prognose sich mit der Zukunft und mit der entsprechenden Unsicherheit auseinandersetzen, um sie dann auf die Formen der Beobachtung erster bzw. zweiter Ordnung zurückzuführen. Die Divination realisiert, wie dann gezeigt wird, eine Beobachtung erster Ordnung, die ein doppeltes Verhältnis zu den Objekten artikuliert, indem sie eine tiefere Ebene unterhalb der Oberfläche der Dinge liest. So produziert sie eine unendlich bedeutsame Welt, die mit bestimmten Techniken entziffert werden muss. Die divinatorische Technik geht vom Bewusstsein ihrer Grenzen und der Möglichkeit von Fehlern aus, was aber gerade dazu führt, dass Prophezeiungen unabhängig vom faktischen Verlauf der Dinge immer bestätigt werden können. Demgegenüber lokalisiert die Prognose die Unsicherheit innerhalb der Welt, die sie von außen beobachtet – in einer Beobachtung zweiter Ordnung – und mit Planung und Wissen zu kontrollieren versucht. Das Ergebnis (charakteristisch für die heutige Informationsgesellschaft) ist die Unfähigkeit, der Zirkularität der Vorhersage und ihren Folgen für die zu antizipierende Welt angemessen Rechnung zu tragen; so werden Vorhersagen produziert, die dazu tendieren, sich selbst zu sabotieren, wie abschließend dargestellt wird. Die Argumentation zielt darauf, die Verbindungen zwischen Prognose und Prophetie zu berücksichtigen. Die Erkenntnis des Umstandes, dass eine einmal formulierte Prognose als Prophetie wirkt, könnte zur besseren Kontrolle des Nicht-Wissens führen – und somit zur genaueren Reflexion darüber, wie wirksam oder wirkungslos unsere Vorbereitungen für die Zukunft sind.
Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Der moderne Roman ist [...] eine Form vergegenwärtigter Zukunft in dem erläuterten Sinne und stellt sich darin dem traditionalen Erzählen entgegen, das ein Vergegenwärtigen des Vergangenen war. An dieser innerliterarischen Kehrtwende im Narrativen lässt sich ablesen, was bei der Heraufkunft des prognostischen Präsens auf dem Spiel steht. Mit der Entsprechung und der Gegenüberstellung von historischem und prognostischem Präsens hat es darum die zweite Überlegung zu tun. Sie macht in der vergegenwärtigten Zukunft den inneren Zeitstil des modernen Romans aus. Einerseits hat sie es mit einem literarischen Sonderfall des prognostischen Präsens zu tun. Andererseits zeigt sich an diesem besonderen Fall aber auch erst die Bedeutung des prognostischen Präsens für unsere Kultur insgesamt.
Dieser Zusammenhang soll im Folgenden genauer erörtert werden. Den Anfang bildet ein Hinweis auf die Gegenüberstellung von Erzählen und Roman in dem Essay, den Walter Benjamin Nikolaj Leskow gewidmet hat (1). Danach folgt in zwei Schritten eine kurze terminologiegeschichtliche Charakteristik dessen, was hier analog zum 'historischen Präsens' das 'prognostische Präsens' genannt wird (anhand der augustinischen Zeittheorie [2] und im Hinblick auf die probabilistische Philosophie des 19. Jahrhunderts [3]). Am Ende wird die Erörterung noch einmal zur Frage des romanartigen Erzählens und seiner inneren Zeitform der vergegenwärtigten Zukunft zurückkehren (4).
Wenige Phasen in der Kulturgeschichte Deutschlands sind so sehr durch die Präsenz eines prophetischen Diskurses gekennzeichnet gewesen wie das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den Jahren der Weimarer Republik, die einmal die "Krisenjahre der Klassischen Moderne" genannt wurden, taucht eine Vielzahl von selbsternannten Geistersehern, Wunderwirkern und Heilsbringern auf, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens Abhilfe und Erlösung versprechen. Die Allgegenwärtigkeit dieses Versprechens lässt daran zweifeln, dass der von Heilssuche getragene prophetische Diskurs im Rücken einer sich fortentwickelnden Wissenschaftskultur stattgefunden hat. Vielmehr gehört sein Erlösungsversprechen zu den "beherrschenden Gedanken" der damaligen Zeit und bezeugt die prekäre Koexistenz von Wissenschaft einerseits und Prophetie andererseits. "Es sei", schreibt der Philosoph Max Scheler am Ende der Weimarer Republik, "eine beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft allüberall lebendig", die eine entsprechende Anzahl von Propheten, Heilanden und Weltverbesserern mit sich bringt. Angesichts dieser geistesgeschichtlichen Lage konnte eine Erinnerungsfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, um ein Beispiel aus dem Jahr 1922 anzuführen, leicht in die Frage münden: "Wann kommt der Retter Deutschlands?" Der Historiker Klaus Schreiner hat diese Frage, die Honoratioren aus einem kleinen Kurort in der Lüneburger Heide aufgeworfen haben, zum Titel einer umfangreichen Studie über den politischen Messianismus in der Weimarer Republik gemacht. [...]
Vom "Messias der Dichtung" soll im Folgenden die Rede sein. Wie sich zeigen wird, ist mit dieser Figur, über deren Besonderheiten und Begrenztheiten hinaus, zugleich das "Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze" verbunden.
Von außen betrachtet erscheint [...] das Thema Shelley und die Prophetie wenig vielversprechend, zumindest was die hebräische und christliche Bibel angeht. Aber gibt es vielleicht so etwas wie einen prophetischen Atheismus, oder eine atheistische Prophetie? Shelley besteht jedenfalls in gänzlich positiven Begriff en auf dem prophetischen Charakter der Dichtung, und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, was er damit gemeint haben könnte. Und auch wenn seine Gedanken über Poesie und Prophetie in vielerlei Hinsicht charakteristisch für seine Zeit sind, sind sie doch vorbereitet worden durch eine Tradition bibelkritischen Denkens, die wir ebenfalls betrachten müssen. Im Folgenden werde ich daher Shelleys Gedanken über Prophetie zwischen Spinoza und Benjamin situieren, auch wenn ich letzteren nur kurz, in einer Art Ausblick, berühren kann.
Die im Herbst 2010 aufgebrochene Kontroverse um die Möglichkeit einer erfolgreichen Integration von Migranten aus der islamischen Welt in die westliche Gesellschaftsordnung, die längst vergessene Vorurteile von neuem geweckt und damit dunkle Schatten auf die Zukunft des Zusammenlebens von Muslimen mit Nicht-Muslimen in Europa geworfen hat, lässt leicht vergessen, dass noch bis in neueste Zeit eine viel gelassenere Einstellung herrschte, in der inklusive Sammelbezeichnungen für die verschiedenen Religionskulturen wie 'die drei abrahamitischen Religionen' oder die 'drei Schriftreligionen' hoch in Kurs standen. Sie scheinen in weiten Kreisen inzwischen einer Dichotomie zwischen monolithischen Blöcken wie 'Europa', 'der Westen', und 'der Islam' Platz gemacht zu haben. Es lohnt sich umso mehr, diese älteren Konstruktionen von Gemeinsamkeiten von neuem zu prüfen.
Mit Fug und Recht lässt sich daher behaupten, dass Klimamodelle zu den einflussreichsten Schriften des 20. und 21. Jahrhunderts gehören. Ihr soziopolitischer Einfluss besteht vor allem darin, Zukunft verhandelbar machen. In den bisherigen wissenschaftstheoretischen Diskussionen über Klimamodelle bleibt allerdings ihr Textcharakter unberücksichtigt. Um diesem Rechnung zu tragen, werden im Folgenden die wesentlichen textuellen Relationen verdeutlicht. Der vorliegende Beitrag stellt daher einen ersten Versuch dar, die Intertextualität von Klimamodellen zu analysieren, um dann die Verankerung der Klimaprojektionen im deterministischen Wissenschaftsverständnis der neuzeitlichen Physik sowie ihr Projektionspotenzial zu untersuchen.
In einer besonderen politischen Situation befanden sich die Architekten der russischen Avantgarde. Nach der Oktoberrevolution im Jahre 1917 bekamen sie (neben anderen Künstlern) die seltene Chance, sich an den gesellschaftlichen Entwicklungen – am Aufbau des staatlichen Sozialismus – zu beteiligen. Sie entschieden mit über die Einrichtung neuer Kunstinstitutionen, entwickelten Lehrprogramme und Aufklärungsprojekte, gestalteten die Infrastruktur der Städte, machten sich Gedanken über Wohnprobleme. Dabei waren sie in der paradoxen Situation, dass sich die sozialistische Bevölkerung, für die sie handelten, erst noch herausbilden musste. Im Zuge der Bürgerkriegswirren und Inflation strömten um 1920 große Menschenmengen aus den ländlichen Regionen in die Städte, die vom Wandel hin zum Sozialismus noch nicht viel gehört hatten. Für diese Bevölkerung moderne Wohnverhältnisse zu schaff en war eine doppelte Herausforderung: Es galt nicht nur die Gebäude der neuen politischen Ideologie gemäß zu gestalten, sondern auch die überforderten und meist ungebildeten Ankömmlinge so zu beeinflussen, dass sie überhaupt Zugang zu den veränderten sozialen Verhältnissen fanden. Neben den sozialistischen Gebäuden waren also auch ihre Bewohner erst noch zu entwerfen, denn es gab Anfang der 20er Jahre in Russland weder sozialen Wohnungsbau noch die für diesen vorgesehenen Arbeitermassen.
Wie kann das 'Funktionieren' von Prophezeiungen erklärt werden. Eine begriffliche Analyse von Furcht und Angst, und von Zeit und Wissen zeigt, dass durch Prophezeiungen Angst gebunden werden kann. Mit dem Glauben einer Prophezeiung kann aus Unbestimmtheit, der jede Vorstellung fehlt, Zukunftserwartung werden, die dadurch Bestimmtheit besitzt, dass es eine gewisse Vorstellung von dem gibt, was sich ereignen wird. Auf diese Weise kann sich Angst in Furcht, Hoffnung oder frohes Erwarten verwandeln. Als Prophezeiung hat auch die Offenbarung des Johannes dieses Potenzial der Bindung. Ihr Text im Neuen Testament sagt aber nicht nur voraus, was einst geschehen soll, sondern er lässt auch dadurch, wie er die Voraussage verfasst, Bedingungen seines 'Funktionierens' erkennen. Versucht man, die Zusammenhänge dieser Bedingungen zu bestimmen, gelangt man zur Logik von Modellen und zu der Beobachtung, dass die gewaltige Wirkkraft der Offenbarung über bald 2000 Jahre der zivilisatorischen und kulturellen Entwicklung hinweg besser verständlich wird, wenn man in ihr ein Modell sieht. Es ist zu vermuten, dass die Logik des Prophezeiens, die die Offenbarung als Modell erkennen lässt, allgemeinere Gültigkeit besitzt. Sie könnte Prognostik und Prophetie für modelltheoretische Analysen zugänglich machen.
Im Rahmen dieses Beitrages möchte ich nun den Fokus auf eine spezifische Frage einstellen: Die Frage nach Wissen und Gewissheit, so wie sie in der Kommunikation zwischen den Akteuren der Pränataldiagnostik und den werdenden Eltern eine Rolle spielt. Damit wäre auch schon der Untertitel meines Beitrages präzisiert. Sprachspiele der Pränataldiagnostik. Der Obertitel 'Then you know' ist eine Reminiszenz an ein Gespräch vor einigen Jahren mit kalifornischen Freunden, Eltern zweier Kinder. Sie erinnerten sich daran, dass man ihnen gleich zu Beginn der ersten Schwangerschaft, ohne einen konkreten medizinischen Anlass, zur Absolvierung des pränataldiagnostischen Programms riet. Auf ihre damals ganz unbedarft, offen und durchaus ernsthaft gestellte Frage, warum sie dies denn tun sollten, antwortete der ihnen gegenübersitzende Arzt: "Then you know“. Dann wißt ihr's. Dann weiß man's. Drei Worte, die Platz lassen für die kleine Ambivalenz von 'ihr' und 'man'; drei Worte, die nicht schwer ins Deutsche zu übersetzen sind; man braucht allerdings ein Wort mehr, oder doch mindestens einen Buchstaben und ein Häkchen – ein zusammengeschrumpftes 'es', das sich unauffällig in die Leerstelle des originalen Satzes schiebt, sich allerdings, wenn man anfängt, auch nur ein bisschen darüber nachzudenken, in sein epistemisches Zentrum verwandelt: Was ist es denn, das dann gewußt wird? Then you know – ein Satz, der einem auch im Deutschen vertraut und typisch vorkommt und sofort ähnliche aufruft: Dann wissen wir es – wenigstens. Dann ist – endlich – die Ungewissheit vorbei. Ich will – einfach- Gewissheit. Sätze des Wissens, in denen eine Menge ungewiss ist.
[A]ktuelle Sprechakte zum Thema des Klimawandels sind [...] in irreduzibler Weise kontextgebunden. Das intendierte Publikum solcher pro-phetischen Akte ist jedoch die ganze Menschheit. Diese Akte richten sich an alle Bewohner dieses Planeten, und zwar in doppelter Weise: als potenziell Betroffene ebenso wie als Mitverantwortliche. Die jeweils kontextgebundenen pro-phetischen Akte und ihr potenziell globaler Adressatenkreis stehen in einem starken Spannungsverhältnis. Dessen spezifische Gestalt ist vom spezifischen Charakter des in Klimadiskursen involvierten Wissens und Nicht-Wissens untrennbar. Dieser Charakter des (Nicht-)Wissens muss daher kurz umrissen werden, bevor ich an einigen Beispielen analysiere, wie dieses Spannungsverhältnis in konkreten Sprech-, vielmehr Schreibakten zum Klimawandel ausprozessiert wird.
Kritisch betrachtet scheint die biblische Prophetie ein fatales Paradox zu implizieren. Denn nach den Kriterien, die Moses im Deuteronomium verkündet, kann sich die Wahrheit einer Prophetie nur nach dem Eintreffen oder Ausbleiben dessen richten, was sie vorhersagt [...]. Dieses Kriterium erweist sich für das Publikum und erst recht für die Propheten als höchst problematisch. Entweder hört das Publikum auf die Prophezeiung drohenden Unheils, bereut seine Taten und wird verschont – womit sich die Worte des Propheten allerdings als falsch erweisen –, oder es ignoriert die Weissagung und wird vernichtet – womit sich die Worte des Propheten zwar bewahrheiten, zugleich aber auch völlig nutzlos gewesen sind. Obwohl der Glaube an Voraussagen tief in der höfischen Kultur und in der volkstümlichen Tradition der vorderorientalischen Antike verankert war, war er letzten Endes nicht mit der biblischen Konzeption der Souveränität und Freiheit Gottes vereinbar. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass die fundamentale Tendenz der biblischen Prophetie, wenn man sie als Form des Wissens und nicht als rhetorischen Modus betrachtet, antiprophetisch ist.
In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wodurch sich wissenschaftliche Zukunftsbetrachtungen, die vielfach für die Politik- und Gesellschaftsberatung unternommen werden, von anderen Formen der Zukunftsschau unterscheiden. Wissenschaftliche Zukunftsschau ist oft teuer und langwierig, es erscheint also mehr als berechtigt, nach ihren Vorteilen gegenüber anderen Zugängen zu fragen, etwa der literarischen Zukunftsschau. Dazu werde ich folgende Thesen entfalten:
• Wissenschaftliche Zukünfte sind soziale Konstruktionen und keine wertneutralen Beschreibungen zukünftiger Entwicklungen.
• Ein Nachweis der Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher Zukünfte ist wissenschaftstheoretisch nicht trivial und unterscheidet sich von den Nachweisen der Wissenschaftlichkeit in anderen Bereichen.
• Die Erwartung, wissenschaftliche Zukünfte seien per se besser als nichtwissenschaftliche (wie z. B. literarische oder astrologisch motivierte Zukünfte) – in dem Sinne, dass sie besser die Zukunft vorhersagen –, ist nicht begründet.
• Stattdessen haben wissenschaftliche Zukünfte die Vorteile, dass sie allgemeine Zustimmungsfähigkeit schaff en, dass sie erlauben, Konsistenzforderungen zu stellen und zu überprüfen, und dass sie ein Lernen aus dem Vergleich der vorhergesagten mit den dann real eintretenden Ereignissen ermöglichen.
Wenn es in diesem Beitrag spezifisch um die Wissenschaftlichkeit von Zukunftsbetrachtungen geht – in Gegenüberstellung zu einer un- oder nichtwissenschaftlichen Prophezeiung –, so möchte ich die Betrachtung auf die wissenschaftlich gestützte Zukunftsschau in gesellschaftlichen Feldern beschränken und nicht auf Vorhersagen generell, etwa der Astronomie, der Meteorologie oder der Kosmologie, erstrecken.
Von "Hypothesen, die auf einer Hypothese gründen" : Ökologische Prognostik in den 1970er Jahren
(2013)
In ihren unterschiedlichen Dimensionen markiert die Prognostik das wissenschaftlich-politisch Imaginäre der Ökologie, das allererst konstituiert, was als relevantes Problem wahrgenommen wird und was nicht, das den beschriebenen Phänomenen eine spezifische Form verleiht und sie in bestimmte Theorien einfügt und das vor allem als regulative Instanz gesellschaftliche Prozesse steuert bzw. zu steuern versucht. Im Folgenden wird untersucht, welche Gestalten dieses Imaginäre in den 1970er Jahren annimmt. Dabei geht es zunächst um den in diesem Zeitraum geprägten Begriff "politische Ökologie", dann um das Verhältnis von Bevölkerung und Überleben, um Narrative der Prävention in ökologischen Aktionsprogrammen und um die Rolle des Abfalls in Zukunftsfiktionen. Der letzte Abschnitt widmet sich Hans Magnus Enzensbergers sogenannter "Komödie" Der Untergang der Titanic, die aus miteinander verwobenen Gesängen und Gedichten besteht, in denen technische, statistische, religiöse und wissenschaftliche Zukunftsmodellierungen als Repräsentationen der Zukunft durchdekliniert werden.
Am Schluss seiner 1917 gehaltenen Rede Wissenschaft als Beruf warnt Max Weber vor überzogenen Erwartungen an die zahllosen zeitgenössischen Erlösungslehren [...]. Webers Text kann man als Urszene eines prophetischen Diskurses in der Weimarer Zeit lesen. [...] Im Folgenden sollen weniger die systematischen Zusammenhänge als die spezifischen Sprachgesten dieses Denkens rekonstruiert werden, indem (1) am Beispiel von Max Webers religionssoziologischen Schriften gezeigt wird, wie die biblische Prophetie am Anfang des 20. Jahrhunderts verstanden wurde, bevor (2) noch einmal der Rekurs auf die Prophetie in Webers Wertlehre untersucht wird. Im Anschluss soll an zwei Reaktionen auf Weber gezeigt werden, wie dieser prophetische Diskurs weiterwirkte: Karl Barths theologische Rhetorik (3) radikalisiert die Rhetorik der Kritik und der Unterscheidung von wahrer und falscher Mitteilung bis zur Paradoxie; Walter Benjamins Überlegungen zu Kritik und Übersetzung (4) bedienen sich ebenfalls radikaler Unterscheidungen und problematisieren zugleich den eigenen Standpunkt.
Dieser Aufsatz will weder eine wissenschaftliche Einteilung der biblischen Prophetie vornehmen noch zielt er auf einen Überblick über die Wirkungsgeschichte der Prophetie. Mein Ziel ist es vielmehr anzudeuten, wie moderne Literatur und modernes Denken prophetische Reden und Zukunftsbegriff e auf subtile und unerwartete Arten beerben. [...] Hier möchte ich einen allgemeinen Überblick über prophetische Literatur anbieten und gleichzeitig über den biblischen Kanon und sein Nachleben nachdenken. Ich beginne mit den drei Arten der biblischen Prophetie: der klassischen, der biographischen und der apokalyptischen, anschließend entwickle ich das stichpunktartig an zwei Beispielen der biblischen Prophetie und des modernen Schreibens, schließlich zeige ich die innere Antinomie oder Aporie der jeweiligen Art.