CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Über den Abfall des Menschen
(2019)
Die historisch gewachsene Relevanz des Abfallproblems kulminiert in jüngsten theoretischen Versuchen, die Kultur als Ganzes vom Müll her in den Blick zu nehmen. Damit wird ausbuchstabiert, worauf Begriffe wie 'Wegwerfgesellschaft' hindeuten: dass Müll nicht nur als Anderes oder Rest der Produktion zu denken ist, sondern in einem viel grundlegenderen Zusammenhang mit dieser steht. Eine bis heute relevante Pionierarbeit zum Müll ist Michael Thompsons "Rubbish Theory". Am Beispiel von Seidenbildern aus dem 19. Jahrhundert zeigt er, wie einstmals Wertloses zur Antiquität wurde und welche sozialen Distinktionen mit der Deklaration einer Sache als Abfall verbunden sind. In seiner Spur lesen neuere soziologische Studien am Müllaufkommen den sozialen Status der 'Entsorger' ab: Zeige ihnen deinen Müll, und sie sagen dir, wer du bist. Reich sein heißt auch, etwas wegzuwerfen haben, und was den einen Müll, ist andern Lebensmittel. Nach Thompson ist klar geworden, dass etwas zu Müll nicht allein aufgrund seiner intrinsischen Eigenschaften wird. Eine spezielle Aufgabe der Kulturwissenschaften liegt daher in der Untersuchung der kulturellen und sozialen Codierung von Müll und des historischen Wandels objektbezogener Wertzuschreibungen.
Auf dem Boden der Tatsachen
(2019)
2018/19 jähren sich zum hundertsten Mal die epochalen Ereignisse, die als 'Novemberrevolution' und 'Spartakusaufstand' in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen sind. Die Stadt Berlin, Hauptschauplatz der damaligen Vorgänge, begeht das Jubiläum mit einem "Themenwinter", offenbar bestrebt, deren historischem Gewicht gerecht zu werden. Die zum Jahrestag der doppelten Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht am 9. November eröffnete Ausstellung im Museum für Fotografie nimmt die Ereignisse zwischen November 1918 und Mai/Juni 1919 aus verschiedenen Richtungen in den Blick und befasst sich neben der Dokumentarfotografie mit dem Kino und der Unterhaltungskultur, mit Operette, Revue, Kabarett und Tanz.
Verbraucher
(2018)
Das Wort 'Verbraucher' hat einen vertrauten Klang und erfreut sich besonders in Form verschiedener Komposita wie 'Verbraucherschutz' oder 'Verbraucherpolitik' großer Wertschätzung. Abgeleitet ist es vom Verb 'verbrauchen'. Es scheint damit verwurzelt in einem anthropologischen Grundtatbestand, denn der Mensch ist nun einmal, als gesellschaftliches Naturwesen, auf den Verbrauch bestimmter Dinge angewiesen. Allerdings ist bereits das Verb 'verbrauchen' keineswegs so selbstverständlich, wie es zunächst scheint. Wer vom Verbrauchen redet, abstrahiert nämlich schon von den konkreten Formen und Zwecken der Aneignung der Dinge und stellt allein den Aspekt des Verlusts oder Endes ihrer Brauchbarkeit heraus. [...] Auch der Blick auf den Komplementärausdruck des Gebrauchens zeigt, dass es sich beim Verb 'verbrauchen' um eine Schwundform handelt. Eine weitere Reduktion wird vollzogen, wenn aus ihm das Substantiv 'Verbraucher' abgeleitet wird. Anhand der gängigen Unterscheidung von Gebrauchs- und Verbrauchsgütern lässt sich das verdeutlichen. Im Vergleich zu den Gebrauchsgütern ist der Anteil der Verbrauchsgüter, also der Dinge, die zum unmittelbaren Verzehr zur Erhaltung der Existenz bestimmt sind, sehr gering. Wenn nun der Mensch als Verbraucher angesprochen wird, dann wird gerade diese elementare Erhaltungsfunktion totalisiert und zur Wesensbestimmung aufgebläht. Was umgekehrt heißt: Im 'Verbraucher' ist der Mensch als kulturelles Wesen ausgelöscht. Wie ist es dazu gekommen?
Der Einsicht, dass die Zeitschrift kein simpler "cargo truck" für intellektuelles Frachtgut ist, wird inzwischen auch in der Forschung Rechnung getragen. Damit wird nachgeholt, was für die 'history of books' schon längst selbstverständlich ist: Zeitschriften weisen Eigenlogiken auf, die kultur- und wissensgeschichtlich untersucht werden können und sollten. Nicht zuletzt sind sie immer auch Interventionen in eine spezifische historische Situation. [...] Periodika sind in der Geschichte der Ideen und Theorien, der Künste und der Wissenschaften der Neuzeit allgegenwärtig, und gerade deshalb sind sie theoriebedürftig. Der Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung hat sich 2017 als Initiative von und für Nachwuchsforscher*innen gegründet, die über Perspektiven auf diesen selbstverständlich-unselbstverständlichen Gegenstand nachdenken.
Houllebecqs Science-Fiction : "Unterwerfung" und "Die zweite Invasion der Marsianer" der Strugatzkis
(2018)
Am 6. Juni 2018 wurde die deutsche Fernsehverfilmung von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" in der ARD gesendet. Auf die Erstausstrahlung folgte eine Gesprächsrunde zum Thema "Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?" An der Programmzusammenstellung wird das Missverständnis deutlich, das sich in der öffentlichen Diskussion von "Unterwerfung" etabliert hat. Dieses Missverständnis besteht darin, die "Islamdebatte" als Thema des Romans zu begreifen und deshalb dessen Szenario zum Gegenstand einer politischen Debatte zu machen. [...] "Unterwerfung" (2015) ist kein Roman über die Auseinandersetzung mit dem Fremden, sondern über das Verhältnis zur eigenen Geschichte. Der exemplarische Fall materialisierter Geschichte ist in "Unterwerfung" die Literatur. Dass der Protagonist und Erzähler François ein Literaturwissenschaftler ist, der sich vorwiegend mit Texten von Joris-Karl Huysmans befasst, ist dem Roman dabei Mittel zum Zweck, die Literatur thematisch ins Zentrum zu rücken. [...] Der neuere literaturgeschichtliche Hintergrund für Houellebecqs Arbeit ist die Science-Fiction. Und tatsächlich lässt sich "Unterwerfung" als Hypertext eines Science-Fiction-Romans lesen. Dieser trägt im Deutschen den Titel "Die zweite Invasion der Marsianer", wurde von Arkadi und Boris Strugatzki erstmals im Jahr 1967 auf Russisch veröffentlicht und liegt in einer trashigen französischen Taschenbuchausgabe von 1983 als "La seconde invasion des Martiens" in der Reihe "Science-fiction soviétique" vor.
Was bei Schrott aus seiner künstlerischen Bearbeitung der Wissens-'Tradition' geworden ist, ist nicht einfach zu sagen. Jedenfalls keine Naturreligion und keine Experimentaltheologie, sondern eine Dichtung, sehr groß dimensioniert, gewiss, aber doch stets nur "Stücke eines Epos: nicht in hehrem Anspruch, sondern als Poesie, die Welt enthält". Von Freuds Epostheorie her gesehen ist der befremdliche Titel "Erste Erde. Epos" gewissenhafte Leseanleitung: Achtung, Kunst! - Nicht beantwortet ist damit die Frage, warum Schrott die 'Tradition' von Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte literarisch bearbeitet hat.
Die Tagung "Reinhart Koselleck und die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts" am Deutschen Literaturarchiv Marbach (14./15.6.2018) reiht sich ein in eine Kette von Veranstaltungen, die dem Werk Reinhart Kosellecks und den Perspektiven der begriffsgeschichtlichen Forschung speziell im Hinblick auf das 20. Jahrhundert gewidmet sind. Wie der Gastgeber Ulrich Raulff (Marbach) bei der Eröffnung betonte, ist das Literaturarchiv Marbach ein besonderer Ort für die Begriffsgeschichte, da es die Nachlässe bedeutender Vertreter oder Stichwortgeber wie Hans Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Hans Robert Jauß, Joachim Ritter oder Dolf Sternberger aufbewahrt. Im Jahre 2008 wurden der schriftliche Nachlass sowie die Bibliothek von Reinhart Koselleck angekauft, kürzlich kam dann auch der Nachlass von Karlheinz Barck, dem Mitherausgeber des Wörterbuchs der "Ästhetischen Grundbegriffe" hinzu. Das Literaturarchiv Marbach beherbergt damit eine Fülle von Materialien, die bislang noch kaum erschlossen sind und die für die leitende Fragestellung einer Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Forschungsquelle bilden.
Das neue Jahresthema des ZfL, FORMEN DES GANZEN, knüpft an das vorangegangene Jahresthema der DIVERSITÄT in den Bereichen der Natur, des Sozialen und der Kultur mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an. Denn wer sich mit der Vielfalt beschäftigt, kann der Frage nach der Einheit der Vielfalt und damit nach dem Ganzen nicht ausweichen. So ist etwa das Schlagwort von der Biodiversität ein absolut inkludierender Begriff und damit Chiffre eines Ganzen. Allerdings wurden Ganzheitsvorstellungen im 20. Jahrhundert von Regimen in Anspruch genommen, die nicht zufällig 'totalitär' heißen. Auch deshalb stehen die heutigen Geisteswissenschaften dem Ganzen kritisch gegenüber. Jener Geist, der sie einmal als Wissenschaften binden und von den Naturwissenschaften unterscheiden sollte, gehört ja selbst zur Sippschaft unifizierender Begriffe, die ein Ganzes meinen oder behaupten.
Unterm Rettungsschirm
(2018)
Macht sich die Zweideutigkeit des "Rettungsschirms" im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als 'umbrella' ("Regenschirm") oder als 'parachute' ("Fallschirm") auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen 'rescue umbrella' oder 'rescue parachute' lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen. Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen. Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von 'rescue umbrella/parachute' die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte. Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben. Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist.
Unsere wichtigsten Informationsquellen zur antiken Medizin sind Texte und Artefakte, archäologische und anthropologische Überreste (wie etwa Skelette, mumifiziertes menschliches Gewebe, Nahrungsreste oder Spuren von Lebensgewohnheiten). Im Laufe der Zeit sind jedoch viele dieser Belege durch Feuereinwirkung oder Verfall aufgrund ungünstiger Umweltbedingungen, oder auch, weil die Zeugnisse verlegt wurden und nicht mehr auffindbar waren, verloren gegangen oder stark beschädigt worden. Um herauszufinden, wie Menschen in der antiken Welt über die Seele und den Körper dachten und wie sie es mit Gesundheit und Krankheit hielten, müssen Medizin- und Philosophiehistoriker deshalb Detektivarbeit leisten: Auf der Basis fragmentarischen Materials gilt es, relevante Hinweise aufzuspüren und die Vergangenheit zu rekonstruieren. Vergegenwärtigt man sich dabei, dass einige Quellen mehr als 2.000 Jahre alt sind, ist es erstaunlich, wie genau die vorfindbaren Informationen sein können und wie nahe wir damit an die Vorstellungen antiker Menschen herankommen können.
Es war nicht das erste Mal, dass der Begriff des Überlebens in die Welt des Entertainments eingeführt wurde, aber Gloria Gaynors Disco-Hit "I Will Survive" aus dem Jahr 1978 markiert doch eine Zäsur. Wie Titel, Leitmotiv und Formsprache des Songs verweist auch das Vokabular, in dem sein durchschlagender Erfolg beschrieben worden ist, auf die Aktualität eines unheimlich gewordenen Erbes. Der Beginn der modernen Geschichte, die den Konnex von Fun und Survival stiften hilft, lässt sich datieren auf Darwins Ersetzung der Bezeichnung "natural selection" durch den Ausdruck "survival of the fittest", der ihm "besser und zuweilen ebenso bequem" wie jener erschien. Dies wird für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, dass die Verwendung des Ausdrucks "survival" als "bequem" angesehen wurde.
Biodiversität
(2017)
'Biodiversität' ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit, auf dem Forschungsprogramme, ethische Debatten zum Mensch-Natur-Verhältnis und politische Aktivitäten basieren. In der öffentlichen und politischen Kommunikation funktioniert der Begriff offenbar gut. Er transportiert Achtung und Verantwortung für die Natur, Toleranz gegenüber dem Fremden, Freude an der Heterogenität und Mannigfaltigkeit. Biodiversität steht parallel zur kulturellen Vielfalt und passt in unsere durch Pluralismen geprägte Gegenwart. Denn der Begriff drückt nicht nur Enthierarchisierung und Pluralisierung der Perspektiven aus, Verzicht auf eine übergreifende, durchgängig gültige Ordnung und den Eigensinn und Eigenwert jedes einzelnen, auch nichtmenschlichen Wesens. Er steht auch für das Zusammenführen von wissenschaftlichen mit ethischen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten eines Gegenstands und für die Hoffnung auf den letztlich harmonischen Zusammenklang des vielstimmigen Mit- und Gegeneinanders.
Bei 'Diversität' handelt es sich um einen sehr jungen politischen Schlüsselbegriff. Parallelausdrücke wie Verschiedenheit, Vielfalt, Vielheit, Mannigfaltigkeit sowie die Komplementärbegriffe Einheit, Ganzheit, Allgemeinheit verweisen zwar auf ein Wortfeld mit weit längerer Vorgeschichte. Doch eine Begriffsgeschichte, der es um die soziale Reichweite von Begriffen und ihre kommunikativen Funktionen geht, interessiert sich besonders für diskursive Knotenpunkte und Zäsuren, an denen sich bislang weitgehend getrennte Begriffsstränge vereinigen oder wo durch neue semantische Prägungen ältere Bedeutungen aufgesogen, umgeschmolzen und neu perspektiviert werden. Der Begriff zirkuliert heute in verschiedensten Feldern (Politik, Kultur, Ökonomie, Biologie, Ökologie, Chemie) und verschränkt diese zugleich miteinander. In die wechselseitigen Übertragungen fließen dabei jeweils die Bedeutungen einer Fülle von Nachbarkonzepten ein, so dass 'Diversität' als interdisziplinärer Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie Anerkennung, Multikulturalismus, Integration, Inklusion, Identität, Political Correctness) rekonstruiert werden muss. Obwohl sein Aufstieg sich der Artikulation von sozialen Konflikten und Krisen der gesellschaftlichen Naturbeziehungen verdankt und sich mit seiner Verwendung sehr unterschiedliche Interessen verbinden, imponiert er doch als ein Begriff, der vor allem positiv besetzt wird und, ähnlich wie etwa der parallele Schlüsselbegriff Nachhaltigkeit, spontan Plausibilität und eine geradezu naturwüchsige Konsensualität findet.
The paper engages with the works of Thomas Kling (1957-2005) and elaborates on the specific incorporation of history in Klings poetics. Kling was both known for his wild style of lyrical performance as well as for his vast knowledge of history. Kling aptly puts the style of his lectures in the tradition of the "histrion", the actor in ancient Rome. The paper argues that the connection of history and the theatricality of the histrion becomes fundamental to his poetics. History is for Kling a material that combines linguistic, cultural and literary references that need a performative elaboration. The paper traces this constellation of performativity and history within Klings early poems and essays. It then turns towards a reading of his poems "Manhattan Mundraum" and "Manhattan Mundraum Zwei". In these poems Kling intertwines the performative aspects of his poetics with an inquiry into the history that has shaped the island of Manhattan and the language of its "Mundraum".
Im Beitrag werden zwei filmische Positionen zusammengeführt. In beiden finden sich Inszenierungen von Gemeinschaft und Prekarisierungen als ästhetische Aushandlungen einer Politisierung der Filmform. Während der schwedische Film "Folkbildningsterror" (2014) politische Zustände im Musical zur Disposition stellt, untersucht der US-amerikanische Thriller "The Owls" (2010) die Konsequenzen homophober Entwürfe lesbischer Figuren im Film, die bis in die aktuelle Filmgeschichte reichen.
Der Beitrag unternimmt einen Vergleich zweier Romane, die inhaltlich, erzähltechnisch und sprachlich eng miteinander verknüpft sind, obwohl ihre Entstehungszeiten etwa 50 Jahre auseinander liegen: Juan Rulfos "Pedro Páramo" und Yuri Herreras "Señales que precederán al fin del mundo". Beide Autoren lassen ihre Figuren aus einem Nicht-Ort oder einem "unsichtbaren Ort" (was die wörtliche Übersetzung von 'Hades' wäre) sprechen, aus dem Paradox des "Ich-bin-tot"-Sagens, und verweisen damit auf altmexikanische, altgriechische sowie mittelalterliche Unterweltreisen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass von dort niemand zurückkehren kann, dennoch ist es einigen mythologische Figuren gelungen, die Grenze zwischen Leben und Tod gewissermaßen kurzzeitig außer Kraft zu setzen: Orpheus, Odysseus, Herakles, Aeneas, Dante, bei den Mayas sind es Junajpu und Xbalanq'e, die im Ballspiel die Herren Xibalbas, der Unterwelt der Maya, besiegen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die eigentlich unerlaubte Wiederkehr bzw. Rückkehr hängt eng mit der Schau einer Vergangenheit zusammen, die zentral ist für ein Verständnis der regionalen/nationalen Gegenwart. Den Romanen Rulfos und Herreras ist eine inszenierte Abwärtsbewegung gemeinsam, der schrittweise Abstieg in eine politische Vergangenheit, die die Gegenwart der Protagonist*innen verstehen helfen soll. Beide Romane verbinden damit auch eine Suche nach einem abwesenden Familienmitglied. Zudem greift Herrera auf die besondere Erzählweise Rulfos zurück, die sich erst aus einem Sprechen aus dem Tod ergeben kann.
Auch wenn die hier skizzierten Aspekte von Geschichtstransformation als eines funktionalisierten produktiv-variierenden Reproduktionsakts notwendig vorläufig und schematisch geblieben sind, dienen sie doch als heuristische und begriffliche Hilfsmittel, die es erlauben, die einzelnen Transformationsfälle miteinander in Beziehungen zu setzen und innerhalb eines potentiellen Spektrums historischer Rezeption zu verorten, denen die vier Sektionen des Bandes Rechnung tragen. Dies ist umso wichtiger, als ein wesentliches Anliegen darin bestand, die Vergangenheitsaneignung in ihrer historischen Breite sowie ihrer formalen Variabilität zu erfassen: So reichen die Beispiele von der Vormoderne bis in die jüngste Gegenwart - mit Konzentration auf Zeiten intensivierter Geschichtsbezogenheit wie Renaissance und Frühe Neuzeit (Rau,Schirrmeister), Vormärz und Historismus (Immer, Jäger) oder Klassische Moderne (Meid, Modlinger, Wiegmann-Schubert). Der Verfahrens- und Funktionsvielfalt entsprechen die gewählten methodisch-theoretischen Paradigmen: Dass sich die einzelnen Konkretisierungen aus der Perspektive des Linguistic Turn (de Dobbeleer/Russell) ebenso erschließen wie im Rekurs auf narratologische (Geilert/Voorgang,Suslak), mythentheoretische (Lammel) oder postkoloniale (Sieber) Ansätze, indiziert die spezifische Anschlussfähigkeit des transdisziplinären Kulturphänomens "Geschichtstransformation".
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte der Geschichtsmetaphorik versteht sich als Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" die Metaphorik nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen Darstellungen herausgestellt und speziell an die verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschichtlicher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der Interpretationssprache nach und diskutiert damit verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen der von Koselleck der Geschichtsphilosophie zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie dem 'Crashkurs' oder dem 'Realexperiment') werden die historischen Grenzen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ausgelotet.
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Kyung-Ho Cha widmet sich in seinem Beitrag Benjamins Reaktion auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938. Den Ausgangspunkt des Aufsatzes bildet der Vergleich zwischen der Methode, die seiner Arbeit am Passagen-Werk zugrunde liegt, und der "Methode der Atomzertrümmerung", womit er sich auf die Kernspaltung bezieht. Im Aufsatz wird gezeigt, wie Benjamin mit dem Begriff aus der Kernphysik die in der Geschichte verborgenen und unsichtbaren Energien zu erfassen versucht.
Editorial
(2020)
Diese Ausgabe des "Forums Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" vereint zwei Themenschwerpunkte, die, unabhängig voneinander entstanden, auch inhaltlich zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In drei englischsprachigen Beiträgen des ersten Teils geht es um die sich semantisch und in ihrer historischen Genese überlappenden Begriffe 'Energie', 'Entropie' und 'Anthropozän'. Der zweite Themenschwerpunkt behandelt begriffshistorische Verschiebungen im Theoriegebäude der Sprachwissenschaft. Die Ausgabe wird beschlossen durch den Politikwissenschaftler Kari Palonen (Universität Jyväskylä, Finnland), der einen Band zur Geschichte der politischen Ideengeschichte rezensiert.
Weltschmerz
(2018)
"Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Und so kommt er in die Welt, dieser eigentümliche Schmerz, der im Kontext seiner literarischen Geburt zunächst ein rein göttliches Befinden auszudrücken scheint, als 'Genitivus objectivus' vielleicht aber auch den Schmerz der Welt postuliert. Sein Schöpfer Jean Paul (1763−1825) hat den Begriff im Text nicht eigens markiert, ihn weder formal noch erklärend als Neuschöpfung konstituiert. Der Weltschmerz tritt eher beiläufig auf (das "so zu sagen" im Zitat bezieht sich auf das göttliche Aushalten desselben); er fügt sich in den Text, als wären Autor und Leser gleichermaßen vertraut mit ihm. Und tatsächlich wird der 'Weltschmerz' im Nachhinein als eine Art Begriffsvehikel für ein weitgehend älteres Befinden gedeutet - eine innere Zerrissenheit und Trauer über die Unzulänglichkeit der Welt -, das keiner zusätzlichen Erläuterung bedurfte und in der Spätromantik lediglich ein neues sprachliches Gewand erhielt.
Weltmusik
(2018)
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg Capellen, der 1905 für einen 'neuen exotischen Musikstil' plädiert: Waren 'exotische' Motive bislang nur als "Kuriosum" in der europäischen Musik vertreten, erhofft sich Capellen, "falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen", die Etablierung eines "exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine[r] 'Weltmusik'". Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung mit anderen Formen der Rhythmik. Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des Begriffs.
Die Begriffsgeschichte ist vom Singular besessen. Pluralformen kommen nur unsystematisch und am Rande vor. Darin gleichen die mehrbändigen Lexika, Gumbrechts "Pyramiden des Geistes", den allgemeinen Wörterbüchern, in denen der Plural gemeinhin nur abgekürzt und kodiert zwischen Klammern vorkommt: "(-en, ‑en)". Der Obergrundbegriff ist für Koselleck bezeichnenderweise der "Kollektivsingular", ein Wort, das die Fähigkeit verloren hat, einen Plural zu bilden. Begriffe wie 'Geschichte' und 'Fortschritt' sind im Plural vorgekommen und haben damit verschiedene Prozesse und Zeitverläufe beschreiben können. Aber im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben eine Verengung und eine Vereinheitlichung stattgefunden, die zur Verdrängung der Pluralbildungen führten. Plötzlich haben sie nicht mehr die Kraft, distributive Pluralformen in die Welt zu bringen, 'Geschichten' und 'Fortschritte', die eine mehrzeitige Welt voraussetzen. Nunmehr treten sie nur im Singular, mit kollektivem Subjekt auf. 'Fortschritt' heißt jetzt immer Fortschritt der Menschheit. Ein für alle Mal grenzt die Begriffsgeschichte Parallelwelten, Multiversen, die Realität der Quantenphysik aus der Semantik der Begriffe aus, im selben Moment, als sie zu "unseren Begriffen", so Koselleck, werden. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte über ein Lexikon des Plurals, der Pluralbildungen nachgedacht werden, ein Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe 'pluralis'", oder "Geschichtliche Grundpluralbildungen".
Weltanschauung
(2018)
In einem leicht zugeschnittenen Sinn kann die Einsicht, dass "Welt je schon übersetzt" ist, als gedanklicher Kern der im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden 'Weltanschauung' betrachtet werden. Dass die Welt dem Menschen niemals gar nicht und niemals vollständig gegeben ist, dass sie immer schon da und doch immer neu zu perspektivieren ist, hat in diesem Wort Ausdruck gefunden. Dadurch wird nun allerdings weniger verständlich als umso verwirrender, dass auch 'Weltanschauung' den 'Untranslatables' angehört. Als lexikalische Instanz eines modernen Pluralismus kann dieses Wort in seiner einzelsprachlichen Unbeugsamkeit nicht recht überzeugen.
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
Troika
(2018)
Im (west-)europäischen politisch-administrativen Sprachgebrauch der Gegenwart finden sich kaum russische Wörter. Die Karriere des russischen 'Troika' ist so ein seltener Fall, der auch in Russland Aufmerksamkeit weckte. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte der Begriff erst nach 2000, als die EU eine Dreiergruppe - die Troika - aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission einsetzte, um die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung während der Staatsschuldenkrise zu überwachen. Die begriffliche Assoziation zu den unter gleichem Namen bekannten außergerichtlichen Straftribunalen in der Sowjetunion der Stalinzeit war wohl zu offensichtlich, weshalb die EU auf Drängen Griechenlands die Bezeichnung 'Troika' später durch den neutralen Begriff 'Institution' ersetzte. Warum die EU einen politisch derart kompromittierten Begriff überhaupt in ihren Sprachgebrauch aufnahm, scheint nur schwer nachvollziehbar. Reduziert man allerdings die Begriffsgeschichte der 'Troika' allein auf die semantische Spur des Straftribunals, bleiben die Registerwechsel zwischen höchst unterschiedlichen kulturellen Bereichen im 20. Jahrhundert ausgeblendet.
Vielleicht denken derzeit die meisten zuerst an das Auto, wenn von 'Trabant' die Rede ist. Vielleicht sogar an dessen himmelblaue Ausführung, selbst wenn sie im Straßenbild inzwischen fremd geworden ist. Und wenn man 'fremd' mit 'unbekannt' übersetzt, dann trifft das den Trabanten nicht nur, weil der Begriff ein Fremdwort ist, sondern auch, weil unbekannt ist, aus welcher Fremde es stammt. Seine Herkunft ist nicht zweifelsfrei belegt. So hat man seinen Ursprung im Italienischen, im Deutschen oder im Türkisch-Persischen vermutet, von wo es über das Ungarische und Rumänische in die westeuropäischen Sprachen gelangt sein könnte. Im Grimm'schen Wörterbuch werden diese Annahmen jedoch samt und sonders als nicht stichhaltig verworfen. Umso wahrscheinlicher aber sei seine Herkunft aus dem Tschechischen, woher es zur Zeit der ersten Hussitenkriege entlehnt wurde, wobei dem dort schon im 15. Jahrhundert nachweisbaren 'dráb', dem 'fuszkrieger', im Deutschen die Endung '‑ant' hinzugefügt worden sei, ein Muster, wie es auch bei 'sarjant' oder 'brigant' verwendet worden war.
"Toughness has been rather out of fashion, as a masculine virtue", so William Gibson schon 2002. Die 'toughe Frau' scheint dagegen noch in aller Munde: zumindest im deutschsprachigen Raum gilt 'tough' als reflexartig einspringende Vokabel für die Kennzeichnung weiblicher Erfolgstypen: "kämpfende Amazone", "eiserne Lady" oder 'superwoman' bleiben als denkbare Synonyme ohne jede Chance. In hoffnungslos inflationärem Gebrauch schreiben die Titelzeilen der Lifestyle- und Frauenmagazine nahezu jeder in den Fokus gerückten Person das Epitheton zu, das zumindest in dieser Verwendung als unübersetzbar gelten muss, vielleicht aber auch gar keiner Übersetzung bedarf: handelt es sich doch - entgegen allem Anschein - um ein deutsches Wort, vermutlich so urdeutsch wie 'Handy'.
Synergie
(2018)
'Synergie', von griech. 'syn' ('mit', 'zusammen') und 'en-ergeia' ('Wirken'), beschreibt heute kooperative Effekte in der Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, für die der aristotelische Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gilt. Doch 'Synergie' ist nicht nur ein Wort der Gegenwart. Mitte des 19. Jahrhunderts wird 'Synergie' (Adj. 'synergetisch') als Fremdwort in der deutschen Sprache mit der Bedeutung "Mitwirkung, Hilfe" angeführt. Bereits früher in die Bildungssprache eingegangen ist der 'Synergismus' (Adj. 'synergistisch'), die "Lehre von der freien Mitwirkung der Menschen zu ihrer Seeligkeit". Beide Einträge verweisen zunächst auf die Philosophie und christliche Theologie der Antike.
Der georgischen Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger alltäglich gebrauchten deutschen Fremdwörtern. Den meisten haftet ihr Umweg durch das Russische an, den sie während der kaiserlichen und späteren sowjetischen Herrschaft über Georgien gemacht haben. [...] Allerdings stößt man in dem prägenden sowjetgeorgischen Fremdwörterbuch, das zwischen 1964 und 1989 dreimal aufgelegt wurde, gerade beim Eintrag 'schtraikbrecheri' auf eine durchaus seltsame Bestimmung: "schtraikbrecher-i (dt. 'Streikbrecher') - in kapitalistischen Ländern: eine Person, die während des Streiks arbeitet und den Streik stört." Die stillschweigende Voraussetzung, Streikbrecher existierten nur "in kapitalistischen Ländern", weil es in den sozialistischen keine Streiks gebe, wirft in ihrer Verlogenheit erst recht die Frage nach der Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs auf.
Die programmatische Allgegenwart des 'Sozialen' nährt den Verdacht, wir hätten es hier mit einem leeren und nichtssagenden Plastikwort zu tun, das vielleicht gebildete Dignität und moralisches Engagement vortäuscht, aber semantisch durchaus nicht zu fassen ist, weil es eben nichts Bestimmtes zu bedeuten vermag. Clemens Knoblochs These ist hingegen, dass 'sozial' in den Jahren um 1900 zu einer semantischen Chiffre wird, in der sich die Erfahrung reflexiv verdichtet, dass die dringlichsten Probleme der industriekapitalistischen Entwicklung diejenigen sind, die durch diese Entwicklung selbst erst hervorgebracht werden. Platt gesagt: die unbeabsichtigten Nebenfolgen des allgemeinen Fortschritts: Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten, Landflucht, Proletarisierung, Stockungen im Warenabsatz, Armuts- und Elendsseuchen, Analphabetismus etc. müssen sowohl 'staatlich' als auch 'gemeinschaftlich' bearbeitet werden. Mittels 'sozial' erhalten all diese (im Schlagwort der "sozialen Frage" resümierten) Probleme so etwas wie eine Adresse. Und fortan wird 'sozial' programmatischer Bezugspunkt all dessen, was sich auf die unerfreulichen Folgen und Begleiterscheinungen der kapitalistischen 'Entwicklung' bezieht. Es wird kompensatorisch, es wird (linguistisch gesprochen) nicht nur zum Relationsadjektiv, sondern zu einem pauschalen Verweis darauf, dass die qua 'sozial' modifizierten Nominalphrasen (bzw. das, was sie nennen) einen Bezug auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion haben. Diese Facette fehlt naturgemäß völlig im lateinischen 'socialis', das die ausdrucksseitige Quelle des heute in vielen Sprachen vertretenen Internationalismus 'sozial' ist.
Software
(2018)
Software regiert die Welt. Software hat die alte Unterscheidung von Geist und Materie - aufgemischt. Im engeren, in der und durch die Informatik terminologisch gewordenen Sinn meint der Begriff die Programme, die auf Universalrechenmaschinen (als der Hardware) zum Laufen gebracht werden können. Aber auch deren Bedienungsanleitungen wurden weiland dazu gezählt. Ebenso sind auch die gemäß den Befehlen der Programme verarbeiteten Daten und Adressen nicht Hard-, sondern Software. Die ganze heutige Bilderwelt im Web und auf den Milliarden Handys, alle gestreamte und downgeloadete Musik, nicht anders als dieser Text hier (bevor er in Druck gegangen sein wird): Alles ist Software. Und nichts ist Software. Weil ja auch jenseits der Schrift auf Papier, der Spur im Vinyl, des Granulats von Silbersalzen, kurzum: im sogenannten Digitalen nichts ohne die physikalisch-elektrischen Zustände der es prozessierenden Schaltkreise geht. Insofern gilt: Es gibt keine Software. Es gibt nur das Milliardengeschäft der Illusion, dass alles Software sei. Vielleicht könnte man sagen, dass 'Software' zu nichts anderem ge- und erfunden wurde, als um genau diese 'coincidentia oppositorum' von Alles und Nichts zu bezeichnen - oder hinter ihrer Bezeichnung zu verstecken. Beide Seiten machen jedenfalls erklärlich, dass es ein eigenes Wort für die Sache brauchte. Als Fremdwort außerhalb des englischen Sprachraums kann die einmal etablierte Vokabel, ebenso Unklarheiten mit sich führen, wie sie als 'terminus technicus' (im Englischen wie in anderen Sprachen) auch für das genaue Gegenteil, nämlich wissenschaftliche Präzision, einstehen kann.
Theodor W. Adornos berühmt-berüchtigte Verteidigung des Fremdworts als "Exogamie der Sprache" wirft neben anderen Fragen auch die auf, ob denn hier Fremdsprache gleich Fremdsprache sei. [...] Immerhin lenkt Adornos Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen in der Begriffsgeschichte unterschätzten Aspekt: Bedeutungsveränderungen, die eine Terminologie durchläuft, sind nicht selten mit sich wandelnden emotionalen Konnotationen verbunden. Begriffsgeschichte ist auch eine Geschichte der 'languages of emotion'. Besonders deutlich wird das an Begriffen wie 'Roboter'.
Rettungsschirm
(2018)
Macht sich die Zweideutigkeit des "Rettungsschirms" im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als 'umbrella' ("Regenschirm") oder als 'parachute' ("Fallschirm") auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen 'rescue umbrella' oder 'rescue parachute' lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen. Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen. Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von 'rescue umbrella/parachute' die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte. Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben. Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist.
Resilienz
(2018)
Im 'Posthistoire', so kann man wohl feststellen, wird die Aufgabe der Abblendung sozialer Risiken von Begriffen übernommen, die dem weiten Feld ökologischer Debatten entnommen sind. In diesem Sinne hat Norbert Bolz unlängst die inflationäre Rede von 'Nachhaltigkeit' oder 'sustainability' analysiert. [...] Die Übertragung des Begriffs der Nachhaltigkeit aus dem Bereich der Forstwirtschaft in den Bereich gesellschaftspolitischer Debatten hat ihren Grund in der utopischen Aufladung ökologischer Ansätze in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit den sechziger Jahren. Das von Bolz benannte Problem ist also nicht allein eines der politischen Rhetorik, sondern darüber hinaus das einer zunehmend undeutlicher werdenden epistemischen Differenz von Natur und Gesellschaft. Dies schlägt sich in der Verwendung von Begriffen nieder, die gleichermaßen natürliche und soziale Prozesse zu beschreiben vermögen und sich dabei zugleich als wirkmächtige Metaphern für die Programmatiken eines soziotechnisch ausgerichteten Regierens anbieten. Exemplarisch lässt sich dies am Begriff der 'Resilienz' studieren.
Trotz der sorgsam gepflegten Begriffsgeschichte (kaum ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fachwörterbuch ohne entsprechendes Lemma) scheint 'Religion' ein auffällig unkonkreter, im Grunde ungeklärter Begriff, der in Anbetracht dessen in seinem Alltagsverständnis erstaunlich wenig erklärungsbedürftig scheint. Das Problem der Religionswissenschaft, ihren Gegenstand zu bestimmen, - dies soll hier als Indiz für das Problem mit dem Begriff 'Religion' dienen - liegt vielsagenderweise u. a. darin, dass keine Definition in der Lage ist, alles, was man als Religion zu bezeichnen gewohnt ist, gleichzeitig abzudecken und jeder Definitionsversuch als einseitig und letztlich als voreingenommen abgelehnt wurde. Es gab nie und gibt bis heute keine konsensfähige Definition und einige Fachvertreter*innen geben gar zu bedenken, so etwas wie Religion gebe es im Grunde eigentlich gar nicht.
Proletarier
(2018)
Der These des Begriffshistorikers Werner Conze – enthalten schon im Titel seines Aufsatzes von 1954: "Vom 'Pöbel' zum 'Proletariat'. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland" - hat der radikale Sozialhistoriker Ahlrich Meyer bescheinigt, im Gewand "neutraler" Begriffsgeschichte im nachhinein bloß ein sozial-eliminatorisches Programm zu sanktionieren, dessen letzte Konsequenzen erst die Nazis endgültig exekutiert hätten - mit tatkräftiger "wissenschaftlicher" Unterstützung von Historikern wie dem Conze-Freund Theodor Schieder oder eben Conze selbst. Die "postnazistische" westdeutsche Geschichtswissenschaft habe letztlich bloß das alte "nazistische Programm der staatlichen Integration der deutschen Kernarbeiterklasse auf die Geschichte projiziert". Wie dem auch sei - auch hier wird einmal mehr deutlich, dass Begriffsgeschichte von Begriffspolitik nicht zu trennen ist. Aber zurück zum Vormärz: Wie immer man die "Conze'sche Integrationsthese" (Meyer) einschätzen mag, mit dem 'Pöbel' und dem 'Proletariat' stehen sich zwei sozialhistorische Protagonisten gegenüber, deren Begriffsgeschichte im Deutschen allemal problematisch ist.
Petra Gehring greift nach einem Ausdruck, der erstens in der Sprache des Faches Philosophie zuweilen in semi-terminologisch wirkender Art und Weise vorkommt, der zweitens, wie man in der Metaphernforschung sagen würde: realsemantisch auf Ingenieurswissen verweist und der drittens auf vielversprechende Weise - was die konkrete Herkunft angeht - changiert: die "Plattform". Ohne in der Wirbelschleppe einer ganz bestimmten Thematik diskursfähig geworden zu sein, hat sich das Wort in der Arbeitssprache der Geisteswissenschaften jedenfalls so weit festgesetzt, dass man es als eingebürgert bezeichnen kann. Um einen "naturwissenschaftlichen" Term handelt es sich nicht, man wird vielmehr an eine begehbare Fläche, an eine Stützpfeilerkonstruktion, die Ausblicke eröffnet, und insofern zuerst und zu Recht an Bautechnik denken. Gleichwohl kennen wir inzwischen auch die Online-Plattform und überhaupt besteht da ein Anfangsverdacht, der in Richtung Kommunikationstechnik weist.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Messie
(2018)
Erst seit 2004 findet man im Duden zwischen 'Messias' und 'Messing' das neue Lemma 'Messie'. Es bezeichnet eine "Person mit chaotischer Unordnung in der Wohnung". Etwas später ist der Begriff auch in der Medizin zwar nicht gerade heimisch geworden, doch hat er sich zumindest eingenistet: Zwischen 'Mesmerismus' und 'Messung' verweist der "Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie" 2012 mit dem Lemma 'Messie-Syndrom' auf den Haupteintrag 'Vermüllungssyndrom': "Bez. für zwanghaftes Horten u. Sammeln z. T. wertloser Gegenstände (Sammelzwang) u. die Unfähigkeit, sich davon zu trennen; [...] Wohnungen bzw. Häuser sind kaum begehbar, z. T. entstehen hygienische Probleme (z. B. bei Sammeln v. Joghurtbechern)". Zwar leitet sich der Begriff 'Messie' vom englischen 'mess' - "Unordnung, Durcheinander, Chaos, unübersichtliche Situation" - ab, doch scheint es sich um einen Pseudoanglizismus wie 'Handy' oder 'Fitness-Studio' zu handeln [...] Aber auch wenn englische Muttersprachler den Begriff 'Messie' heute nicht sofort verstehen, stammt er eben doch aus dem Englischen, genauer gesagt, aus dem Amerikanischen.
Mauscheln
(2018)
Der Begriff 'Mauscheln' ist paradox: er existiert in keiner anderen Sprache als im Deutschen und ist unübersetzbar. Als Fremdwort wird er zumindest im Englischen gebraucht, doch aus dem deutschen Wortschatz ist er heute verschwunden, zumindest soweit dieser ein öffentlicher ist. 'Mauscheln' ist verpönt, obwohl der Begriff seit dem 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Als Ausdruck des "Verhältnisses zwischen Juden und Christen in Deutschland" haften ihm antisemitische Stereotypen über den betrügerischen Juden an. Seine Geschichte hält die Erfahrung fest, dass die "Verfolgung und Vernichtung der Juden durch sprachliche Agitation vorbereitet" wurde. Sie geht allerdings nicht in dieser Erfahrung auf.
משל [maschal] - Spruch, Gleichnis, Herrschaft, Prägung ... : über die Faszination einer Wurzel
(2018)
In dem 1792 veröffentlichten Aufsatz "Spruch und Bild, insonderheit bei den Morgenländern" entwickelt Johann Gottfried Herder eine Apologie der Spruchdichtung, die zwischen Poesie und Prosa, zwischen Volksdichtung und Kunstliteratur stehe und vor allem im 'Morgenland' - also bei den Persern, Arabern und Hebräern - in Blüte gestanden habe. [...] Dabei bezeichne jenes 'Wort' משל nicht nur Ursprung und Natur der Sprüche, sondern sogar den expressiven Charakter der menschlichen Sprache überhaupt, wie Herder mit einem Hamann-Zitat fortsetzt: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts [...]. Sinne und Leidenschaften verstehen nichts als Bilder." Sprüche, Bilder, Sinne, Leidenschaften - all das, so legt der Text nahe, bildet einen Zusammenhang, den Herder und auch andere gerne den des 'Ausdrucks' nennen, der hier aber "mit einem einzigen Wort" umrissen wird, eben mit dem Graphem משל, einem Ausdruck von 'Ausdruck'. Was 'bedeutet' dieser Ausdruck und was bedeutet es, diesen Ausdruck so in den Text einzufügen, wie Herder das tut?