CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Innovation
(2019)
Der kanadische Wissenschaftshistoriker Benoît Godin legte im Jahre 2015 die erste umfassende Begriffsgeschichte von 'Innovation' vor, die sich im Wesentlichen auf englisch- und französischsprachige Quellen bezieht. Falko Schmieder beschäftigt sich nun mit der ersten begriffsgeschichtlichen Studie zur Verwendung von 'Innovation' im Deutschen, Susanna Webers "Innovation. Zur Begriffsgeschichte eines modernen Fahnenworts". Den aktuellen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung einer enormen Reichweite und Expansion des Begriffs in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen.
Intellectual history
(2018)
Kaum einer der ins Deutsche eingewanderten Termini ist von so vielen Nachbarn umgeben wie 'intellectual history': Ideengeschichte, 'history of ideas', intellektuelle Geschichte, Intellektuellengeschichte, Intellektualgeschichte, Geistesgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, historisch-semantische Epistemologie und einige andere mehr. Das Terrain ist dicht besetzt und teilweise hart umkämpft, und gerade das prädestiniert den Begriff zur Aufnahme in einen Katalog der unübersetzbaren Ausdrücke. Denn einige der Nachbarn erheben Gebietsansprüche, andere grenzen sich ab und errichten Zäune, einige wenige lassen sich entspannt auf keine Grenzstreitigkeiten ein. Bei letzteren - der verlustfrei übersetzbaren 'History of ideas' sowie der Philosophiegeschichte - handelt es sich um alte Bekannte aus Kindertagen. Der Umstand, dass 'intellectual history' sich in einem solchen Umfeld behaupten kann, dass sie weder mittels Übersetzung assimiliert noch überhaupt verdrängt wird, hängt damit zusammen, dass der Ausdruck offenbar über eine spezifische Differenz zu möglichen Übersetzungen oder Kandidaten zur Besetzung seiner Stelle verfügt. Worin diese spezifische Differenz besteht, zeigt die Geschichte dieses begrifflichen Kompositums.
"A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?" - so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten. Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie "If we go ahead on this, everyone will die" oder "We are drifting toward a catastrophe beyond comparison" auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay "You and the Atomic Bomb" (1945) eröffnet hatte - ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.
Kontingenz / Zufall
(2019)
Bis zum Jahr 2003, als Peter Vogt, auf dessen Habilitationsschrift "Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte" Verena Wirtz im Folgenden eingeht, Teil des von Hans Joas geleiteten Forschungsprojekts "Kontingenz und Moderne" wurde und der Begriff von der Peripherie ins Zentrum interdisziplinärer Forschung rückte, handelte es sich um eine noch nicht begriffene Geschichte. Dabei war 'Kontingenz' als Mode- und Schlagwort der klassischen Moderne längst zu einem Grundbegriff der Postmoderne avanciert. Zunächst und primär Gegenstand der Philosophie, dann Leitbegriff der Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch die kontingenzscheue Geschichtswissenschaft des Begriffs und Sachverhalts des Unverfügbaren in der Geschichte angenommen.
Die Absicht von Johannes Rohbecks Beitrag ist eine kritische Würdigung der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck. Dabei konzentriert sich Rohbeck auf Kosellecks Untersuchungen über die Historiographie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. [...] Zunächst beginnt Rohbeck mit den Verdiensten Kosellecks um die Geschichtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Da diese Leistung unbestritten ist, beschränkt er sich bei seiner Würdigung auf einige Hinweise. [...] Danach stellt Rohbeck einige begriffsgeschichtliche Behauptungen infrage; hier handelt es sich um philologische Korrekturen zu den Begriffen Fortschritt und Geschichte. Rohbeck zeigt außerdem, dass diese Korrekturen auf Kosellecks grundsätzliche Positionen verweisen. Sodann zielt seine Kritik auf allgemeine Einschätzungen zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Moderne, insbesondere auf die These von der 'Unverfügbarkeit der Geschichte'. Im Gegensatz zu Koselleck glaubt Rohbeck, dass es einige aktuelle und drängende Probleme gibt, die menschliches Handeln erfordern, um wenigstens teilweise in die Geschichte eingreifen zu können.
In der sehr alten Deutungsgeschichte der Melancholie gibt es um 1475 eine dramatische Szene, von der Panofsky/Saxl in ihren bahnbrechenden Forschungen zur "Melencolia" von Albrecht Dürer berichten: der hermetische Neuplatoniker Marsilio Ficino klagt in einem Brief seinem Freund Giovanni Calvacanti, daß er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Saturn - das ist hier der maligne Stern, der fernste des Planetensystems, der Gott des Dunklen, Kalten und Schweren; rätselhafte, schwer entzifferbare Gottheit der Zeit; uralter Flurgott oder auch der gestürzte und kastrierte Uranide. Viele, auch widersprüchliche Traditionen fließen in der Semantik des Saturns zusammen. Innerhalb der Astralmedizin ist der Saturn der Regent der schwarzen Galle, der Milz, der kalten, trockenen Erde. Diese Komplexion aus Astrologie, Elementenlehre, Anatomie und Humoralpathologie bildet den Typus des melancholischen Temperaments. ...
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
Leistung
(2019)
Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Begriffe seiner Selbstbeschreibung hervorgebracht: Die 'Leistungsgesellschaft' ist eine dieser gängigen Selbstzuschreibungen, die sich im Kern auf einen Begriff zurückführen lassen: 'Leistung' erscheint auf den ersten Blick als klar zu fassen - wenn nicht sogar mathematisch-physikalisch präzise definiert als 'Arbeit pro Zeit'. Doch erschöpft sich das Bedeutungsspektrum des Leistungsbegriffs in dieser Formel? Was will eine Gesellschaft von sich aussagen, wenn sie sich als 'Leistungsgesellschaft' versteht? Jasmin Brötz geht im Folgenden auf Nina Verheyens populärwissenschaftliche Vorschau (Die Erfindung der Leistung, München 2018) auf ihr Habilitationsprojekt ein. [...] Grundlegende These des Buches ist, dass in der Gesellschaft Leistung gemeinhin als "individuelle Leistung" verstanden wird. Kollektive Anteile an einer Leistung, so Verheyen, werden dabei systematisch ausgeblendet. Die Autorin wirbt daher für ein "soziales Leistungsverständnis", das kollektive Aspekte von Leistung ebenso berücksichtigt, wie es ein Bewusstsein für das historisch gewachsene und wandelbare Konzept von Leistung entwickelt. Diesen eigenen normativen Anspruch verbindet sie mit einem konstruktivistischen Ansatz, indem sie die Zuschreibungen von Leistung dekonstruiert und darüber hinaus ganz im Sinne von Foucault Leistung als Mittel der Disziplinierung und Hierarchisierung hinterfragt.
Luftmenschen
(2018)
Wörter können zweifach bewegt werden: wie Erbschaften in der Zeit und wie Güter im Raum. Sie gedeihen nicht nur in ihrer eigenen Sprache, sondern auch in anderen, vor allem dann, wenn dort im Mündlichen oder in der Schriftsprache eine Art Bezeichnungs-"Vakuum" besteht: Wo immer sie dringend benötigt werden, dort haben sie potentiell auch Platz. Die Bewegung selbst erfolgt zuerst mit den Sprechern, und mit diesen bleiben Worte auch im Gebrauch lebendig; gehen sie dann in die Umgangs- oder sogar Hochsprache ein, weitet sich ihr linguistischer Einfluss aus, sie werden beständiger, erscheinen fest verknüpft mit ihrer neuen Umgebung. Mitunter ist dann ihre Herkunft im Rückblick nicht mehr so ohne weiteres zu eruieren. Trotzdem bleiben solche Begriffe Indikatoren für ein Milieu, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort bestand und das ihnen ihre erste Ursprünglichkeit eingeschrieben hat. Die deutschen Lehnwörter im Hebräischen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Mauscheln
(2018)
Der Begriff 'Mauscheln' ist paradox: er existiert in keiner anderen Sprache als im Deutschen und ist unübersetzbar. Als Fremdwort wird er zumindest im Englischen gebraucht, doch aus dem deutschen Wortschatz ist er heute verschwunden, zumindest soweit dieser ein öffentlicher ist. 'Mauscheln' ist verpönt, obwohl der Begriff seit dem 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Als Ausdruck des "Verhältnisses zwischen Juden und Christen in Deutschland" haften ihm antisemitische Stereotypen über den betrügerischen Juden an. Seine Geschichte hält die Erfahrung fest, dass die "Verfolgung und Vernichtung der Juden durch sprachliche Agitation vorbereitet" wurde. Sie geht allerdings nicht in dieser Erfahrung auf.