CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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"La Disparition" oder Auf der Suche nach dem verschwundenen Geschlecht Anne Garrétas "Sphinx"
(2008)
Die Grundlage der "dekonstruktiven" Ethik, die dieser Text ex negativo skizziert, wäre die Bereitschaft, (fast) grundlos an die "Realität" des/der Anderen zu glauben, gleichermaßen wie an die des Selbst; die Bereitschaft, die Anderen zu "sehen", in einem Akt, der sie erst "sichtbar" werden läßt – in ihrer "Menschlichkeit", jenseits schließlich auch von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit".
Ich möchte im folgenden Georges Perecs "Un cabinet d'amateur" als einen Text vorstellen, der […] die Kategorien der Repräsentation grundlegend in Frage stellt. Die entscheidende Pointe dabei ist jedoch, daß Perecs Text die (inzwischen wohlfeile und gefällige) Rede von der "Krise der Repräsentation" nicht bloß wiederholt. Der Roman vermag es vielmehr – so meine These –, mit literarischen Mitteln und auf äußerst witzige Weise anschaulich zu machen, wie die kunstwissenschaftlichen und dem Kunstmarkt zuarbeitenden Diskurse, die ein Kunstwerk umschließen […], ungeachtet der Herausforderungen durch die modernen Kunstwerke selbst die
Repräsentationsbehauptung aufrechterhalten. […] Schließlich soll dargestellt werden, daß Perec das Motiv der Kunstfälschung als prominentes poetologisches Paradigma in Anschlag bringt.
Für das Kunstgespräch schöpfte Büchner aus Lenz "und" Goethe, und zwar positiv aus deren ästhetischen Sturm- und -Drang-Positionen sowie – in negativer Abgrenzung – aus Goethes klassischer Ästhetik. Von hier aus ließ sich der Weg begehen, den wir als Selbstverständigung des Autors charakterisiert haben […]. Die Probleme, die im Kunstgespräch angeschnitten werden, lassen sich auf zwei Hauptaspekte zurückführen […].
1. Welche Konsequenzen ergeben sich angesichts der für Büchner zentralen politisch-sozialen Problematik für die in der Kunstperiode ästhetizistisch verengte "Gegenstandswahl"?
2. Wie ist, gegenüber einer traditionell "idealistischen" Kunstpraxis eine neue "realistische" "Technik" zu finden?
Hysterie und Mathematik : die zwei Modelle der Kriminalerzählung: E. A. Poe und E. T. A. Hoffmann
(2010)
In der Nachkriegszeit hat man versucht, das Phänomen der "Detektivgeschichte" von der Kriminalerzählung zu isolieren, um diese in ihrem Charakter als Rätselgeschichte zu erhalten. Die Aufteilung in diese beiden Gattungen wird sowohl mittels eines phänomenologischen als auch eines strukturierenden Ansatzes vorgenommen. Beide Versuche werfen das Problem einer zu scharfen Abgrenzung auf […]. Dabei wäre auch ein flexibleres Modell denkbar […]. Das Konstrukt der Kriminalerzählung wird nach dieser Vorstellung als Komponentenmodell verstanden, das auf zwei parallel existierenden Prototypen basiert, die jeweils einem Paradigma folgen [im Zentrum das Motiv oder die Spur]. […] Mit welch gegensätzlichen Mitteln diese beiden Modelle, repräsentiert von Hoffmann und Poe, arbeiten, soll ein Vergleich anhand der typischen Versatzteile einer jeden Kriminalgeschichte vor Augen führen.
Olmis Verfilmung ist mit Roths Text, mit dessen Schweben zwischen Glauben und Ironie durchaus kompatibel. Diese Feststellung wird im folgenden mit einer intermedialen Analyse belegt, die sich auf den Schluß von Vorlage und Verfilmung konzentriert, um Rauminszenierung als Phänomen von Diegesis und Mimesis zu untersuchen.
Uwe Timms Erzählung ist die Novelle einer Novelle, analog zu den in der Neuzeit zahlreichen Ansätzen zu Romanen eines Romans. Die gattungspoetologische Selbstreflexivität wird in der Verschachtelung der Sujets von Rahmen- und Binnenhandlung ausdrücklich verbalisiert. Mittels intertextueller literarischer Referenzen wird sie direkt evident, indem in einem Kreuzworträtsel, das der "gefangene" Bremer zum Zeitvertreib löst, die Frage nach einer griechischen Zauberin mit fünf Buchstaben ("Kirke") und die nach einer literarischen Gattung mit märchenhaften sieben Buchstaben ("Novelle") gestellt wird. Die logogriphische Siebenzahl verweist auf Kirkes Komplementärfigur "Kalypso" bei Homer, innertextuell auf die "vermittelnde" Protagonistin Lena "Brücker" bei Timm; metatextuell figuriert sie die gattungspoetologisch gestellte und aufgelöste Rätselfigur als gleitende Übergänglichkeit von "Novelle" und "Märchen".
In Fühmanns letzten Jahren ist die Erfahrung des Scheiterns an die Stelle getreten, die seit seinen literarischen Anfängen eine andere Erfahrung eingenommen hatte: die von Schuld und von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Wandlung. Wie beide Erfahrungen – Schuld und Scheitern – zusammenhängen, darum wird es im folgenden gehen.
Der Briefwechsel [zwischen Mann und Adorno] bietet […] im Kontext der Adornoschen Ästhetik sowie später Erzählungen und Romane Thomas Manns eine hervorragende Möglichkeit, die Arbeit am Spätwerk nachzuvollziehen und als Auseinandersetzung mit dem Alter zu diskutieren. Insbesondere erlauben es die umstrittene Erzählung "Die Betrogene" (1952) und Adornos diesbezügliche Interpretation, die Konstellation von Alter, ästhetischer Theorie und literarischem Schreiben zu diskutieren.
Dieses Eigene besteht vor allem darin, daß in [Maiers] Romanen die Problematik des Nihilismus mit dem Funktionieren der menschlichen Sprache und mit der (klein)bürgerlichen Konsumwelt verbunden wird. Im folgenden soll vor allem sein erster Roman, "Wäldchestag" […] einer genauen Analyse unterzogen werden. Dazu werden zunächst Maiers Poetikvorlesungen herangezogen. Die beiden späteren Romane werden dann, ausgehend von diesen Analysen, nur noch kurz erwähnt.
Das Monster ist die der Ordnung immanente Beliebigkeit oder Unordnung, das heißt aber auch: die Verantwortung, deren Aufscheinen am Nicht-nur-Objekt im Blick des Nicht-nur-Subjekts. Das rührt an jenes Wissen, das allein verboten sein kann, das verordnete Metaphysiken […] und ihre "totalitäre[n] Metaphysiker" vergessen machen wollen […]. Mit der beliebigen Verschiebung jenes Limes, der die Allgemeinheit von den Monstern scheidet, zeigt sich, wie viel die Monster vom Menschsein offenbaren, noch ehe man das Monster verklärt […]. Monster sind die Differenz zwischen Demo- und Ochlokratie, sind die Differenz von Rationalität und Rationalismus.
Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, welche Akteur- und Zuschauerkonstellationen sich in Online-Communities aufweisen lassen, die Millionen individueller Nutzer durch Social Software miteinander verbinden. Sind spektatorische Situationen, in denen interagierende soziale Akteure auf einen Dritten treffen, der ihnen zuschaut, auch in medialisierten Formen des sozialen Verkehrs wirksam, in denen die Hauptbedingung der Face-to-Face-Kommunikation, die körperliche Kopräsenz von Akteuren, Co-Akteuren und zuschauenden Dritten, nicht mehr zwingend gegeben ist? Es hat sich erwiesen, daß die webbasierte Gruppendynamik nur dann angemessen zu erfassen ist, wenn die mehrstelligen Akteur- und Zuschauerkonstellationen analysiert werden, in denen sich die (Selbst-)Strukturierungsprozesse in sozialen Gruppen vollziehen. Die Herausforderungen des Web 2.0 haben Neuansätze zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Akteurtheorien befördert; das Konzept der spektatorischen Situation, das sich auf Perspektiven- und Positionswechsel zwischen Ego-Akteuren, Alter-Akteuren und zuschauenden Dritten konzentriert, kann als eine Variante dieser neuen Akteurtheorien begriffen werden.
Da das Singuläre im Aktionsbereich des Literarischen einen angestammten Ort der Verhandlung und der Ausgestaltung hat, stellt sich die Frage, inwiefern der Literatur selbst eine hiatische Funktion, das heißt die Funktion einer "Atemwende", eines Richtungswechsels, oder weniger luftig gedacht: die Funktion eines Aktes, einer Veränderung bewirkenden Kraft zukommt.
Die Literaturgeschichte quillt über on Werken über den Krieg, aus dem Krieg, mit dem Krieg, gegen den Krieg. Ein Heldenepos schien jahrhundertelang nicht anders denkbar denn als Erzählung von Kämpfern, Kriegern, Eroberern. [...] Im 20. Jahrhundert entstehen, oft im Widerspruch zu solcher Privatisierung, neue Formen, mit dem Krieg, der dieses Jahrhundert noch entsetzlicher traf als vorhergegangene, literarisch fertig zu werden: Dokumentation, Erlebnisbericht, Lautgedicht, Medienkritik, aber auch Schriften, in denen Kriegskameraderie als Alternative zur bürgerlichen Lebenswelt erscheint. Die Jugoslawienkriege der neunziger Jahre haben Europa auch außerhalb der unmittelbar betroffenen Gebiete erschüttert. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur haben ich in den letzten Jahren nicht wenige Autoren mit zeitgenössischen Kriegen befaßt. Aus der Fülle von Texten greife ich drei nicht-fiktionale heraus; drei Reiseberichte, wenn auch höchst unterschiedlicher Natur, von Angehörigen verschiedener Generationen verfßt. Peter Handke ist ein Kriegskind, 1942 geboren; Juli Zeh, Jahrgang 1974, hat die Jugoslawienkriege als Jugendliche über die Medien mitbekommen, Peter Waterhouse, Jahrgang 1956, steht zwischen den beiden Generationen, sein Vater war sowohl im Zweiten Weltkrieg wie auch im Kalten Krieg in einer Weise aktiv, die für den Autor Beweggrund zu vielerlei Fragen ist.
Die Ausrichtung der Blicke : Aspekte des Schauens und Angeschaut-Werdens im Werke W. G. Sebalds
(2010)
In der Art und Weise, wie Sebald Melancholie bei sich als "emotionale Disposition" begreift, überträgt er in seine Prosa eine Vorstellung von Melancholie, die nicht als reaktiver Zustand zu verstehen ist [...], sondern analog zu Hildesheimer als ein konstitutioneller Zustand in Erscheinung treten soll, als ein der Literatur innewohnender Gestus. Melancholie dient dabei einer Fiktionalisierung und darf zugleich nicht fiktionalisiert werden. Melancholie kommt vielmehr subtil zur Geltung; im Blick der Augen, im Blicken der Figuren, im gegenseitigen, kontemplativen Anblicken und in den bildlichen Ausblicken, die die Fotografien gewähren. Diese in die Texte eingelassenen Bilder, die immer auch Blicke nach den ihnen ganz eigenen Regeln und Gesetzen preisgeben, funktionieren wie Fenster, die "unentbehrlichen Requisiten der Melancholie". Für den lesenden Betrachter bedeuten sie nur auf den "ersten Blick" äußerliche Aussichten, denn vielmehr bieten sie Einblicke in
das melancholische Wesen der Sebaldschen Literatur.
Das [im Marmorbild] in Aussicht gestellte Leben ist […] das Band, das die Erzählung der Künste und der Liebe zusammenhält. In dieser Fügung von Kunst und Leben ist der Pygmalion-Mythos als Intertext der Eichendorffschen Novelle eingeschrieben. Die folgenden Überlegungen unternehmen den Versuch diese Textkonstellation unter dem Fokus der bildlichen Lebendigkeit zu lesen.
Es ist bemerkenswert, daß Novalis [der] Idee eines organischen Kosmos, in dem die Elemente nur leben, insofern sie an den kosmischen Stromkreis angeschlossen sind, zwar wesentliche Anregungen übernimmt, in das Zentrum des Schlußbildes vom idealen Staat aber das religiöse Motiv der Anbetung stellt. Fabel bzw. der Poesie rechnet er die Aufgabe zu, die Anbetung des Königspaares und damit die Funktionsfähigkeit des neuen Staates sicherzustellen.
Die politischen Aphorismen des Novalis erfreuen sich nach wie vor einer hohen Aufmerksamkeit durch die institutionelle Literaturwissenschaft. Längst geht es dabei nicht mehr, wie noch in der älteren Forschungsdiskussion, in erster Linie um die Frage, ob man die politische Position des Romantikers nun als "konservativ": oder als "progressiv" zu bewerten hat. Hermann Kurzkes resigniertes Urteil, es gebe "keine richtige Interpretation", sondern nur die kontingente Möglichkeit einer "konservativen" und einer "modernistischen" Lektüre der politischen Aphorismen des Novalis', scheint beinahe das letzte Wort behalten zu haben.
Die Erfahrung ist wohl jedem bekannt, der schreibt und liest, daß ein Satz dann verstanden ist, wenn man das, was er besagt, auch anders formulieren könne. Andererseits gibt es eine eigentümliche Resistenz auch verstandener Worte, ihren Gehalt einfach in neue Formen umzugießen - es gibt zumal im poetischen Text eine Verschmelzung von Evidenz und Einzigkeit, und zwar auch für den Verfasser eines solchen Textes. Nicht ohne Grund scheidet man die "intentio auctoris" von der "intentio operis", gerade am eigenen Text ist dieses Sich-Entziehen des Wortes vielleicht sogar am drastischsten und geradezu bestürzendsten zu sehen.
Wir haben das Feld der sozialen Situationen sondiert und die spektatorische Situation als eine spezifische Zeichensituation und Verkehrsform erörtert. Darüber hinaus sind problemgeschichtliche Aspekte der Figur des Zuschauers zur Sprache gekommen; gleichsam als Bestandteil konzeptioneller Vorarbeiten zur konkreten kultursemiotischen Untersuchung historischer Modelle von Spectatorship in ihrer funktionellen Typenvielfalt.
Was im folgenden Anlaß zur Besprechung gibt, haben die Herausgeber einer Ende der 1960er Jahre erschienenen Sammlung von Computer-Lyrik in aller Bescheidenheit "als Kuriosa am Rande" bezeichnet. Von "Poesie aus dem Elektronenrechner", so der Untertitel, wollte man anscheinend nicht allzu viel Aufhebens machen. Heute, dreißig Jahre später, hat sich diese Einschätzung grundlegend verändert. Was einst unter den Bezeichnungen Autopoeme, Monte-Carlo-Texte oder stochastische Texte in Umlauf gebracht wurde, begegnet nun als Vorschein einer "digitalen" oder "Computerpoesie". Eine Nebensache kehrt damit als einer der Ausgangspunkte einer neuen medialen Form literarischen Schreibens wieder - die solche Ausgangspunkte
vermutlich sucht, seitdem sie an ihrer eigenen Archivierung arbeitet. Solche rekursiven Zuschreibungen sind ubiquitär wie legitim, denn was ein Anfang gewesen sein wird, kann sich der Natur der Sache nach immer erst im nachhinein ergeben. Doch gerade weil dies so ist, wird man sich überlegen können, ob
die Texte, von denen hier die Rede ist, in der heute etablierten Überlieferung restlos aufgehen.
"Schillers praktische Idee der Tragödie." - Sein eigenes Leiden an den Existenzbedingungen des Menschen, der zwischen dem "Zustand" der Gebundenheit an die Widersprüchlichkeiten des Daseins, und der "Person" der befreienden Tätigkeit des Geistes, hin- und herschwebt, hat Hölderlin in Schiller meisterhaft widergespiegelt gesehen. Es ist aber Schillers Fähigkeit des Austragens dieser gespannten Existenzbedingung sowohl in seinen Werken als auch in seinem Leben, die Hölderlin am meisten bewundert hat.
Die Paradigmen des Schlachtgemäldes und der Schlachtbeschreibung dienen Sebald und Simon als Kontrastfolie für ihre Versuche, sich den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts anzunähern. Auf unterschiedliche Weise demontieren beide Autoren den Anspruch dieser Paradigmen auf Transparenz und wenden sich damit auch gegen das Pathos einer bestimmten Tradition der Darstellung des Krieges. Aber zugleich reflektieren beide Autoren die sich zu einem einheitlichen und sinnhaften Ganzen zusammenfügenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gerade in dieser auf Totalität abzielenden Form. Sie ermöglicht ihnen die spielerische Suggestion von Unmittelbarkeit und Intensität bei gleichzeitigem Beharren auf der Unverfügbarkeit einer Erfahrung, die nicht vergessen, aber auch nicht erinnert werden kann.
Die Neuen Kriege seit dem Epochenbruch von 1989 sind Thema der Gegenwartsliteratur geworden, und sie sucht im Raum der Fiktion eine eigene Anschaulichkeit und spezifische Vorstellungen vom Charakter dieser neuen Konflikte zu erzeugen. Zugleich sind diese Neuen Kriege ein Gegenstand der disziplinär erfaßten Diskurse der Wssenschaften, die nach den kurzen Friedenserwartungen im Anschluß an 1989/90 eine Theorie der Kriege im Zeichen einer neuen Globalisierung verstärkt diskutieren. Wenn das gegenwärtige Denken des Krieges literarisch und außerliterarisch seine Kontur gewinnt, erscheint die Relationierung beider Felder geboten, wie in einem neueren literaturwissenschaftlichen Forschungszweig nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen bzw. von literarischen Texten und wissensehaftlichen Diskursen gefragt wird. Das Thema Neue Kriege läßt sich jedoch hier aus zwei Gründen nicht umstandslos einreihen. Der eine Grund ist theoretisch-methodischer Art. Nur die Dualität von disziplinär verfaßten historisch-politischen Diskursen und literarischem Text in den Blick zu nehmen ist zu wenig differenziert. Es ist nötig, sie um eine dritte Dimension zu erweitern: den Komplex der Medien, die als Wissensgeber vom Krieg, als eigene Kriegsmittel und als Gegenspieler der Literatur fungieren.
Die am 6. August 1953 gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG) waren eine privilegierte wissenschaftliche und kulturelle Einrichtung der DDR. Dies entsprach der großen Wertschätzung des "kulturellen Erbes" in diesem Staat. Die Weimarer Klassik sollte "Gemeingut der ganzen Gesellschaft" werden. Das galt, bei allen konzeptionellen Wandlungen, für die Geschichte der DDR von ihrer Gründung im Goethe-Jahr 1949 bis zu ihrem Ende im Herbst 1990 und ist nur ein Beispiel für den Versuch, die Werke der Weltkultur den Bürgern im Geiste des Marxismus-Leninismus nahezubringen und für den Aufbau des Sozialismus produktiv zu machen.
Dichterische Entwürfe des Speisens, Schlemmens und Trinkens, des Kochens und Hungerns sind allerding keine neue Erfindung, vielmehr haben sie eine Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Zum facettenreichen Essensmotiv zählen - neben den Nahrungsmitteln selbst - zum Beispiel deren Zubereitung und Aufnahme. Die Organe des Kauens, Schluckens und Verdauens, der Hunger nach und die Verweigerung von Essen und die dem Speisen innewohnende sinnlich-erotische Komponente. Dies alles wird in zeitgenössischen Gedichten auf vielfältig Weise gestaltet. Was aber macht da Essensmotiv gerade heute so attraktiv, und in welchen Bedeutungszusammenhängen kommt es vor? Worin unterscheidet es sich vom Motiv des Essens in früheren Texten? Der vorliegende Aufsatz diskutiert drei wesentliche Kontexte des Motivs in der deutschen Gegenwartslyrik.
Viele der Erzählstücke Erwin Strittmatters sind weithin von der Erinnerung bestimmt, kamen aus dem Versuch, "die Vergangenheit mit einem geistigen Echolot abzutasten". [...] Im Arrangieren und Kombinieren werden die Erinnerungsbilder überschritten, experimentelle Konstruktionen hervorgebracht, die Beispiele sein können für Einblicke in verwickelte Wirklichkeiten, die womöglich mit schönem Glanz auftreten, die Hinweise werden auf ein unbestimmt Weites, auf offenbare oder verdeckte Möglichkeiten oder die den Entwurf eines Anderen geben.
Weimarer Beiträge 54/2008
(2008)
Die Weimarer Beiträge - seit ihrer Einstellung durch den Aufbauverlag 1991 vom Passagen Verlag herausgegeben - ist eine der renommiertesten Literatur- und Kulturzeitschriften der ehemaligen DDR. Durch ihren interdisziplinären Ansatz, der auch allgemeine kulturelle, ästhetische und politische Überlegungen einbezieht, trägt sie zu einer Einbindung der deutschsprachigen Kulturwissenschaften in die internationale Diskussion bei.
Weimarer Beiträge 56/2010
(2010)
Die Weimarer Beiträge - seit ihrer Einstellung durch den Aufbauverlag 1991 vom Passagen Verlag herausgegeben - ist eine der renommiertesten Literatur- und Kulturzeitschriften der ehemaligen DDR. Durch ihren interdisziplinären Ansatz, der auch allgemeine kulturelle, ästhetische und politische Überlegungen einbezieht, trägt sie zu einer Einbindung der deutschsprachigen Kulturwissenschaften in die internationale Diskussion bei.
Überall im Werke Stephan Hermlins findet man Fragmente von Erinnerungen - in Erzählungen, Gedichten, in Reden, Aufsätzen, Reportagen sowie in im eigentlichen Sinne autobiographischen Arbeiten. Diese Erinnerungen werfen die Frage auf: Was vermögen Erinnerungen bzw. Autobiographie als Gattung? Wann bewegt man sich als Autor einer autobiographischen Schrift innerhalb der Grenzen des in dieser Gattung Möglichen, und wann werden sie überschritten?
Kurz bevor das architektonische "achte Weltwunder" endgültig fallen sollte, bestand es also an abgelegenen Ecken noch immer aus überkommenen und baufälligen Provisorien, aus Elementen ganz unterschiedlicher Bauphasen. Und woraus hatte es anfangs bestanden? Mitte September sowie Mitte November 1961, also wenige Wochen nach dem Mauerbau, wanderten zwei Chronisten die gesamte, 46 km lange innerstädtische Grenze westlicherseits ab, und sie hinterließen ihre Beobachtungen. Fazit: Maroder Mauer-Murks aus Stacheldraht, bröckelnden Fabrik- bzw. Friedhofsmauern und grotesk vermauerten, kriegszerfressenen Hausfassaden. Handelte es sich also überhaupt um eine Mauer? Nur sehr bedingt. Anfangs war da gar kein Mauerbau. Die Einsatzbefehle für die Nacht vom 12. zum 13. August sprachen von pioniertechnischer Sicherung (obwohl Ulbricht schon von Beginn an eine Mauer favorisierte, hatte Chruschtschow maximal Stacheldraht erlaubt). Ulbricht für alle überraschendes fistelndes Diktum auf der Pressekonferenz vom 15. Juni 1961, daß niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten, hatte aus dieser Perspektive also durchaus einen Sinn.
Die kantische Juridifizierung des philosophischen Denkens ist hier im Zusammenhang mit einem Anti-Juridismus zu sehen, den Ian Hunters engagierte Darstellung der Rivalität zwischen einer "zivilen", juristisch geprägten, und einer "metaphysischen" Tradition der Aufklärungsphilosophie überdeutlich gemacht hat: Indem sie das positive Recht transzendiert, um es dem Urteil einer reinen Vernunft zu unterwerfen, stellt die Philosophie eine rechtliche Friedensordnung in Frage, die durch eine religiöse Neutralisierung und immanente Begründung des Gesetzes erreicht worden war. Nach Kant sollte es den letzten Grund seiner Geltung nicht im Willen des Souverän haben, sondern in transzendentalen Prinzipien, die sich den empirischen Kenntnissen der Juristen entziehen und allein den Philosophen zugänglich sind.
Der Tod der Tänzerin oder (De)Konstruktion der Differenz : Paul Morands 'musikalischer' Rassismus
(2009)
Die folgende Analyse versucht die ideologischen Implikationen von Morands Werk am Beispiel der beiden [...] Novellen ["Congo" und "La Mort du cygne"] zu explizieren; zu zeigen, wie diese Texte mit ihrer sehr ähnlichen Sujet-Struktur das "Andere" als Gefahr für eine imaginäre Gemeinschaft der "Unseren" konstruieren und der Vernichtung preisgeben.
Charlies Maschinensturm, so triumphal er streckenweise auch anmuten mag, währt nicht eben lange: Schon bald erklingt die Sirene des herannahenden Krankenwagen, der den geistig verwirrten Helden in die Irrenanstalt abtransportiert. Eine Abblende folgt, womit der erste, ohne Frage berühmteste(und wohl auch gelungenste) Abschnitt von "Modern Times" sein Ende findet. In formalästhetischer Hinsicht außerordentlich homogen, bildet dieser zugleich Kulminationspunkt und "summa" der mechanisierungsbasierten Körperkomik Chaplins und lädt - die sollte auf den vorangegangenen Seiten deutlich gewor-d nein - wie kaum eine andere Sequenz der Filmgeschichte zu einer komiktheoretischen Betrachtung im Sinne Bazin und Bergsons ein. Ja, man ist versucht zu behaupten, letzterer hätte, gesetzt den Fall, "Das Lachen" wäre nicht schon wenige Jahre nach der Geburtsstunde des Films, sondern erst nach der Uraufführung von Chaplins Komödie geschrieben worden, deren Fabrikszenen zur Veranschaulichung einer Argumentation und Thesen bemüht.
Dichtung in der Moderne kann - wie im folgenden emplarisch an Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" zu zeigen ist - auch als "Antwort" auf die Frage gelesen werden, womit das Subjekt anfängt. Oder um es als Frage bestehen zu lassen: Worin entspringt Subjektivität, die Zentralkategorie der Moderne?
Die Logik und die mit ihr verbündete und verbundene Grammatik beschreiben und bestimmen eine Welt, die sie für die wahre erklären, die aber eben in dieser Wahrheit bloßer Schein ist, eine "vollständige Fiction". Wirklich wahr hingegen ist die Welt, die von der und durch die Wahrheits-Produktion zum Schein
erklärt wird, die der Sinnlichkeit und damit der anfänglichen Erfahrung eines Nervensystems, das diese "vollständige Fiction" aus sich und für sich schafft, um mit sich ins rein und offen Unterschiede zu kommen. Fazit: Das wirklich Wahre hat keine Sprache, während die Wirklichkeit, die eine hat, nicht wahr ist. In dieses von Logik und Grammatik erzeugte und verschwiegene Bedürfnis nach ihrer ursprünglich anderen Sprache erfindet sich die Lyrik, eine Nachfrage befriedigend, deren Stunde mit ihrem Kommen vorübergeht. Sie verschmilzt bei Wolfgang Hilbig das Licht äußerster Begrifflichkeit mit der steinernen Schwere dichtester Materialität. An diesem Schmelzpunkt entstehen seine Gedichte [...].
Daß sich die Literaturwissenschaft mit Schriftstellerinterviews schwertut, kann nicht behauptet werden. Sie macht es sich vielmehr zu leicht mit ihnen, indem sie diese Textgattung weitgehend ignoriert. Zwar werden Interviewäußerungen gelegentlich herangezogen, um eigene Forschungsthesen zu bekräftigen, kaum einmal richtet sich der Blick aber auf die Spezifika dieser Textsorte. In dieser Hinsicht besteht zwischen dem expandierenden Angebot an Interview-Bänden und der konstant gering bleibenden wissenschaftlichen Nachfrage eine deutliche Diskrepanz.
Als Heinrich Heines "Romanzero" im Herbst 1851 ausgeliefert wird, reagiert die zeitgenössische Kritik zwiespältig. Wortgewaltig läßt man sich unter anderem im "Dresdner Journal" darüber aus, daß in Heines neuer Gedichtesammlung im Romanzenton ein diabolisches Gelächter ertöne, daß den heiligen Ernst der Poesie ersticke.
Insgesamt erweisen sich vier Texte als Kernbestand der hier relevanten intertextuellen Interferenzen, von denen Arnims "Isabella von Ägypten" und "Melück Maria Blainville" - von Arnim als Zwillingspaar eingeführt - als Prätexte fungieren,
deren ästhetisch vermittelte Befunde wiederum von dem nachfolgenden Eichendorffschen Erzählungspaar, dem "Schloß Dürande" und der "Entführung", ausgedeutet und weitergeführt werden. [...] Die vier Erzählungen verbinden dabei analytische, prognostische und utopische Aspekte: Zum einen erscheint das romantische Liebeskonzept - als utopisch-kompensatorische Form - als zeitloses, anthropologisches Faktum, das im Zuge der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse das Individuum binden kann: Auffällig ist, daß das moderne und noch relativ neue Liebeskonzept bereits mit einer großen Selbstverständlichkeit als (oftmals implizite) textliche Gegenposition zu den verschiedenen Entgleisungen gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund kann sie im besonderen Mabe als richtig/falsch-Folie für die tatsächlichen historischen Varianten fungieren. Da diese romantische Liebe jedoch in einem neuen Maße Leidenschaft in ihr Konzept zu integrieren versucht, findet die Liebe zum anderen auch als historisches Phänomen Eingang: Ihre erotische Komponente lädt - entkoppelt vom ganzheitlichen Liebeskonzept - im besonderen Maße zu Überschreitungen ein. Wird ein Element abgespalten, generiert es letztlich nachhaltig die Auflösung der Verbindung.
Für folgende Überlegungen ist die psychoanalytische Deutungstradition maßgeblich, die von Freud selbst über die "Wilhelm Meister"-Studien von Sarasin, Eissler, Robert und Kittler bis hin zu derjenigen von Hörisch reicht, von
zahllosen Aufsätzen und Buchpassagen nicht zu reden. Gemeinsam ist diesen der endgültig vollzogene Abschied von idealisierenden, ein harmonisches Bildungsmodell für das bürgerliche Individuum am Text nur reflektierend bewahrheitenden Wilhelm-Meister-Deutungen. Zugleich teilen sie das Bemühen um ein psychologisch verfeinertes Verstehen des Textes. Ohne mich auf die Vielzahl subtiler Deutungsdifferenzen oder gar die internen Kontroversen der psychoanalytischen Schulbildungen näher als an gegebener Stelle in den Fußnoten einzulassen, konzentriert sich meine kritische Relektüre auf die an theoretischen Vorgaben Jacques Lacans ausgerichtete Interpretation von "Wilhelm Meister Lehrjahre".
Ich möchte mich im folgenden mit einem Autor beschäftigen, dessen Schreiben von vornherein niemand als spannend und unterhaltsam bezeichnen würde, der aber unter den Autoren einer Generation ganz unzweifelhaft als einer der bedeutendsten und reflektiertesten gilt: Durs Grünbein. Grünbein hat seine
Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken während des Jahres 2000 kontinuierlich aufgezeichnet und sie in dem Buch "Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen" veröffentlicht. Der Titel ist mehrdeutig, da er sich sowohl auf diese kulturell und historisch einschneidende erste Jahr des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends bezieht als auch auf das erste Jahr einer Vaterschaft verweist. Und so finden sich in dem Tagebuch zum einen Aufzeichnungen, kleine Essays und verdichtende Beschreibungen zu Themen der Zeit (etwa zum Beginn des biopolitischen und -wissenschaftlichen Zeitalters), der zeitgenössischen Literatur, zur Poetik des Gedichts, zur Philosophie und zur eigenen Familiengeschichte während der DDR-Zeit und im vereinigten Deutschland. Zum anderen zeichnet
das Tagebuch die einzelnen Stationen seiner Vaterschaft vor und nach der Geburt seiner Tochter Vera nach. Seine ersten Begegnungen und Erlebnisse mit der im Sommer 2000 geborenen Tochter werden auch in Gedichten manifest, die den täglichen Tagebuchaufzeichnungen beigefügt sind.
Der folgende Beitrag richtet sich gegen einen allzu häufig alltagssprachlich und unreflektiert bleibenden Identitätsbegriff und entwickelt aus der Betrachtung der Autobiographie unter konsequenter Einbindung identitätstheoretischer Grundannahmen einen Zugriff, der die Faktizität der Autobiographie aus dem textuellen Identitätsbildungsprozeß heraus erklärt. Als Textgrundlage wurde ein relativ aktuelles Beispiel gewählt, in dem sowohl die Faktenlage als auch die Identität des Autobiographen gleichermaßen prekär erscheinen: Jens Biskys "Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich".
Beim Nachdenken über die Logik des Nachs im modernen Diskurs drängen sich [...] eine Reihe offener Fragen auf, die uns gegebenenfalls in die Lage versetzen, das Nachdenken über das Nach als eine Art von Nach-Denken aufzufassen. Um zu diesem Bindestrich zu gelangen, könnte zunächst gefragt werden, was es wohl bedeuten möge, wenn es heißt, daß etwas einem anderen "folge". Was hieße es demnach, einem Nach nachzudenken? Markiert das Folgende einen klaren Bruch mit dem Vorausgegangenen, oder schreibt es vielmehr das ihm Vorausgehende in gewisser Weise fort, weil es unausweichlich den Begriffen und Bedingungen dessen verhaftet bleibt, von dem es geglaubt hatte, Abschied genommen zu haben? Ja, ist nicht gerade die Abkehr und das auf sie Folgende eine Art und Weise, nachträglich eben jenes zu stärken und gar zu konnstruieren, desen Verabschiedung die Bewegung des Folgen ja erst ins Leben gerufen hatte?
Nietzsche ist ein Autor, der sich mit seltener Klarheit auspricht - man vergleiche eine philosophische Diktion mit der eines Hegel, eines Kant, ja selbst eines Schopenhauer! Nietzsche sagt alles, was er denkt, was aber auch heißen kann: mehr als er denkt und denken kann, denn er folgt diszipliniert und ausschließlich seinen Stimmungen und Bedürfnissen. Wer meint, Nietzsche deuten zu müssen, der gibt damit zu verstehen, daß Nietzsche ihm zu deutlich ist - daß er ihn also auf das Niveau "vertretbarer" Aussagen und Haltungen erheben bzw. herabbringen möchte. Er wird dann "zentrale Probleme", "Grundfragen", "leitende Hinsichten", "maßgebliche Erfahrungen" usw. suchen und dabei vielleicht die Originalität von Nietzsches "Formulierung" dieser ja auch andernorts formulierten Fragen hervorheben. Nietzsches Gedanken sind aber sogleich verständlich, sie liegen offen da, dienen zu nichts anderem als den Wirklichkeiten, die sie schaffen - wer mit solchen Gedanken vorankommen will zu irgendeiner These, der wird in der Regel nur zu weiteren Gedanken Nietzsches gelangen. Der Wunsch, irgendetwas an Nietzsche "vertretbar", also diskutabel und öffentlich zu machen, stand seit je in groteskem Gegensatz zu der Intimität, in die Nietzsches Texte zwingen. Die naheliegende Verschwiegenheit über die Wirkungen eigener Nietzschelektüren kann manchmal aber auch einen äußeren Anhalt, durch Restriktionen des Sprechens, ja des Lesens finden, wie etwa in der Diskussion innerhalb der späten DDR und noch über deren Ende hinaus.
Es gehört zu den Eigenarten der Romane Klaus Manns, daß ihre Handlung vorzugsweise in der Gegenwart oder zumindest der jüngsten Vergangenheit angesiedelt ist. Das war - um nur diese Beispiele zu nennen - der Fall in "Flucht in den Norden", in "Mephisto" und in "Der Vulkan". Es trifft in besonderem Maße für einen Fragment gebliebenen Roman "The Last Day" zu. Er sollte an einem einzigen Tag, dem 13. August 1947, spielen, und dies war auch der Tag, an dem Klaus Mann die ersten Notizen zu dem Roman niederschrieb. Ein hohes Maß an Aktualität war diesem Projekt also von Anfang an eigen, und dieses Maß verringerte sich bis zum April 1949, dem Zeitpunkt der letzten Arbeiten an dem Manuskript, nicht im geringsten, es nahm eher noch zu. Wie bekannt, handelt es von dem tragischen Untergang zweier Intellektueller im Kalten Krieg.
Wendelin Schmidt-Dengler [...] gilt als Erneuerer der österreichischen Germanistik. Er war der Leiter des Instituts für Germanistik der Universität Wien und des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek. Er war Ehrenvorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft und wissenschaftlicher Leiter des Thomas-Bernhard-Privatarchivs. Er hat die Werke von Heimito von Doderer, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Albert Drach und Thomas Bernhard in kommentierten werkkritischen Ausgaben neu heraugegeben.
Weimarer Beiträge 55/2009
(2009)
Die Weimarer Beiträge - seit ihrer Einstellung durch den Aufbauverlag 1991 vom Passagen Verlag herausgegeben - ist eine der renommiertesten Literatur- und Kulturzeitschriften der ehemaligen DDR. Durch ihren interdisziplinären Ansatz, der auch allgemeine kulturelle, ästhetische und politische Überlegungen einbezieht, trägt sie zu einer Einbindung der deutschsprachigen Kulturwissenschaften in die internationale Diskussion bei.
Conatus und Lebensnot
(2017)
Monique David-Ménard knüpft in ihrem Beitrag an die vielschichtige und sich überschneidende, lange Rezeptionsgeschichte von französischer Philosophie und deutscher Medientheorie an, um in ihrem Beitrag zu fragen, ob und in welcher Weise eine Psychoanalyse, welche die aktuelle Wende zu den vitalistisch orientierten ontologischen Technikphilosophien nicht mitmacht, sondern die Methode der epistemologischen Brüche weiterentwickelt, mit der Medienwissenschaft im Gespräch bleiben bzw. erneut ins Gespräch kommen kann. Ausgehend von einem Vergleich des Verhältnisses von Affirmation und Passivität im Konzept des Conatus und von Eros und Thanatos in der Psychoanalyse stellt sie die These auf, dass die Einzigartigkeit der Psychoanalyse gerade darin bestehe, dass sie keine allgemeine Anthropologie darstelle, sondern eine Praxis, die darauf ausgerichtet sei, etwas sehr Spezifisches - das Triebschicksal - zu verändern. Die Übertragung erscheint aus dieser Perspektive als Dispositiv und das heißt, wie David-Ménard unterstreicht, als ein Medium unter anderen Medien.
So unterschiedlich die betrachteten Texte in ihren Formen und Themen auch sind, sie alle zeigen, dass der überkommenen Sprache ein Normensystem inhärent ist, das überwunden bzw. umgestürzt werden muss, um die politischen Veränderungen und die Anwendung von Gewalt zu legitimieren und zu ermöglichen. Weder Orwell, Klemperer noch Thukydides schlagen Remedia oder Prophylaxen gegen die Manipulation der Sprache vor. Sie finden sich jedoch implizit in den entsprechenden Texten und manifestieren sich explizit durch die Existenz der Werke selbst: Das Bollwerk gegen eine instrumentelle Veränderung der Sprache ist das Gedächtnis, sei es das individuelle, sei es das kollektiv-kulturelle. Wir können zwar sicher sein, dass zumindest Thukydides die Idee eines Gewissens der Wörter äußerst fremd ist. Doch mit einem Konzept, ohne das es das Gewissen nicht geben kann, ist er zweifelsohne vertraut: dem der Erinnerung. Die Erinnerung kann einen davor bewahren, Propheten welcher Art auch immer zu folgen, überlieferte Bedeutungen zu vergessen und dem Denken zu entsagen. Mnemosyne heißt die Erinnerung in der griechischen Mythologie. Sie hat neun Töchter. Eine davon ist Klio, die Muse der Geschichtsschreibung.
"Gracián ist nicht nur ein großer Autor, sondern gerade heute [1928] einer der interessantesten.«"Dieses Bekenntnis Walter Benjamins zur Aktualität des spanischen Autors gilt es ernst zu nehmen. Ziel dieses Buches ist es, Benjamins Gracián-Lektüre im Kontext der deutschen Auseinandersetzung mit dem Barock in der Moderne zu verorten und dabei die zentrale politische und theoretische Bedeutung von Graciáns Klugheitslehre in Benjamins Schriften aufzuzeigen. Gracián ist nicht nur eine der Quellen der anthropologischen Ausrichtung von Benjamins Aphorismen, sondern dessen Schriften stellen auch ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Trauerspielbuch und Benjamins Produktion der dreißiger Jahre dar. Die Auseinandersetzung mit Gracián führt Benjamin zu einem neuen Konzept einer wirksamen Schreib-Praxis sowie einer politisch wirksamen Schrift.
Dieses Buch untersucht Konzeptionen der Mimesis und des Mimetischen in der Kontaktzone zwischen Ethnologie und (post-)surrealistischer Avantgarde im Paris der 1930er Jahre: bei Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris und im außerakademischen Forschungskollektiv Collège de Sociologie. In den Texten und Projekten der drei Autoren kreuzen sich ästhetische und ethnologische Diskurse - mit dem Ergebnis einer umfassenden 'Entgrenzung' der Mimesis und des Mimetischen. Die künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Praktiken, die im Zentrum von Batailles, Caillois' und Leiris' Überlegungen standen, sind nicht auf die optische imitatio oder die bloß poietische Neuschaffung der Welt beschränkt. Sie sollten vielmehr umfassende Transformationsprozesse initiieren, die nicht zuletzt das mimetisch agierende Subjekt selbst erfassen. Eine Studie über die Einschreibung des sogenannten 'Primitiven' in die künstlerischen und literarischen Diskurse zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Faszination der Avantgarde für 'primitive Denkweisen' und den Wunsch, sich diese Denkweisen auf mimetische Art und Weise anzueignen - und über die umfassenden ästhetiktheoretischen Revisionen, die daraus folgten.
Im 19. und 20. Jahrhundert war Georgien mit Ausnahme der Jahre der kurzlebigen Georgischen Demokratischen Republik (1918–1921) Bestandteil des russischen und später des sowjetischen Imperiums. Als Gegenstand von Hegemonialkämpfen zwischen Nationen und Imperien wurde der politische Raum des georgischen Feudalkönigreiches und der geographische Raum zwischen dem Kaukasus und dem Schwarzen Meer seit der Antike immer wieder symbolisch und affektiv aufgeladen, gedeutet und umgedeutet. Diese Kollektivmonographie rekonstruiert die Wechselwirkung geopoetischer und geopolitischer Verschiebungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die Erfindung des Kaukasus als eines einheitlichen geokulturellen Raumes, die kulturelle Semantisierung des Schwarzen Meeres und der Kolchis erstmalig als einen Dialog zwischen georgischen, abchasischen und russischen Perspektiven.
Als Alternativen zu den oftmals melodramatisch inszenierten Figuren des Blinden in vielen populären Filmen verstehen sich Projekte, die sich - in Kooperation mit blinden Menschen - an deren spezifische Wahrnehmung anzunähern versuchen. Die Regisseurin Nina Rippel stellt in ihrem Bildessay eigene Filmprojekte vor, die blinden Menschen sozusagen auf Augenhöhe begegnen wollen. Rippel beschreibt zum einen ihre filmischen Versuche, mit Unterwasseraufnahmen differente Wahrnehmungsweisen bzw. Wahrnehmungsstörungen zu simulieren. Zum anderen reflektiert sie ihre dokumentarischen Arbeiten, in denen sie auf filmtechnisch komplexe Weise blinde Menschen im Gespräch mit der Regisseurin porträtiert und deren eigene ästhetische Praxis, etwa als blinde Orchestermusikerinnen oder als blinde Fotografen, herausarbeitet.
Alexandra Tacke erinnert in ihrem Beitrag daran, dass sich in Fotografien von Blinden, die selbst nicht zurückblicken können, eine voyeuristische Struktur potenziert, die die Blinden - als Angesehene und bildlich Fixierte - in doppelter Weise zu Objekten macht. Vor dem Hintergrund einer 'Sozialgeschichte des Anstarrens' von Menschen mit Behinderung zeigt Tacke, dass sich das Zum-Objekt-Werden der Sehbehinderten in politisch und medizinisch motivierten Fotografien von kriegsversehrten Blinden des Ersten Weltkrieges zuspitzt, die zu Exempeln für die Realität des Krieges werden sollten. Am Beispiel eines Langzeitprojekts des Fotografen Martin Roemers, "The Eyes of War" (2012), und am Beispiel der fotografischen Praxis des blinden Gegenwartsfotografen Evgen Bavčar stellt Tacke künstlerische Interventionen vor, die weniger eine Exposition der blinden Menschen oder ihrer spezifischen Sichtweisen sind, sondern vielmehr den Blick der Sehenden auf Blinde problematisieren.
Der Psychologe Albert Michotte setzte sich in technisch gestützten Experimentalanordnungen mit philosophischen und psychologischen Sehstörungen auseinander, wie der Text von Sigrid Leyssen darstellt. Michotte bemühte sich, Sehstörungen experimentell festzuhalten, um 'reines' Sehen von wissendem, glaubendem und durch jede Art von Erfahrung beeinflusstem Sehen zu unterscheiden. Was Helmholtz gerade für unmöglich gehalten hatte - reines Sehen des sinnlich Gegebenen - war für Michotte dank eines erweiterten Wahrnehmungskonzeptes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder das, was es zu entdecken galt. Die Einflüsse von Erinnerungen sowie durch Wissen oder Glauben entstandenen Vorstellungen verfolgte Michotte mit dem Ziel, verbreitete wissenschaftliche Sehstörungen offenzulegen.
Irina Sandomirskaja befasst sich mit dem Verhältnis von Blindheit und Sehen im Kontext der gesellschaftlichen Neuordnungen nach der russischen Oktoberrevolution. Sie beschreibt, wie die Idealisierung des Blinden als Mensch mit Defiziten, der im Sinne einer Kompensation zu 'übermenschlichen' Fähigkeiten imstande ist, sich bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzte. Sie erinnert an den russischen Kunst- und Entwicklungspsychologen Lew Vygotskij, der in den 1920er Jahren eine kulturrevolutionäre Lehre, die 'Defektologie', entwickelte, nach welcher Blindheit als soziales Konstrukt anzusehen sei und das richtig geförderte blinde Kind seine Grenzen überwinden könne. Vygotskij, so Sandormirskaja, remystifizierte die Blindheit und machte aus 'dem blinden Kind' erneut eine Allegorie, diesmal für das besitzlose revolutionäre Subjekt, das lernen könne, die gesellschaftlichen Hindernisse zu überwinden und zu einem gleichberechtigten Sowjetbürger zu werden.
Die Vorstellung vom Sehen als körperinnerem, kognitivem Prozess erlaubte es zum einen die Außenwelt als von der Wahrnehmung unabhängig und damit Geister als existent zu imaginieren. Zum anderen löste sie literarische Suchbewegungen nach dem Möglichkeitsspektrum des Sehens aus, wie die Robert Musils in den 1910er Jahren. Burkhardt Wolf beschreibt dessen literarische Experimente als Fortsetzungen seiner experimentalpsychologischen Sehversuche: In "Monsieur le Vivisecteur" befasst er sich damit, wie man die vorschnellen Assoziationen des Auges zügeln könne; in der Novellensammlung "Drei Frauen" ging es ihm um Störungen des Funktionsfeldes von Wahrnehmung, Gefühl und Weltbezug. Für beide Auseinandersetzungen mit dem Sehen im Text waren Musils Wahrnehmungsversuche am Tachistoskop entscheidend. Insbesondere der Text "Das Fliegenpapier" lässt erkennen, wie sehr der Impuls für Musils Schreiben in der Störung des Sehens lag. Seine Texte können somit, so Wolf, als fiktionale Sehversuche, als Experimentalanordnungen des Sehens aufgefasst werden.
Double blind - psychogene und psychosomatische Sehstörungen nach Sigmund Freud und Georg Groddeck
(2019)
Die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts nahm in ihren Überlegungen Sehstörungen zum Anlass, um das Funktionieren des gesunden Auges, vor allem aber die Funktionsweisen der menschlichen Psyche zu thematisieren. Anne-Kathrin Reulecke zeigt, dass sowohl Sigmund Freud als auch Georg Groddeck davon ausgingen, dass das Sehen keine rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr eine psychologisch sowie sozial und kulturell präfigurierte Aktivität ist. Sie legt dar, dass Freud eine nichtorganisch bedingte Sehstörung, die sogenannte hysterische Blindheit, als Effekt eines innerpsychischen Triebkonflikts und als dessen gleichsam neurotischen Ausweg deutet. Groddeck hingegen bestimmt das gesunde Auge als Organ eines grundlegenden Nicht-alles-sehen-Könnens. Die Kurzsichtigkeit betrachtet er als sinnvolles Hilfsmittel des Körpers, das dann eingesetzt wird, wenn die normale Tätigkeit des Verdrängens beim Sehen, die Selektion gefährlicher Bilder, nicht ausreichend funktioniert.
In die Zeit der Entwicklung der neuen ophthalmologischen Auffassung vom Sehen im 19. Jahrhundert fiel auch die Konjunktur der spiritistischen Fotografie, mit der sich Bernd Stiegler in seinem Beitrag beschäftigt. Im Zentrum steht Arthur Conan Doyle, der als Erfinder der Sherlock Holmes-Romane mit verlässlichen Spuren verschiedenster Art arbeitete, darunter auch die fotografische Abbildung. Zugleich war Doyle in die Diskussionen um die Darstellbarkeit des Übersinnlichen und die Repräsentanz von Geistern auf Fotografien involviert. Stiegler zeigt, dass sowohl die Verfechter der Existenz übersinnlicher Wesen als auch die Gegner des Spiritismus, die die angeblich fotografisch fixierten Geister nicht als real akzeptierten, die jeweils andere Partei einer Sehstörung bezichtigten. Jede Seite warf der anderen vor, aus ideologischen Gründen das vermeintlich Evidente auf den Bildern falsch zu interpretieren, also an einem Mangel an Scharfsichtigkeit und -sinnigkeit gleichermaßen zu leiden.
Einleitung
(2019)
Welche Bedeutung haben psychogene Sehstörungen, rotierende Scheiben, blinde Kinder, spiritistische Erscheinungen, Wahrnehmungsexperimente und erblindete Fotografen für die Entwicklung der Disziplinen Physiologie und Ophthalmologie oder auch für ästhetische und literarische Diskurse? Wie haben sie unser Verständnis vom Sehen geprägt, das längst nicht mehr als rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr als sozial, historisch und kulturell präfigurierte Aktivität gilt? Die Beiträge des interdisziplinären Bandes zeigen, dass sich das Wissen vom Sehen und vom Auge maßgeblich über die Grenzen des Sehens konstituiert. Ob in physiologischen, philosophischen oder psychoanalytischen Diskursen; ob in der Literatur, der bildenden Kunst oder im Film - stets sind es der Ausfall des Visuellen, die Trübung des Blicks oder die Einschränkung des Sichtfeldes, die Auskunft darüber geben sollen, wie das 'richtige' Sehen funktioniert.
Welche Bedeutung haben psychogene Sehstörungen, rotierende Scheiben, blinde Kinder, spiritistische Erscheinungen, Wahrnehmungsexperimente und erblindete Fotografen für die Entwicklung der Disziplinen Physiologie und Ophthalmologie oder auch für ästhetische und literarische Diskurse? Wie haben sie unser Verständnis vom Sehen geprägt, das längst nicht mehr als rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr als sozial, historisch und kulturell präfigurierte Aktivität gilt? Die Beiträge des interdisziplinären Bandes zeigen, dass sich das Wissen vom Sehen und vom Auge maßgeblich über die Grenzen des Sehens konstituiert. Ob in physiologischen, philosophischen oder psychoanalytischen Diskursen; ob in der Literatur, der bildenden Kunst oder im Film - stets sind es der Ausfall des Visuellen, die Trübung des Blicks oder die Einschränkung des Sichtfeldes, die Auskunft darüber geben sollen, wie das 'richtige' Sehen funktioniert.
Die internationale Tagung "H.C. Artmann in seinen Sprachen und die Kunst der Übersetzung", veranstaltet vom Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst und vom Literaturforum Leselampe in Salzburg, feierte von 10.–12. Juni 2021 den hundertsten Geburtstag des Dichters und löste ein zentrales Desiderat der Forschung ein.
Handkes Zeichnungen erschienen 2019 bei Schirmer/Mosel. Der Band versammelt 104 grafische Blätter aus seinen Notizbüchern (die Faksimiles aus dem Novum Testamentum Graece eingerechnet, sind es 106 Farbtafeln); die Mehrzahl der Zeichnungen war bereits in "Vor der Baumschattenwand nachts" (2016) enthalten. Diese bislang letzte publizierte Sammlung mit einer Auswahl an Notaten trägt den Untertitel "Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015". Handke kam dem Vorschlag des Galeristen Klaus Gerrit Friese nach, seine grafisch festgehaltenen "Zeichen und Anflüge" in dessen Berliner Galerie zu zeigen und entnahm seinen Notizbüchern die unverkäuflichen Blätter. Nachdem sie 2017 in Berlin zu sehen waren, sind sie inzwischen möglicherweise in den Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach übergegangen, das im selben Jahr 154 der hemdtaschengroßen Journale angekauft hat. Als Katalog zur Ausstellung ist 2019 der schön gestaltete Zeichnungen-Band mit einem Essay des italienischen Philosophen Giorgio Agamben verlegt worden.
Die Übersetzung, insbesondere die literarische, ist vor allem eine Art Kulturübertragung. Neben der Beherrschung der Sprachen setzt sie die Kenntnis des Allgemeinen und Besonderen des Landes wie Kultur, Tradition, Glauben, geschichtliche und gesellschaftliche Begebenheiten und auch soziale Strukturen voraus. Wenn die Sprachen und Kulturen tiefgreifend wahrgenommen werden, können die übersetzten Texte die Adressaten erreichen, d.h., dass die Ausgangssprache und -kultur für die Zielrezipienten verständlich sein können. So wird der Übersetzer als Kulturträger angenommen. Cornelius Bischoff ist beispielsweise ein wohlbekannter Name für den deutschen und türkischen Literaturkreis. Er ist vor allem bekannt als "der deutscheste Türke und der türkischste Deutsche" sowie als eine Brücke zwischen Deutschland und der Türkei. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Cornelius Bischoff, einen Kulturträger zwischen der deutschen und türkischen Übersetzung, zu behandeln. Als ein "Haymatloser" fand er in der Türkei die Möglichkeit, die türkische Sprache und Kultur wesentlich kennenzulernen und viele türkische Werke ins Deutsche zu übersetzen. Als ein Übersetzer trug er zuallererst dazu bei, die türkische Literatur, die bedeutenden türkischen Schriftsteller, die türkische Kultur und Tradition sowie den türkischen Sprachgebrauch in Deutschland bekannt zu machen. In der vorliegenden Arbeit wird die Besonderheit Bischoffs in der Übersetzungswelt im Hinblick auf drei Aspekte diskutiert: zuerst im Hinblick auf den Zusammenhang seiner Wurzeln in der Türkei und im Türkischen - schon in seinen Wurzeln, besonders mütterlicherseits, wurde das Türkische verinnerlicht -, dann auf die in der Türkei verbrachten Jahre - die Jahre, in denen er "haymatlos" genannt wurde - und zuletzt auf die Wahrnehmung und Aneignung der türkischen Sprache, Kultur und Gesellschaft - was auf ihn lebenslang einwirkte. In diesem Kontext wird versucht, sein Leben, seine Werke und seine Wirkung im Rahmen der übersetzerischen Tätigkeit zu analysieren.
Im vorliegenden Beitrag soll der Film "Zvizdan"/"Mittagssonne" aus dem Jahr 2015 des kroatischen Regisseurs Dalibor Matanić vorgestellt werden. Der in Deutschland bekannteste Film Matanićs ist vermutlich der Film "Fine mrtve djevojke"/"Schöne tote Mädchen" (Matanićs zweiter Film aus dem Jahr 2002). Bei "Fine mrtve djevojke" handelt es sich um einen sog. 'Independent'-Film, mit dem dieser im Jahr 1975 in Zagreb geborene Regisseur die Homosexualität in einer sehr provinziellen, kleinbürgerlichen Umgebung Zagrebs behandelte. Mit diesem Film gewann Matanić auf dem Filmfestival in Pula im Sommer 2002 alle drei Hauptpreise - den der Jury, den des Publikums und den der Kritik. Mit seinem Film "Zvizdan" gewann der Regisseur 2015 in Cannes den Ersten Preis in der Kategorie "Un certain regard". Aber auch mit anderen seiner Filme positioniert sich der durchaus kontroverse Regisseur in die erste Liga der kroatischen Filmemacher und schreibt an einer Geschichte des europäischen filmischen Realismus mit. Das ausgewählte Film-Beispiel des gefeierten Regisseurs wird im Folgenden im Hinblick auf seinen Realismusgehalt analysiert.
Philipp Melanchthon (1497-1560), der heute vorwiegend als Theologe und Mitstreiter der lutherischen Reformation bekannt ist, hat ein umfangreiches Ensemble lateinischer und griechischer Gedichte verfasst, die ein breites Spektrum von Themen und poetischen Formen umfassen. Eine entscheidende Rolle kommt dabei, so das hier vorgetragene Argument, der Motivik und Metaphorik des einfachen, gewöhnlichen Lebens zu, die in Melanchthons Dichtungen stilbildend wirken. Teils im Rekurs auf antike Vorlagen, teils in Anschluss an die biblischen Schriften, entwickelt der Dichter eine Sprache des Alltäglichen, die seiner poetischen Rede ihren charakteristischen Ton des 'sermo humilis' verleiht.
Als High-End-TV-Drama sprengt die HBO-Serie "Game of Thrones" nicht nur regelmäßig Zuschauerrekorde, sondern ist auch als progressives Serial-Format unter dem Aspekt der seriellen Narration richtungsweisend. Ihre komplexe Handlungsstruktur verdankt die Produktion des US-Pay-TV-Senders der Verortung in einem mittelalterlich anmutenden, von Konflikten dominierten Fantasy-Universum mit mehreren 'Brennpunkten' und einem umfangreichen Charakterinventar. Ebenso wie ihre literarische Vorlage, George R. R. Martins Fantasy-Saga "A Song of Ice and Fire" (seit 1996), präsentiert die Serie den Machtkampf zwischen den verschiedenen Adelsfamilien. Eine Untersuchung der äußerst verschachtelten seriellen Strukturen von "Game of Thrones" vermag die erzählerischen Techniken sowie deren für die Zuschauerbindung essentiellen Funktionsweisen offenzulegen, und bietet so einen Erklärungsansatz für den Publikumserfolg durch die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen komplexem Narrationsgefüge, der Art und Weise der Darbietung, und Rezeptionsverhalten. Die vorliegende Analyse von "Game of Thrones" vollzieht sich aus diesem Grunde in zwei Schritten: In einem ersten Teil soll zunächst die Produktion als Ganzes anhand ihrer spezifischen Merkmale serieller Narration charakterisiert werden. Als Fallbeispiel einer strukturbildenden seriellen Sequenz rückt sodann in einem ausführlichen zweiten Teil die herrschaftliche (Selbst-)Legitimation King Joffreys in der Abgrenzung zu weiteren Herrschergestalten in den Blick, der sich durch die Fragwürdigkeit seines Thronanspruchs dazu veranlasst sieht, seine Macht wie kein anderer zu zementieren. Auf welche Art und Weise Joffrey dies mittels typisch höfischer, und zwar ikonographisch-medialer, d. h. visueller Verfahren bewerkstelligt, bildet einen Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags.
Der vorliegende Beitrag erkundet die Funktionen geselligen Erzählens und mündlicher Erzählsituationen in der Literatur der Frühen Neuzeit und der Gegenwart. Anlass zu einem solchen epochenübergreifenden Vergleich gibt die Beobachtung, dass die literarische Form des Rahmenzyklus, die als typisch für die Frühe Neuzeit begriffen wird (etwa für Boccaccio und Marguerite de Navarre), in der Gegenwartsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere in den letzten vierzig Jahren, ein auffallendes Comeback bei Autoren wie zum Beispiel Rafik Schami und Patrick Roth erlebt und sich großer Beliebtheit erfreut. Die vergleichende Gegenüberstellung verspricht, nähere Einblicke in die jeweiligen Funktionen geselligen Erzählens in der Frühen Neuzeit und der Gegenwartsliteratur zu vermitteln. Als Leitfragen kristallisieren sich dabei folgende Aspekte heraus: Welcher Zweck wird mit der Einbindung einzelner Geschichten in einen Gesprächsrahmen jeweils verfolgt und inwiefern hat sich die Funktion der Rahmenstruktur in der zeitgenössischen Literatur im Vergleich zur Frühen Neuzeit gewandelt?
Das Aussterben durchdenken? : Begegnungen mit verlorenen Spezies im naturhistorischen Diorama
(2020)
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle das naturhistorische Diorama gegenwärtig spielen kann bei dem Versuch, das Aussterben der Spezies im Verlauf des aktuell zu diagnostizierenden sechsten großen Massensterbens der Arten zu zeigen und den damit verbundenen Verlust von Biodiversität vor Augen zu führen. Es geht darum zu erkunden, ob sich Dioramen auch gegenwärtig trotz aller kritischen Vorbehalte gegen illusionistische Inszenierungen als geeignete museale Präsentationsform begreifen lassen, insbesondere inwiefern es gelingt, in den Dioramen ausgestorbene oder bedrohte Spezies zu zeigen und deren jeweilige Bedeutung innerhalb der Mensch-Tier-Beziehung zu beleuchten. Wie wirkt das aus dem 19. Jahrhundert ererbte Habitat-Diorama, so wäre zu eruieren, heutzutage in Kombination mit anderen Dispositiven und Diskursen, wenn es in neuere Ausstellungskonzepte eingebettet ist. Dienten die betreffenden Exponate früher als Objekte der wissenschaftlichen Forschung vor allem einer klassifizierenden wissenschaftlichen Systematik, so übernimmt ihre Zurschaustellung schrittweise neue Aufgaben, insbesondere diejenige einer ökokritischen Erinnerungskultur. Das Diorama kann mitunter im Zeichen einer gestörten und verweigerten, einer dem Betrachter letztlich vorenthaltenen Ganzheit stehen, denn es stimuliert eine unterbrochene Interaktion des Rezipienten mit den vorgestellten taxidermischen Exponaten. Die im Diorama zur Schau gestellten Tiere bzw. Spezies haben sich weitgehend der Verfügbarkeit entzogen. Sie sind nicht mehr lebendiger Teil einer Mensch-Tier-Beziehung in einem ökologischen Akteur-Netzwerk oder einer anderen natürlichen Konstellation. Die ausgestellten Welten des Dioramas oszillieren aufgrund der beschriebenen Konstellation zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen Präsenz und Abwesenheit.
Der Beitrag unternimmt einen Vergleich zweier Romane, die inhaltlich, erzähltechnisch und sprachlich eng miteinander verknüpft sind, obwohl ihre Entstehungszeiten etwa 50 Jahre auseinander liegen: Juan Rulfos "Pedro Páramo" und Yuri Herreras "Señales que precederán al fin del mundo". Beide Autoren lassen ihre Figuren aus einem Nicht-Ort oder einem "unsichtbaren Ort" (was die wörtliche Übersetzung von 'Hades' wäre) sprechen, aus dem Paradox des "Ich-bin-tot"-Sagens, und verweisen damit auf altmexikanische, altgriechische sowie mittelalterliche Unterweltreisen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass von dort niemand zurückkehren kann, dennoch ist es einigen mythologische Figuren gelungen, die Grenze zwischen Leben und Tod gewissermaßen kurzzeitig außer Kraft zu setzen: Orpheus, Odysseus, Herakles, Aeneas, Dante, bei den Mayas sind es Junajpu und Xbalanq'e, die im Ballspiel die Herren Xibalbas, der Unterwelt der Maya, besiegen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die eigentlich unerlaubte Wiederkehr bzw. Rückkehr hängt eng mit der Schau einer Vergangenheit zusammen, die zentral ist für ein Verständnis der regionalen/nationalen Gegenwart. Den Romanen Rulfos und Herreras ist eine inszenierte Abwärtsbewegung gemeinsam, der schrittweise Abstieg in eine politische Vergangenheit, die die Gegenwart der Protagonist*innen verstehen helfen soll. Beide Romane verbinden damit auch eine Suche nach einem abwesenden Familienmitglied. Zudem greift Herrera auf die besondere Erzählweise Rulfos zurück, die sich erst aus einem Sprechen aus dem Tod ergeben kann.
Der Essay thematisiert eine in der Frühen Neuzeit noch weit verbreitete Praxis des Schreibens: das Abschreiben von Texten. Bei näherer Betrachtung dieser Schreibpraxis im Kontext von Geschichtsschreibung zeigen sich unterschiedliche Motivationen und Funktionen des Abschreibens von Texten. Nach der ersten Fixierung einer Geschichte treten eine Reihe weiterer Schreibertypen in Erscheinung, die die Geschichte durch unterschiedlich starke Eingriffe in den Text, durch Kommentare oder auch durch Fortsetzungen transformieren. Die Praxis des Abschreibens selbst wie auch dessen unterschiedliche Funktionen in einer Epoche auch noch nach Erfindung des Buchdrucks stellen nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen legitimer Nachahmung und illegitimem Plagiat in Frage, sondern relativieren auch die heute verbreitete Bewertung von Texten mit Begriffen wie Originalität und Kreativität.
Federn lesen : eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert
(2021)
Vom Mittelalter bis zur Einführung der Stahlfeder im 19. Jahrhundert war die Gänsefeder das meistgebrauchte Schreibwerkzeug in Europa. Doch um als Schreibfeder genutzt werden zu können, musste der Gänsekiel mit großem Können zugespitzt und bearbeitet werden. Das Wissen um die Techniken der Fertigung und des Gebrauchs sind größtenteils verschollen.
Martina Wernli hat intensiv geforscht und versammelt nun Quellen aus unterschiedlichen Sprachen. Sie zeigt, wie die Gänsefeder die europäische Schriftkultur über Jahrhunderte geprägt hat und wie dem Schreibwerkzeug von Anfang an zudem eine übertragene Bedeutung zukam, denn die Feder steht auch für Schreibprozesse und literarisches Schreiben selbst. Die komparatistisch ausgerichtete Analyse verdeutlicht, wie sich in der Feder bildliches Sprechen und materielle Grundlage gegenseitig bedingen. Eine spannende Ding-, Medien-, Technik-, Kultur- und Literaturgeschichte.
Auch wenn die hier skizzierten Aspekte von Geschichtstransformation als eines funktionalisierten produktiv-variierenden Reproduktionsakts notwendig vorläufig und schematisch geblieben sind, dienen sie doch als heuristische und begriffliche Hilfsmittel, die es erlauben, die einzelnen Transformationsfälle miteinander in Beziehungen zu setzen und innerhalb eines potentiellen Spektrums historischer Rezeption zu verorten, denen die vier Sektionen des Bandes Rechnung tragen. Dies ist umso wichtiger, als ein wesentliches Anliegen darin bestand, die Vergangenheitsaneignung in ihrer historischen Breite sowie ihrer formalen Variabilität zu erfassen: So reichen die Beispiele von der Vormoderne bis in die jüngste Gegenwart - mit Konzentration auf Zeiten intensivierter Geschichtsbezogenheit wie Renaissance und Frühe Neuzeit (Rau,Schirrmeister), Vormärz und Historismus (Immer, Jäger) oder Klassische Moderne (Meid, Modlinger, Wiegmann-Schubert). Der Verfahrens- und Funktionsvielfalt entsprechen die gewählten methodisch-theoretischen Paradigmen: Dass sich die einzelnen Konkretisierungen aus der Perspektive des Linguistic Turn (de Dobbeleer/Russell) ebenso erschließen wie im Rekurs auf narratologische (Geilert/Voorgang,Suslak), mythentheoretische (Lammel) oder postkoloniale (Sieber) Ansätze, indiziert die spezifische Anschlussfähigkeit des transdisziplinären Kulturphänomens "Geschichtstransformation".
Ausgehend von einer Definition von Themenparks als Heterotopien entwickelt der Beitrag ein vierstufiges Modell geschichtstransformatorischer Strategien, die in Themenparks einen affektiven Zugang zu einer ideologisierten, kommodifizierten und präsentifizierten Vergangenheit ermöglichen. Diese grundlegende Neukonzeption von Vergangenheit, die sich allenfalls punktuell an Maßstäben von Authentizität orientiert, gleichwohl jedoch als ungemein wirkmächtig erachtet werden muss, verortet der Beitrag in einer breiteren ästhetischen und kulturellen Entwicklung der Postmoderne, die als 'affective turn' bezeichnet worden ist. Das Modell der geschichtstransformatorischen Strategien wird in der Folge anhand von zwei Fallbeispielen - Main Street, U.S.A. in Disneyland und Grecia in Terra Mítica - illustriert, wobei besonders auf den historischen und kulturellen Kontext der Parks eingegangen wird, der bei Geschichtstransformationen in Themenparks eine kaum zu überschätzende Rolle spielt.
Den wissenschaftlichen Historismus seit Leopold von Ranke und den ästhetischen Historismus des klassischen historischen Romans seit Walter Scott, der bis heute etwa im Wenderoman von Uwe Tellkamp seine Fortsetzung findet, scheint eher ein Verwandtschafts- als ein Transformationsverhältnis zu verbinden. Etablierte sich der historische Roman gerade dadurch als Gattung, dass er an der Geschichtswissenschaft und ihrem Wahrheitskriterium Maß nehmend Ebenbürtigkeit reklamierte, relativiert die postmoderne Historiografieforschung umgekehrt den Gültigkeitsanspruch der wissenschaftlich ermittelten Sinnhaftigkeit der Geschichte als Produkt narrativer Verfahren ihrer Darstellung. Die Transformation der Geschichtswissenschaft in den historischen Roman, so die These dieses Aufsatzes, betrifft weniger die Erzählverfahren als vielmehr die Sinndeutung: Die abstrakten Sinnzusammenhänge, die die Wissenschaft konstruiert, übersetzt der Roman zurück in konkreten Sinn, der der Geschichte die Aura von Subjektgemäßheit und Zustimmungswürdigkeit verleiht.
Der Wald ist "klassischer Morast" (Heine): Was für die Grimm'schen Märchen der Deutsche Wald, ist für das österreichische Horrorgenre seit Andreas Prochaskas "In drei Tagen bist du tot" 1 (2006) und 2 (2008) der Wald österreichischer Mittelgebirge. Elfriede Jelineks Werk verbindet beides und führt uns dabei zur griechischen Tragödie hin bzw. zurück - das lässt sich aus dem Workshop "Elfriede Jelinek - eine Ästhetik der Übergänge" schließen, den die Jelinek-Spezialistinnen und Literaturwissenschaftlerinnen Uta Degner und Christa Gürtler von der Universität Salzburg am 17.1.2020 im Atelier des Kunstquartiers und in DAS KINO in Salzburg veranstaltet haben.
Am 9. Jänner 2020 fand im Rahmen des Programmbereichs "Figurationen des Übergangs" im interuniversitären Schwerpunkt "Wissenschaft & Kunst" eine Podiumsdiskussion mit dem Titel "Insektensterben" statt. Eine Expertin und vier Experten beleuchteten unter der Moderation und Konzeption von Romana Sammern (Salzburg) das Problemfeld der schwindenden Menge und Vielfalt der Insekten aus verschiedenen Blickwinkeln.
Was macht Rhythmus? Eine Figur des Übergangs zwischen Literatur und Musik : Veranstaltungsbericht
(2020)
Rhythmen geben Struktur - unseren Arbeitswelten, unserem Zusammenleben, den verschiedenen Tätigkeiten unseres Alltags. Zugleich ist "Rhythmus" ein schillernder Begriff in gegenwärtigen Debatten der Wissenschaften und der Künste. Er ist als analytische Kategorie einerseits, als Konzept künstlerischer Praktiken andererseits ungemein attraktiv, und das, verfolgt man seine Geschichte bis in die Antike, quasi seit jeher. Was aber jeweils gemeint ist, wenn von Rhythmus die Rede ist, welche ästhetischen Phänomene damit erfasst werden sollen, welche theoretischen Vorannahmen dabei im Spiel sind, ist angesichts der Vielfalt der Verwendungsweisen dieses Begriffs und der zahlreichen Kontexte seines Gebrauchs alles andere als eindeutig.
W+K Forum "Handkes Preis"
(2019)
Unter dem doppelsinnigen Titel "Handkes Preis" widmete sich ein kurzfristig anberaumtes W&K-Forum am 24. Oktober 2019 den Debatten um die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke. Schon in den ersten Tagen nach der Bekanntgabe der Entscheidung durch die Schwedische Akademie hatten sich zahlreiche Kommentatorinnen und Kommentatoren zu Wort gemeldet, die die Auszeichnung für Handke aufgrund seines Engagements für Serbien und Slobodan Milošević vehement kritisierten. Der Name eines Autors, der Mitte der 1960er Jahre als Provokateur die literarische Bühne betreten hatte, war plötzlich wieder in aller Munde.
Das menschliche Gedächtnis ist kollektiv gebildet - so ein Konsens seit Maurice Halbwachs grundlegender Studie (1939). Bei der Genese, Konstituierung und Transformation des kollektiven Gedächtnisses haben Denkmäler dabei eine widersinnige Funktion inne: Sie werden zumeist anlässlich von politischen und sozialen Konflikten mit der Absicht errichtet, bei ihrer Betrachtung eine Form positiver Identifizierung mit Geschichte zu evozieren. Gleichzeitig haben Denkmäler die Rolle einer "prekären Erinnerungsfunktion" (Dietrich Erben), weil sie weniger über historische Sachverhalt als vielmehr über die Form der Geschichtsaneignung durch die Initiatoren des Denkmals erzählen. Gerade Denkmäler nehmen eine bedeutende Rolle in der Kultur des Erinnerns wahr, weil der Hergang ihrer Planung und Aufstellung Fragen zum Erinnern, Vergessen und Verschwinden provoziert: Wie kann ein statisches Denkmal für die Nachkommen aktuell und aussagekräftig bleiben? Wie kann ein Denkmal als Erinnerung dienen ohne seine Wirkung zu verlieren? Wie lassen sich unvorstellbare Verbrechen mit künstlerischen Mitteln angemessen darstellen?
Die Übersetzung der Kashinawa-Mythen in Theodor Koch-Grünbergs "Indianermärchen aus Südamerika"
(2019)
Neben seinen ethnologischen und linguistischen Studien zu indigenen Kulturen der Amazonasregion beschäftigte sich der deutsche Brasilienforscher Theodor Koch-Grünberg auch mit indigenen Mythen und hatte klare Vorstellungen davon, wie diese mündlich überlieferten Erzählungen dokumentiert und übersetzt werden sollten. Modellcharakter hatte für ihn die interlineare Übersetzung des brasilianischen Historikers João Capistrano de Abreu von Texten aus dem Kashinawa, einer Panosprache, die noch heute im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet von Mitgliedern der ethnischen Gruppe gesprochen wird. Capistranos Textsammlung "Rã-txa hu-ni ku-ĩ" wurde 1914 in Brasilien veröffentlicht. Bereits 1920 erfolgte die Publikation der "Indianermärchen aus Südamerika" durch Koch-Grünberg, wobei von den 117 ins Deutsche übertragenen Geschichten 13 aus Capistranos Werk stammten. In diesem Beitrag soll anhand ausgewählter Textbeispiele die Übersetzung Koch-Grünbergs aus dem Kashinawa ins Deutsche diskutiert werden. Grundlage war dabei die transkribierte Textsammlung in Originalsprache mit einer Wort-für-Wort-Übersetzung ins Portugiesische sowie einem angehängten Glossar und einem Grammatiksketch. In Koch-Grünbergs eigenen Aufzeichnungen wird zusätzlich deutlich, dass es sich um einen multiplen Übersetzungsprozess handelt: von einem mündlich präsentierten narrativen Diskurs mit performativen Elementen in Schriftsprache, von einer indigenen Sprache Südamerikas in eine typologisch weit entfernte europäische und von einer vollkommen unbekannten Kultur in eine für den brasilianischen wie den deutschen Leser nachvollziehbare.
Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die sog. Postmoderne. Um ein besseres Verständnis über die Begrifflichkeit und die konkreten Herausforderungen zu gewinnen, konzentrieren sich die Ausführungen auf jene theoretisch konsistente Theoriebildung, wie sie von Jean-François Lyotard in seinen zwei maßgeblichen Werken "Das postmoderne Wissen" und "Der Widerstreit" formuliert wurde. Die Postmoderne ist für Lyotard durch eine Skepsis gegenüber den großen Erzählungen gekennzeichnet, welche jegliche Form des Wissens legitimieren. Im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen steht die Geschichtswissenschaft in einem besonderen Verhältnis zu diesen Erzählungen, was zugleich die Chancen wie auch die Schwierigkeiten anzeigt. Die entscheidende Herausforderung der Geschichtswissenschaft betrifft dabei jedoch weniger die narrative Darstellung historischen Wissens, als vielmehr den Status der Geschichte als Wissenschaft.
Der Mythos des Sklavenführers Toussaint Louverture aus der ehemals reichsten französischen Kolonie Saint-Domingue, der durch sein Wirken während der Haitianischen Revolution (1791-1804) den Weg zur Unabhängigkeit Haitis ebnete, erfuhr in der Zeit der französischen Romantik eine Transformation. Wurde er von aus Frankreich stammenden Zeit- und Augenzeugen noch überwiegend als grausamer und ungebildeter Afrikaner dargestellt, der die Franzosen um ihre schönste Kolonie gebracht hatte, wird Toussaint Louverture von Honoré de Balzac, François-René de Chateaubriand und Germaine de Staël als Widerpart Napoleons in Szene gesetzt. Diese neue Funktionalisierung des haitianischen Revolutionsführers wird im Beitrag herausgearbeitet und es wird mithilfe des historischen Kontexts der Frage nachgegangen, welche Gründe die Schriftsteller zu einer solchen Transformation Toussaints motivierten.
Als der spanische Bürgerkrieg 1939 nach drei langen Jahren endet, sieht sich der siegreiche Francisco Franco einem nicht unerheblichen Problem gegenüber: Es gilt, die zersplitterte und traumatisierte Nation auf Basis einer gemeinsamen Grundlage neuerlich zu vereinen. Zugleich benötigt der durch einen Putsch zustande gekommene 'neue Staat' auch nach Ende des als Kreuzzug betitelten Bürgerkriegs dringend eine Legitimationsgrundlage. Dies versucht man u. a. durch Geschichtstransformationen zu erreichen, die das Franco-Regime als legitimen Nachfolger frühneuzeitlicher Monarchien inszenieren. Daneben soll der Gesellschaft besonders in den 50er Jahren der langsam (wieder) entstehende Konsumkapitalismus schmackhaft gemacht werden: Der Spanier ist aufgefordert, die dargebotenen Güter zu genießen und sich so als dem Franquismus gleichsam 'genüsslich unterworfenes' Subjekt zu konstituieren. In den beiden hier beleuchteten Filmen dieser Epoche werden, wie zu zeigen wird, sowohl die franquistischen Geschichtstransformationen in ihrem fiktiven Charakter entlarvt als auch das staatliche Mandat des 'Genießens' unterhöhlt, indem jenes Genießen als ebenso substanzarm ausgewiesen wird wie die mit ihm einhergehende Politik.
Ziel des Artikels ist es, die Produktivität der Transformationstheorie, die am Berliner SFB 644 "Transformationen der Antike" zur Analyse kulturellen Wandels entwickelt wurde, zu belegen. Zu diesem Zweck werden Phänomene des kulturellen Wandels in den Wissenskulturen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit untersucht. Aus der Sicht der Berliner Transformationstheorie ist ein hervorstechendes Charakteristikum kulturellen Wandels seine allelopoietische Struktur: Jede kulturelle Transformation setzt sich aus bidirektionalen, interagierenden, reziproken Phänomenen des Wandels in einer Aufnahmekultur und einer oder mehreren Referenzkulturen zusammen. Der Artikel behandelt deshalb soziale, epistemische und lehrende Praktiken und bezieht sich dabei zuvorderst auf 'convivia' und Akademien, Autopsie als besondere wissenschaftliche Methode und Disputationen und Deklamationen als akademische, universitäre Praktiken im 16. Jahrhundert. In all diesen Bereichen werden die Transformationen in einem andauernden Kampf um kulturelle und soziale Geltung verwirklicht, die durch die 'agency' einer Vielzahl vielfältiger Akteure und Agenten (wie Medien, Gattungen usw.) beeinflusst werden.
Der Beitrag von Ernst Müller wendet sich 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' zu, zwei Metaphern zu, die ungeachtet ihrer Gegenläufigkeit in den soziologischen Theorien von Arnold Gehlen und Zygmunt Bauman zum Einsatz gelangt sind, um die These eines Endes der Geschichte zu entfalten. Eine problemgeschichtliche Betrachtung der Vorgeschichte beider Metaphern führt mit Marx auf einen Referenzpunkt, der zugleich geeignet ist, Inkonsistenzen und ideologische Dimensionen der späteren Theorien und der sie grundierenden Metaphern zu beleuchten. Auch die Diskussion um 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' ist mit der Frage verbunden, ob es sich um Metaphern oder um Begriffe handelt.
Die Historikerin Barbara Picht beobachtet in ihrem Beitrag, dass sich in vielen Epochenbegriffen ein metaphorischer Kern mit normativen Werturteilen verbindet. Die Bezeichnungen von Epochen und wie sie zueinander stehen, ist Ergebnis kulturhistorischer Deutungskämpfe, die nicht nur neue (zukunftsbezogene) Epochenentwürfe generieren, sondern zugleich auch immer das Verständnis vergangener Epochen und ihre Chronologie verändern. Ein solcher Begriff von Epoche im Sinne eines Zeitraumes oder Zeitabschnitts bildet sich allerdings erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts heraus, also in der Zeit, die als 'Sattelzeit' selbst ein Beispiel für eine - fast auch schon zum Begriff geronnene - Neubildung metaphorischen Ursprung ist.
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte der Geschichtsmetaphorik versteht sich als Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" die Metaphorik nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen Darstellungen herausgestellt und speziell an die verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschichtlicher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der Interpretationssprache nach und diskutiert damit verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen der von Koselleck der Geschichtsphilosophie zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie dem 'Crashkurs' oder dem 'Realexperiment') werden die historischen Grenzen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ausgelotet.
Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der Geschichte der Moderne geht die Proliferation von Epochenkonstruktionen einher, in denen das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion von 'Tradition', also darum, die Bedeutungs- und Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. 'Tradition' erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung der Traditionen begreift, dabei zugleich aber permanent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von Traditionen gibt.
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
The final letters of Ovid's collection "Heroides" tell the remarkable story of a written oath. Acontius has fallen in love with the beautiful Cydippe. Since she is already promised to another man, Acontius uses a deceitful stratagem: he sends her an apple on which he has inscribed "cunning words", namely, an oath of engagement. As Cydippe reads the inscription aloud mechanically, she finds herself involuntarily bound to marry Acontius, and finally gives in to his insistent wooing. If read against the backdrop of a media theory of law, Ovid's story raises a couple of important questions concerning the relationship between orality and literacy at the beginning of Western legal history. While the oath undoubtedly is a fundamental element of early law, it is usually understood as part of an "archaic" oral law that is "rationalized" only afterwards by being transferred to writing. Ovid, however, presents the idea of an originally written oath and thus invites the reader to reconsider the relation between speech and writing: To what extent may writing exert a binding force that is distinct from the representation of speech?
Einleitung [Leseprobe]
(2021)
Können literarische Texte Verbindlichkeit stiften? Diese Frage untersucht Joachim Harst anhand von Ehe- und Ehebruchsgeschichten, indem er leidenschaftliche Liebe auf ihre Bedeutung für soziale Bindung hin untersucht. Liebe ist unabdingbares Element gesellschaftlicher Verbindlichkeit, kann diese durch die ihre Exzessivität aber auch bedrohen. Während literarische Ehebruchsgeschichten häufig die Sprengkraft dieser Dialektik bewusst in den Vordergrund stellen, streben Religion und Recht an, sie einzuschränken und zu regulieren. Doch produziert nicht bereits das Reden über Liebe Affekte, sodass jeder Versuch der Einschränkung im Grunde unfreiwillig seiner Subversion zuarbeitet? Auch von Seiten der Literatur wird diese Gegenseitigkeit immer wieder betont: Romane wie Gottfrieds "Tristan" oder Goethes "Werther" wiederholen unermüdlich, dass Liebe durch Lesen entsteht - und fordern umgekehrt ein liebendes Lesen ein. Sie wollen "Philo-Logie" hervorrufen - literarisch geweckte "Liebe zum Logos". Der Frage, in welchem Verhältnis diese Liebe wiederum zur Literaturwissenschaft stehen kann, wird hier auf den Grund gegangen.
Seuchenjahr
(2021)
"Theorie" spricht gerne im Präsens. Allein, es handelt sich um ein unechtes Präsens, das über der Zeit zu stehen beansprucht. Die Ausnahmesituation der Pandemie lädt dazu ein, dieses Präsens zu überdenken und die unvermeidlichen Bindungen der Theorie an gegenwärtiges Geschehen sichtbar zu machen. Durch die klaustrophobische Situation des Lockdown ist eine unheimliche Korrelation von Theorie und Phobie kenntlich geworden. Beide suchen nachträgliche Bestätigung durch die Wirklichkeit. Durch diese Parallele wird auch der Lockdown, in dem das kulturtheoretische Denken ohnehin feststeckte, für sich selbst sichtbar wie in einem Spiegel. Unter dem Stichwort einer "Geschehensethik" erstellen Henning Trüpers Betrachtungen eine Inventur der Probleme und Lektionen, denen sich insbesondere die Theorie der Moral und verwandter Gebiete in der Schule der Pandemie ausgesetzt sehen.