Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft
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Das pathetische Diktum von den drei Kränkungen des Menschen durch Kopernikus, Darwin und Freud antwortet auf die zunehmend komplexer werdende wissenschaftliche Modellierung des Bildes vom Menschen. In der Tat wird der, wie Derrida und andere mit guten Gründen betonen, letztlich metaphysische Entwurf des zu Vernunft und Sprache begabten menschlichen Subjekts im 20. Jahrhundert durch Physiologie und Psychoanalyse, aber auch durch Diskurs- und Medientheorie systematisch infrage gestellt. Rolf G. Renner skizziert zunächst kursorisch einige Aspekte dieser wissenschaftlichen Neukonstruktionen des Menschen, bevor er sich ihrem Reflex in literarischen Texten zuwendet. Als verbindenden Bezugspunkt zwischen dem wissenschaftlichen und dem literarischen Diskurs wählt Renner die Sprache als Charakteristikum des Menschen und seiner Individualität.
"Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt",ein 1906 als Privatdruck in Wien anonym veröffentlichter Roman, ist gekennzeichnet durch zahlreiche Anknüpfungen an die literarische Tradition: und zwar nicht nur an die pornografische, sondern auch ausdrücklich an die hochliterarische Tradition. Die Frage, wie diese Traditionsbezüge vom Text aufgerufen werden, steht im Zentrum der vorliegenden Ausführungen. Dabei sollen Überlegungen zu den Gattungsverhandlungen des in den Blick genommenen Romans, der auch als Schelmenroman und als Persiflage und Parodie des Bildungsromans daherkommt, genauso thematisiert werden wie die Verhandlungen und Inszenierungen des Pornografischen. "Josefine Mutzenbacher", so die These, bedient die Muster des pornografischen Genres und stellt sie gleichzeitig metareflexiv aus. Dem Roman lässt sich ein kritischer Impetus also nicht absprechen; und zwar gerade in Bezug auf die gesellschaftlichen Institutionen, die das Pornografische vorgeblich verdammen, obwohl - oder weil - es doch tatsächlich, um mit Slavoj Žižek zu sprechen, ihre obszöne Unterseite darstellt. Berichtet zwar in der Erzählfiktion die gealterte Protagonistin von ihrer Lebensgeschichte, so ist dennoch der Blick der Ich-Erzählerin auf das Erlebte ein für alles Neue und Interessante offener Kinderblick. Diese spezifische kindliche Froschperspektive, aus der die fiktive Autobiografie erzählt wird, stellt sich als Beobachtungsanordnung heraus, in der das Feld mit quasi-ethnografischem Zugriff vermessen wird, innerhalb dessen sich Josefine bewegt.
Die Antike im doppelten Aspekt von Mythos und Geschichte war lebenslang einer der von Hofmannsthal bevorzugten Themenkreise. Sein Interesse daran reicht in die ersten Anfänge zurück und setzt sich bis ins Spätwerk fort. Schon ein flüchtiger Blick auf die lange Reihe der Titel zeigt die beeindruckende Dichte der Projekte: Auf den Alexander-Stoff, der bereits Ende der achtziger Jahre in den Vordergrund rückt, folgen 1891 eine im Umriß ganz vage gebliebene "mythische Komödie", die vielleicht den Titel "Athene" tragen sollte, im Jahr darauf das Hades- und Alkibiades-Thema sowie die Auseinandersetzung mit den "Bacchen" des Euripides, die zwischen 1904 und 1918 im "Pentheus"-Plan weiter vorangetrieben wird. Ein erstes 'fertiges' Stück ist der - kurz vor "Tor und Tod" - im März 1893 entstandene Einakter "Idylle", der auf schmalstem Raum eine antikisierende Szene "im Böcklinschen Stil" gestaltet. Im Sommer 1893 werden Entwürfe zum 1906 wieder aufgenommenen "Traum" notiert, der auf einer Erzählung des Plutarch in der Demetrius-Vita 27 beruht.
Seine Annäherung an die Antike, soweit sie an die attischen Tragiker anknüpft, fühlt sich dem eingestandenen Ziel verpflichtet, den "Anschluß an große Form" zu suchen und damit, vom lyrischen Drama weg, die wirkliche Bühne zu erobern. Dabei geht es ihm von Anbeginn darum, die antiken Stücke aus ihrer "maskenhaften Starrheit zu lösen", wie es anläßlich des "Alkestis"-Plans im Januar 1894 heißt; ein Gedanke, den auch Hermann Bahr 1923 im Rückblick seines Tagebuchs formuliert, wenn er daran erinnert, daß er und Hofmannsthal sich vor drei Jahrzehnten vor der "Gypsgriechelei der Heysezeit" zu retten versucht hätten, ganz im Einklang mit Max Reinhardt, der die Unlust, antike Dramen zu spielen, dem "gipsernen " Charakter der vorliegenden Übersetzungen und Bearbeitungen anzulasten pflegte.
Man kann eine literarische Konzeption oder ein literarisches Milieu auch durch seine Bereitschaft zu Theoriebildung und Programmatik kennzeichnen. In der Wiener Kultur um 1900 ist die Anzahl literaturästhetischer und kunstkritischer Arbeiten beträchtlich; die bereits genannten repräsentativen Autoren wie auch zahlreiche halb vergessene Kritiker haben daran teil. Allein auch hier fällt ein bezeichnender Umstand ins Auge. Mustert man die kritischen Schriften der wichtigsten, Bewegung und Milieu wirklich prägenden Schriftsteller, ist die Tatsache nicht zu übersehen, daß die größte Aufmerksamkeit Fragen der Drarnentheorie sowie der Poetik lyrischer Dichtung und kleiner Prosaformen gilt.
Für eine Theorie großer Erzählgattungen ist dagegen kein ausgeprägtes Interesse zu erkennen. Zwischen Kraus oder Hofmannsthal und der folgenden Generation liegt eine poetologische Zeitenscheide. Um den Dingen gerecht zu werden, ist es erforderlich, zwischen einem programmatischen bzw. poetologischen Diskurs und gelegentlichen kritischen Äußerungen über Lektüre zu unterscheiden.
Die literaturgeschichtliche Wahrnehmung Hermann Bahrs konzentriert sich bis heute auf seine persönliche und publizistische Allianz mit der "Wiener Moderne". Der biographischen Fokussierung korrespondiert dabei eine ästhetische: die auf die antinaturalistischen Essays Bahrs. Durch die Gleichsetzung des - von Bahr selbst entworfenen - Bildes vom "Gründer" des "jungen Wien" mit dem vom "Überwinder" des Naturalismus, wurde die Genealogie dieser literar-ästhetischen Position Bahrs verdeckt. So ist es bis heute weitgehend unbekannt geblieben, daß der "gelungenen" Gruppenbildung in Wien ein fehlgeschlagener Versuch in Berlin voranging. Bahrs Tätigkeit als Kritiker in Berlin von Mai 1890 bis Februar 1891, insbesondere seine Arbeit als Redakteur der "Freien Bühne", dem wichtigsten Organ des Berliner Naturalismus, ist kaum erforscht, obwohl sie sowohl für die Herausbildung von Bahrs Modernekonzept als auch für die Formierung der literarischen Moderne in Berlin von Bedeutung war.
Bahrs Engagement in Berlin war von dem Interesse geleitet, sich im intellektuellen Kräftefeld der deutschen Hauptstadt eine eigenständige und auch materiell gesicherte Position zu verschaffen. Die dazu nötige Anerkennung suchte er teils durch provokatorische Distanzierung, teils durch programmatische und persönliche Koalition mit einzelnen Autoren zu erreichen. Seine publizistische Tätigkeit war so eng verbunden mit dem Prozeß der literarischen Gruppenbildung in Berlin, der 1890 in ein neues Stadium trat. Dieser vollzog sich - als Wechselspiel von Distanzierungen und Identifikationen - in entscheidender, weil publikumswirksamster Weise durch die Lancierung, Besetzung und Kritik von richtungsbezeichnenden Schlagworten. Bahr nutzte diese Mittel mit großer Geschicklichkeit.
Die literarische Moderne hat sich zwar in den großen Kulturzentren ausgebildet, ist aber ein gesamt-europäisches Phänomen. Gemeinsam ist den verschiedenen Ausformungen der literarischen Moderne nicht nur die im Ganzen einheitliche Tradition, aus der sie herkommen, sondern ein Merkmal, das sie gegenüber anderen Epochen zur spezifischen macht: die vorherrschende Unverständlichkeit ihrer Texte. Unverständlich sind Texte wohl auch früher gewesen, wahrscheinlich in der Geschichte aller Literaturen sogar häufig. Was solche frühere "Unverständlichkeit" von derjenigen der Moderne unterscheidet, ist die Notwendigkeit, mit der sie hier auftritt. Auch bestimmte Texte von Goethe ("Werther", "West-östlicher Divan"), Mörike ("Maler Nolten"), Büchner ("Woyzeck"), Lenz ("Hofmeister") oder Jean Paul mögen den Zeitgenossen nicht recht verständlich gewesen sein. Für viele ist das geradezu belegt. Dennoch waren sie es in einer anderen Weise: innerhalb eines bestimmten Systems, ohne dass dieses System, das eines der Verständigung war oder sein sollte, gestört gewesen wäre. Das bedeutet, dass sie bei einiger Bemühung verständlich werden konnten und es de facto auch wurden, wenngleich oft erst Jahre später.
"Der große Dichter […] ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten " - und: "Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe dran sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht« -, das fordert Benn in seinen »Problemen der Lyrik". Mit Blick auf die Entwicklung seiner lyrischen Diktion folgt Benn diesem Imperativ "Erkenne die Lage!" (IV/362) - in geradezu stupender Weise: Ende 1941 ist für ihn die deutsche Niederlage absehbar, zum Weihnachtsfest 1941 übersendet er Oelze das Gesamt der "Biographische[n] Gedichte", welche die Keimzelle der späteren Sammlung der "Statischen Gedichte" (1948) ausmachen, und beginnt, mit einem geänderten lyrischen Stil zu experimentieren. Dieser ist durch seine Prosanähe, die Aufgabe eines geregelten Vers- und Strophenbaus und vor allem den Verzicht auf den Reim gekennzeichnet.
Im Wissen um eine gemeinsame evolutionäre Vergangenheit scheint die Beziehung zwischen Mensch und Tier neu erzählt werden zu müssen. Bis zum 19. Jahrhundert gestanden Autoren Tieren selten eine menschenähnliche Psyche zu […]. Weil Darwin eine materialistische […] Erklärung der Evolution anbot, in der die Menschen nur ein Tier unter vielen waren, begannen die Wissenschaftler, sich mehr mit den Ähnlichkeiten als mit den Unterschieden von Menschen und Tieren zu befassen. Das war, so Sigmund Freud, allerdings keineswegs harmlos, sondern eine "schwere Kränkung der Eigenliebe des modernen Menschen". Dieser zweiten, der biologischen Kränkung fügte er selbst noch eine dritte, psychologische, hinzu, als er behauptete, "dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus". Eine Reihe von Texten um 1900 wagen sich auf dieses Terrain, wenn sie das menschliche Bewusstsein selbst fremd werden lassen im Erzählen von Mensch-Tier-Verwandlungen. Es wird im Folgenden also nicht um die lange Tradition der Anthropomorphisierung von Tieren oder Zoomorphisierung des Menschen gehen; nicht um das Fortleben der Fabel, der Satire oder der erzieherischen Rollenprosa. Vielmehr geht es um Erkundungen einer Grenzfigur, des (virtuellen) Bewusstseins und der Seele eines 'Anderen'.
Der Traum von der Kreativität, den Goethe seinen Werther träumen lässt, beginnt mit der Fixierung auf einen Einzelnen und Ausgezeichneten: "ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer" schreibt Goethes Protagonist am 13. Mai 1771. Werthers anfängliche Orientierung an Homer spiegelt in Goethes Text nicht nur die Vorstellungen einer neuen Dichtergeneration, die Kreativität als Leistung eines einzelnen schöpferischen Individuums bestimmt. Die phantasmatische Form seiner Selbstgründung ist zugleich Ausdruck für eine Grundfigur der deutschen Geistesgeschichte. Sie wird zum Zeichen für eine Neugeburt des ästhetischen wie des politischen Subjekts, dessen Bedeutung neben der Philosophie vor allem die Literatur zu verbürgen scheint.
Fensterszenen in der Literatur haben bislang wenig Interesse geweckt, sie gehören gewissermaßen fraglos zum Inventar des Interieurs und seiner Darstellung. Literarische Fensterszenen sind ja auch bei weitem unscheinbarer als diejenigen, die sich, von der Kunstwissenschaft durchaus beachtet, als 'gerahmte Rahmung' in der Malerei einstellen. Um den Umriß meines Themas anzudeuten, wende ich mich zu Beginn einem der berühmtesten Texte des 20. Jahrhunderts zu; nämlich Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil", die mit einer solchen Fensterszene ihren Anfang nimmt. Es heißt da:
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (KKA D,43)