CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Integrale Realität als mehrdeutige Raumerfahrung : zur Räumlichkeit der dynamischen Kompressionszeit
(2007)
[...] Diese Auflösung von Mensch und Ding im dynamischen Globo-Behälter (die Welt als Objekt unserer Süchte und Wünsche) scheint mir dann exakt den heutigen "informellen" Topos abzugeben, der inzwischen kein festes Objekt mehr stehen läßt. Ein abstrakter Raum, wo der Weltmarkt, die moderne Technologie der audiovisuellen Medien und die Totalität des Marktes die Raumkonstellationen zugunsten der Zeitkategorie vernichten. Bilder, Texte, Töne, Kommunikation, Sichtbarkeiten und Menschen sind zu einem Zustand des ungreifbaren Kapitals geworden. Damit können wir heute feststellen, daß der Fetischismus seinen Höhepunkt gerade dann erreicht, wenn er sich "entmaterialisiert" und sich in eine fliehende "immaterielle" virtuelle Wesenheit verwandelt.
Phantastik, Unwirklichkeit, Traum, Wahn, Tod und Apokalypse sind stichwortartig schnell skizzierte und auch notwendige Orientierungspfeiler zur Vermessung von Kubins Romanwerk als phantastischer Topos im Literaturuniversum des frühen 20. Jahrhunderts. Fungieren sie doch in gewissem Sinne auch als Hinweismarken, die auf die andere Seite humaner Rationalität hindeuten und je nach Ansatz biographische, psychoanalytische, politische oder auch sozial-historische Interpretationen ermöglichen. Doch sollte man nicht, wenn man - wie in diesem Aufsatz - die Visionarität des Textes für (post-)anthropologische Diskurse des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts sichtbar machen will, das Augenmerk auf Dispositionen legen, die auf Arthur Schopenhauers anti-rationalistische Philosophie referierend Fragen nach Raum-Zeit Konstellationen aufwerfen?
Der Dualismus von Körperästhetik und Moral, der die abendländische Kultur seit der Antike bestimmt hatte, bricht in der schönen Literatur erst im 20. Jahrhundert - im Gefolge psychologisierter anthropologischer Konzeptionen - endgültig auseinander. Es entstehen neue, komplexe Relationen von Körper und Psyche, in denen unterschiedliche Normenkomplexe und Machtstrukturen wirksam sind - soziale, geschlechtsspezifische, sexuelle. Demgegenüber scheint sich in den literarischen Zeugnissen der Gegenwart ein neues Paradigma anzudeuten. Die jüngsten Variationen der Konfrontation von Schönheit und Häßlichkeit, die Verwechslungen, Vertauschungen, Verwandlungen und Umkehrungen beider Zustände entstehen erkennbar vor dem Hintergrund avancierter technologischer Möglichkeiten zur Herstellung von Körperschönheit, einer Schönheitsindustrie und Medizin, die das Bewußtsein von der technischen Produzierbarkeit von Schönheit, vom Sieg über Alterungsprozesse vermitteln. Die Gegenwartsliteratur spiegelt eine neue Objekthaftigkeit von Schönheit und Häßlichkeit, ihren Warencharakter. Schönheit kann, wie bei Bruckner, enteignet werden, sie kann gekauft und gestohlen werden wie bei Kureishi, mit ihrem häßlichen Gegenteil verwechselt wie bei Brasme und sie kann mit diesem - zur kontrastiven und kommerziellen Überhöhung ihrer Eigenart -vorübergehend vertauscht werden wie bei Nothomb. Der Objekt- und Warencharakter von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit führt dazu, daß die Dichotomien zusammenrücken und austauschbar werden, weil sie kein metaphysisches, moralisches oder gedankliches Substrat mehr besitzen, sondern zunehmend vom marktwirtschaftlichen Prinzip bestimmt sind. Auf einem totalitären Markt der Schönheit kann plötzlich auch Häßlichkeit kommerziell und sexuell attraktiv werden, in einem faschistoiden Schönheitssystem ist sie die einzige Möglichkeit der individuellen Nicht-Anpassung.
Auf ihrer kulturellen Westroute erhält die therianthrope Erfahrung ihre moderne, wissenschaftliche Formulierung im 18. Jahrhundert, allem voran durch die institutionelle Ausbildung der Anthropologie. Die Wissenschaft vom Menschen bleibt von Anfang an ein merkwürdiger Schnittpunkt von Medizin, Literatur, Psychologie und Geschichte. Dieser auffällige Vorgang, er läßt sich bei vielen verfolgen, besonders intensiv und mit der ursprünglichen Plastizität neu formierter Erkenntnislagen aber bei Friedrich Schiller. Bereits Schillers erste publizierte Schrift setzt den Menschen einer Polarität aus, deren Widersprüchlichkeit - die Schillers gesamtes Werk umtreibt - schon in ihren Titelworten rumort: "Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen". Schiller - wie später dann Büchner, Döblin, Benn und andere einer jener Mediziner-Dichter, die einschneidende Erfahrungen mit dem menschlichen Körper haben - reichte den Text als medizinische Dissertation 1780 an der Stuttgarter Karlsschule ein. Trotz der erstaunlichen Ansätze zu einer Psychosomatik - das Zusammenspiel von Biologie und Seele - und der Aussagekraft von Träumen - "dem Integralbild des Traums" -, die darin in die wissenschaftliche Zukunft zeigen, stößt man hier doch vor allem auf das neue anthropologische Objekt als das alte Kompositum: den "Tiermenschen".
Lenz' Dramen stehen zu seiner Dramentheorie in eigentümlicher Spannung: Die "Anmerkungen über's Theater" sind weitgehend von der Idealvorstellung eines schöpferischen und frei handelnden, sein Schicksal selbst bestimmenden Menschen beherrscht. Von einem durchaus Unfreien handelt hingegen "Der Hofmeister". Dem Schicksal der Alten zwar nicht mehr unterworfen, ist doch die Hauptfigur in ihrer Handlungsfreiheit durch innerweltliche Gewalten nicht weniger eingeengt. [...] Um den Text mit den "sozialen Energien" seines Entstehungszusammenhangs wieder aufzuladen, sind die diskursiven Fäden seiner Verstrickung in außerliterarische Zusammenhänge zu verfolgen; Literatur ist dabei als eine Form des Wissens auf andere zu beziehen, die ihren Gegenstand in je spezifischer Weise konstituieren. So stellt das Soziale im Drama sich anders dar als in wissenschaftlichen Abhandlungen etwa, wie sie "die herrschende Sozialphilosophie der Zeit von 1600-1800" produziert hat: die Lehre vom Naturrecht.
Kafka war gewiß kein Verkünder des nervösen "Fin de siècle" (dazu war es um 1911 bereits zu spät) und auch wenn er wie viele intellektuelle Zeitgenossen dem Modethema Nervosität einige Aufmerksamkeit schenkte, so war er doch in erster Linie: ein nervöser Patient. Und als solcher begab er sich in ärztliche und heilpraktische Behandlungen, wo man ihm sehr bald das zugehörige Krankheitsbild bestätigte - Neurasthenie. Die nervöse Karriere des Schriftstellers und Unfallversicherungsbeamten Franz Kafka ist aus den gängigen Biografien bekannt. Sie bietet reichlich Einblicke in die Szenarien gesellschaftlicher Heilpraxis nach 1900, in die Diskussionen um Krankheit, pathologische Zustände und Minderwertigkeit, aber auch in die individuelle Verfassung des Autors Kafka, seine Selbstwahrnehmung und seine Schreibobsessionen. Doch zunächst: Was bedeutete eigentlich Neurasthenie? Die Frage führt uns in nuce in die Aporien ihrer Beantwortung; dennoch muß sie gestellt werden, um die Tragweite ihrer Formulierung zu bestimmen. Wir wohnen der begrifflichen Auseinandersetzung eines Krankheitsbildes bei, das in den Jahren Kafkas eine erstaunliche Entwicklung nahm. Joachim Radkau spricht im Zusammenhang der Jahre 1880-1914 von der "Epoche der Nervosität".
Das Erkenntnisinteresse der Literaturforschung kann, selbst wenn deren Materialbasis sich auf literarische Texte beschränkt, über die Texte hinausgehen. Aber auch in diesem Falle ist nicht davon abzusehen, daß sie in der Regel die wichtigste Erkenntnisquelle der Forschung bilden, und das heißt, daß die Texte erst einmal verstanden werden müssen. Man kann durch die Texte nicht hindurchgehen wie durch eine geöffnete Tür. Einem sozialgeschichtlich interessierten Literaturforscher wird eine passagere sachliche Kenntnisnahme allenfalls genügen können, wenn er zum Beispiel nur feststellen will, in welchen literarischen Texten Kaninchen eine Rolle spielen oder von Kaninchen die Rede ist. Hingegen wird er schon bei der Untersuchung, "wie" sie zur Erscheinung kommen, zunächst einmal die Texte selbst in der Weise zu seinem Erkenntnisgegenstand machen müssen, daß er sie analysiert und interpretiert. Er muß den Texten erst eine Bedeutung zuschreiben, ehe er die Kontexte bilden kann, auf die sich sein Erkenntnisinteresse richtet.
Politischer Idealismus auf dem Prüfstand : Heinrich Mann und "Die neue Weltbühne" (1936-1937)
(2007)
Hier ein Blick in das Interieur der Exilzeitschrift "Die neue Weltbühne", die das "Gewissen der herrlichen Einheizfront" in groben Umrissen abbildet. Ist die Polemik von George Grosz gerechtfertigt? Erneut soll die bislang völlig unbekannte Redaktionskorrespondenz zwischen Hermann Budzislawski und Heinrich Mann aufgeschlagen werden - nunmehr für die Jahre 1936/37. Bislang blieb die Frage nach der gedanklichen Entwicklung der Beiträge für die Wochenschrift "Die neue Weltbühne" sowohl in der Exilforschung als auch in der universitären Lehre völlig unbeachtet. Über die Korrespondenz ist es möglich, erstmals die materiellen sowie die ideellen Bedingungen ihrer Entstehung zu erfahren.
[...] Wie aber gestaltet sich eine "Gewißheit der Erfüllung"? Wie ist ihr Verhältnis zum Unsinn, zum Entstehen von Sinn; ist sie, wenn sie dies inkludiert, Erfüllung von etwas? Wie ist ihre Relation zu Bildern, die eine Majestät und zugleich ein Verströmen Gottes in der Liebe zur Kreatur, zum Nicht-nur-Geschaffenen also darstellen wollen - um angesichts des Scheiterns einem Ikonoklasmus, einer Unsinnlichkeit zuzuarbeiten ... ? Diesen Fragen sei im Folgenden an den Bibelaneignungen Friedrich Gottlieb Klopstocks und Ferdinand Schmatz' nachgegangen, [...]
Die im Frühjahr 2005 veröffentlichten Aufnahmen "Wörter Sex Schnitt" - der Titel wurde im übrigen von den Herausgebern kreiert - entstanden von Oktober bis Dezember 1973 im Zusammenhang mit einem Auftrag des WDR. Es ging um die Erstellung einer Folge in der Hörfunkreihe "Kölner Autorenalltag". Brinkmann bekam dafür vom Sender ein mobiles Aufnahmegerät zur Verfügung gestellt, das er gleichsam als akustisches Notizbuch verwendete.: So hatte er die Möglichkeit, unabhängig außerhalb eines Studios in den verschiedensten Situationen selbst zu entscheiden, was er für die vorgesehene Sendestunde aufzeichnen wollte. Und dies war eine ganze Menge: 29 Tonbänder mit 656 Minuten und 52 Sekunden, also knapp elf Stunden, stehen insgesamt im Audionachlaß zur Verfügung. Davon wurden nun im Jahr 2005 360 Minuten und 40 Sekunden, das heißt über sechs Stunden, auf fünf CDs herausgegeben, zusammen mit einer sechsten CD, "The Last One", auf der die Performance-Qualitäten von Brinkmann als Spoken-Word-Poet bei seiner letzten Lesung auf dem Cambridge Poetry Festival von 1975 zu hören sind. .
Fertig ist das Angesicht.
(2017)
In Bettines Titeln und Texten feiern Satzzeichen große Feste. Bindestriche, Gedankenstriche, Schrägstriche, Kommata, Ellipsen, Parenthesen machen sich zu schaffen - und ihr auch. Freigesetzt in ihr Tun und Lassen kommen sie in Schwung und intellektuell auf die Höhe, pfeifen auf Stimme und Schrift. Ein Komma im Frack lässt sich nicht blicken, aber mit Stifter wird man angesichts des entfesselten Kalküls der Satzzeichen sagen dürfen: "Es ist das kleinste Satzzeichen ein Wunder, das wir nicht ergründen können. Daß es ist, daß seine Teile zusammenhängen, daß sie getrennt werden können, daß die Teilung fortgesetzt werden kann, und wie weit, wird uns hienieden immer ein Geheimnis bleiben." Eigenmächtig setzt es Zeichen, die den Satz sperren oder stauen, ihn fluten oder dehnen, auch verrätseln. Und manches trägt dann ein Gesicht zur Schau. Der ernste Gedankenstrich in Theodor Storms Novellistik erschien Theodor W. Adorno als "Falten auf der Stirn der Texte" in seinem 1956 in der Zeitschrift "Akzente" erschienenen Essay "Satzzeichen". [...]
"Es begann mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen." Gegensätzlich zu den meisten Mottos literarischer Texte ließe sich der berühmte Anfang aus Stephen Greenblatts Verhandlungen mit Shakespeare beinahe ohne Erklärungsnotstand der derzeitigen Welle von autobiografischen Familienromanen innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur als Leitgedanke voranstellen: Bildet doch das anstehende oder bereits erfolgte Ableben eines - zumeist männlichen - Familienmitgliedes, das über den Nationalsozialismus als Zeitzeuge berichten könnte, häufig das stille Zentrum dieser Familienerzählungen. Damit stehen diese Texte in einem engen, wenngleich mehrstelligen Bezug zum aktuellen Erinnerungsdiskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland.
Die vier vorgestellten Bücher haben uns sozusagen Zitterpartien in der Zirkuskuppel präsentiert: Daß der stets angeduselte, häufig auch kurz vor der Ohmacht stehende Ich-Erzähler aus "Faserland" seine Reise überhaupt so weit durchsteht, kam uns vor wie ein kleines medizinisches Wunder. Die ständig unzufriedenen, unentwegt in ihrem narzißtischen Wettstreit befindlichen Sprecherinnen aus "Königinnen" sahen wir gleich mehrere Mal hysterisch in sich zusammenstürzen. Der Erzähler aus "Heute könnte ein glücklicher Tag sein" wirkte auf uns wie ein Gast in seinem eigenen Leben: unschlüssig darüber, was von ihm erwartet wird. Die übersexualisierten und dabei vollkommen isolierten Männer aus "Die Schnecke" beobachteten wir bei mühsamer Inbetriebhaltung ihrer neurotischen Überlebenstechniken. Und die Absicherungsmaßahmen, die diese literarischen Figuren in ihrem Leben installierten - Markenfetischismus, Affirmation des Konsums, besinnungslose Medienbeschallung, Zelebrierung des kleinen Unglücks, Inszenierung des Ennnuis, sexuelle Getriebenheit, Kultivierung der Neurosen und Depression -, dies alles hat sich bei näherem Besehen als untauglich erwiesen, vor allem für die dauerhafte Stabilisierung eines emotionalen Gleichgewichts.
Der vorliegende Text zeigt die Position einer Autodidaktin bzw. Dilettantin: Zwar habe ich mich schon früher in verschiedenen Lehr-Settings mit Digital Humanities auseinandergesetzt, vor dem Sommersemester 2020 spielte die digitale Lehre aber kaum eine Rolle, es sei denn man zählt die Nutzung unterschiedlicher universitärer e-Learning-Portale (Moodle, Ilias etc.) zur Terminplanung und Materialbereitstellung schon dazu. Gerade weil ich mich als Nachzüglerin begreife, die behelfsmäßig einiges nachzuholen hatte und nur ansatzweise die lange schon existierenden Praktiken und Diskurse kannte, empfand ich den offenen Brief "Verteidigung der Präsenzlehre" als unfair, nicht nur gegenüber denjenigen, die sich jetzt notgedrungen versuchten zu professionalisieren, vor allem aber unfair gegenüber denjenigen, die schon lange intensiv und didaktisch kompetent digitale Elemente erprobt und zu Szenarien des Blended Learning entwickelt haben: Eine Diagnose, die die komplette Ersetzung der Präsenzlehre als latent schon geplante Sparmaßnahme unterstellt und eine Intervention, die aus diesem negativen Szenario heraus die hergebrachte Präsenzlehre mit ihren vielen Lebenslügen meint verteidigen zu müssen, schien mir unangebracht, weil von den elaborierten hochschuldidaktischen Perspektiven in Richtung "digitaler Präsenz" und von den Chancen für die Forschung keine Rede war. Und: Der Aufwand und die technische Implementierung von digitaler Lehre kann, sofern die Qualitätssicherung ernst genommen wird, nicht als Sparmaßnahme durchgehen. Eher im Gegenteil!
Zentrale Voraussetzung einer differenzierten Bewertung der germanistischen Online-Lehre wäre, zunächst die Rolle der Germanistik in der digitalen Gesellschaft sowie den Wert digitaler Bildung zu bestimmen. Dazu wiederum wäre es wichtig, das Wissen, die Methoden, die Begriffe und Fragestellungen der Germanistik in ein Verhältnis zu den Potenzialen und Problemen der digitalen Gesellschaft zu setzen. Zwar adressieren Arbeitsgruppen in den Fachverbänden diese Aufgabe, die germanistischen Teildisziplinen gehen damit aber unterschiedlich um. Als Teildisziplin hat somit auch eine medienkulturwissenschaftlich ausgerichtete (Gegenwarts-)Literaturwissenschaft die Pflicht, nach den Folgen des Medienwandels und der vernetzten Kommunikation im World Wide Web für die Literatur, ihren Betrieb und für die literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre zu fragen. Auf einer Konferenz zum Thema "Während und nach Corona: Digitale Lehre in der Germanistik" erscheinen vor diesem Hintergrund zwei Fragen besonders relevant: 1. Welche digitalen Standards und Erkenntnisse müsste die Germanistik etablieren, um gelungene Lehre in der digitalen Kultur überhaupt bewerten zu können? 2. Wie wäre ein Teilbereich der germanistischen Literaturwissenschaft als Netzliteraturwissenschaft zu konzipieren, der das notwendige Wissen über die vernetzte Kommunikation in der digitalen Gesellschaft bereithält und zur Etablierung von Standards des digitalen germanistischen Lernens beitragen könnte?
In den Kursen, die eine Seminararbeit als Prüfungsleistung erfordern, stellt sich folgende Frage für die Lehrenden besonders akut: Wie lassen sich vielfältige Schreibübungen in das Kursprogramm sinnvoll und effizient integrieren, die gleichzeitig als Werkzeuge des Denkens bei der Vermittlung der Seminarinhalte helfen und den Lernprozess insgesamt fördern? Unter den aktuellen Umständen lässt sich die Frage ergänzen: Wie kann die Umstellung auf den digitalen Fernunterricht von der Einführung prozessorientierter Schreibaufgaben profitieren? In meinem Vortrag werde ich einige methodische Vorschläge zum Umgang mit diesen Herausforderungen machen. Dabei werde ich mich auf meine Lehrerfahrungen allgemein sowie speziell auf studentische Rückmeldungen im Rahmen des von mir im SoSe 2020 an der Humboldt-Universität gehaltenen Seminars 'Bild und Körper in der religiösen Literatur des deutschen Mittelalters' im BA Studiengang Deutsche Literatur stützen.
Mein Beitrag betrachtet einen Grundpfeiler jedes literaturwissenschaftlichen Seminars vor dem Hintergrund (nicht nur coronabedingter) Online-Lehre: Seminarlektüren. Texte zu lesen, zu diskutieren, für die weitere Seminararbeit zu verwenden, gehört zu den grundlegenden Tätigkeiten in literaturwissenschaftlichen Seminaren. Seminarlektüren umfassen dabei alle im Seminar gemeinsam gelesenen Texte: literarische Texte verschiedener Gattungen ebenso wie wissenschaftliche Textsorten als Sekundärliteratur. In der Hinsicht ist diese Reflexion nicht nur für die Arbeit in literaturwissenschaftlichen Seminaren gewinnbringend, sondern auch für sprachwissenschaftliche und didaktische Lehrveranstaltungen notwendig.
In der außerordentlichen Pandemie-Situation wurden wertvolle Erfahrungen mit Vollzeit-Online-Lehre gesammelt, welche der strategischen, online-didaktischen und technischen Weiterentwicklung und dem sinnvollen Ausbau von Blended Learning und digitaler Lehre an den Universitäten in der Zeit nach der Covid-19 Pandemie dienen können. Die auf breiter Basis gewonnene praktische und konzeptuelle Kompetenz im Bereich digitaler Lehre bei Lehrenden und Studierenden ist als eine Zukunftsressource zu betrachten. In Verbindung mit der zunehmenden Verbreitung von Digital Humanities sind die Voraussetzungen für die Herausbildung einer neuen didaktischen Normalität gegeben. Der vorliegende Beitrag basiert auf Erfahrungen mit der digitalen Lehre an der Universität Regensburg im Sommersemester 2020, einer Umfrage unter Studierenden zur digitalen Lehre im Frühjahrs-Semester am Dept. of Germanic Studies an der University of Texas at Austin, USA, und Beobachtungen und Gesprächen mit Studierenden und Lehrenden an der Universität Gent, Belgien. Die Bemerkungen versuchen, aus diesen ersten Erfahrungen ausgewogenere und für die Entwicklung der digitalen Didaktik produktive Perspektiven zu gewinnen und greifen der systematischen Auswertung der derzeit noch laufenden Umfragen und Studien mit breiterer Datenbasis nicht vor.
In diesem Beitrag wird ein Lektüreseminar vorgestellt, das curricular im Studiengang Higher Education (M.A.) am Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL) verortet ist und das konzeptionell nach dem Vorbild eines literaturwissenschaftlichen Lektüre-Seminars entwickelt wurde. Dort bildet es mit dem Modultitel "Wissenschaftsforschung" eines von vier Pflichtmodulen, die thematisch um ein mehrsemestriges Projektmodul sowie ein einführendes Grundlagenmodul gestaltet sind. Ziel des Lektüreseminars ist es, Orientierungswissen zu Grundlagentexten der Wissenschaftsforschung anhand exemplarischer Detail-Lektüre zu gewinnen, diskursiv zu teilen und kritisch einzuordnen. Im Mittelpunkt steht also die systematische wissenschaftliche Textarbeit.
Die durch die Covid-19-Pandemie bedingte Umstellung der Präsenzlehre auf digitale Lehr- und Lernformate stellte Lehrende und Studierende gleichermaßen vor eine Herausforderung. Innerhalb kürzester Zeit musste die Nutzung von Plattformen und digitalen Tools erlernt und getestet werden. Der Beitrag stellt exemplarisch Dienste und Werkzeuge von CLARIAH-DE vor und erläutert, wie die digitale Forschungsinfrastruktur Lehrende und Studierende auch im Rahmen der digitalen Lehre unterstützen kann.
Das Teilfach Germanistische Mediävistik kann bei den Studienanfänger*innen auf keine nennenswerten Vorkenntnisse zurückgreifen, d.h. zu Studienbeginn muss sowohl in die historische Sprache (zumeist handelt es sich um das Mittelhochdeutsche) als auch die vormoderne Literatur (einschließlich der Kultur) grundlegend eingeführt werden. Zumeist geschieht dies auf "engem" Raum: I.d.R. werden innerhalb eines Semesters sprachliche bzw. sprachhistorische, literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Grundlagen so vermittelt, dass in den folgenden thematischen Seminaren darauf aufgebaut werden kann. Der Einstieg in die Germanistische Mediävistik ist sehr sprachorientiert, Grammatik und Übersetzen bestimmen das Bild. Dabei wird zu wenig berücksichtigt, dass Übersetzen nicht mit Verstehen gleichzusetzen ist und es hier weiterführender Erschließungswege bedarf, allerdings werden Strategien zum Textverstehen ohne bzw. neben der Übersetzung kaum vermittelt (z.B. über Textverstehensfragen). In den ersten thematischen Seminaren wird ein deutlich literaturwissenschaftlicher Weg beschritten, bei dem Grammatik, sprachliche Formung und Übersetzen nur noch am Rande vorkommen. Die Auseinandersetzung mit dem nicht übersetzten Text erfolgt häufig nur punktuell, nicht selten wird nur noch mittels Übersetzungen über den Text gesprochen.
Verpackt in Feedbackschleifen : Einblicke in Digitale Lehrformate des digitalen Sommersemesters
(2021)
Mit der pandemiebedingten Notwendigkeit im Sommersemester ausschließlich digital zu unterrichten ging eine große Frage einher: "Wie komme ich in Kontakt mit unseren Studierenden?" und mehr noch "Wie halte ich diesen Kontakt?" Studierende sind untereinander im Idealfall durch Messenger-Gruppen verbunden, für uns Dozierende bleibt häufig nur ein Kanal: die traditionelle E-Mail. Viele Studierende fragen ihre universitätseigene E-Mail nicht ab oder leiten sie nicht auf eine private E-Mail-Adresse um, was für uns im Grunde bedeutete, dass nur unsere Homepage als sicherer aber eben auch einseitiger Informationskanal zur Verfügung stand. "Wegweiser" zu den neuen digitalen Räumen konnten hier zwar aufgestellt werden, was in diesen Räumen aber angeboten wurde, sollte m.E. interaktiv an die Bedarfe unserer Studierenden angepasst werden. Es brauchte also eigentlich sogar mehr Interaktion als in analogen Lehrveranstaltungen. Daher war für mich bei der Transformation der für das Sommersemester geplanten Lehrveranstaltungen die Integration von Interaktionsmöglichkeiten ein zentraler Aspekt, ein Prozess der selbst aber eben auch ein Trial and Error-Verfahren war, der ohne Feedback ins Leere gelaufen wäre. Nachfolgend möchte ich ein Seminar und drei Formate vorstellen, die Feedback und Interaktion auf unterschiedliche Weise integrieren.
Bevor ich auf meine eigene Lehre zu sprechen komme, möchte ich eine kleine Akzentverschiebung vornehmen und hoffe, damit vielleicht doch noch einen neuen Punkt in die Diskussion einbringen zu können. Am Anfang meiner Ausführungen steht eine hochschuldidaktische Perspektive, die dazu beitragen soll, nicht vorrangig die technische Umsetzung oder praktische Planung von asynchronen Lernphasen zu beleuchten, sondern die Aufmerksamkeit auf Lernprozesse zu lenken. Als Frage formuliert: Was motiviert die Lernenden zum Lernen? Das betrifft nicht nur die digitale Lehre. Ich schließe damit an die Debatten der Hochschuldidaktik an, die sich in den letzten Dekaden zum Ziel gesetzt haben, die Aktivität von Lernenden zu steigern. Zentral ist dabei die Wende vom Lehren zum Lernen – bzw. vom teaching zum learning, wie es in der international geführten Debatte heißt. Wesentlich für diesen Paradigmawechsel ist das neue Interesse am studentischen Lernprozess: die Studierendenzentrierung. Übernimmt man als Dozierender Verantwortung für den ganzen Lernprozess und nicht nur für den Ablauf des Seminars, dann ergibt sich ein fundamental neues Selbstverständnisfür Lehrende.
Das Ziel des Beitrags ist, die von uns entwickelten digitalen Materialien einer Ausspracheschulung für den DaF-Unterricht in japanischen Hochschulen vorzustellen. Im Mittelpunkt steht dabei die Diskussion, wie die Ausspracheschulung mit digitalen Medien im Deutschunterricht, vor allem im Online-Unterricht, aussehen soll.
"form follows function"? : Erfahrungen zum ersten Semester digitaler Lehre in der Germanistik
(2021)
Nachdem unter großem Zeitdruck ein Semester mit digitaler Lehre aus dem Boden gestampft werden musste, möchte ich aus Studierendensicht einen Blick zurück auf die vergangenen Monate März bis Juli 2020 werfen. Dabei ist es mir wichtig, zum einen konkrete Methoden und Instrumente zu beleuchten und zum anderen – im Rahmen der von mir besuchten Seminare (sowie im Austausch mit anderen Studierenden) – ein allgemeineres Resümee zu ziehen, wie digitale Lehre für (hoffentlich) alle gelingen kann.
In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, dem hohen Workload der Germanistik-Studierenden im Online-Semester 2020 auf die Spur zu kommen. Die abschließende These ist, dass auch der mangelnde Austausch zwischen den Studierenden und den Dozenten*innen zu einem höheren Arbeitsaufwand führt. Diese These ist als Diskussionsgrundlage zu verstehen. Um zu diesem Gedanken hinzuführen, wird zum einen auf den offenen Brief "Zur Verteidigung der Präsenzlehre" und zum anderen auf die Studierendenbefragung zum Sommersemester 2020 der Universität Bielefeld Bezug genommen. Dabei fließen ebenfalls die Erfahrungen aus dem Bielefelder Kollegium der germanistischen Mediävistik ein. Ich werde demnach kurz auf die Definition der Universität, wie sie in dem offenen Brief dargestellt wird, eingehen, um dann zur Umfrage der Universität Bielefeld überzuleiten. Die Lehrerfahrungen aus der Mediävistik formen dann abschließend die eingangs erwähnte These.
Im digitalen Sommersemester 2020 hat der Fachschaftsrat des Fachbereichs 02 der Universität Kassel zwei Umfragen unter den Studierenden des Fachbereichs durchgeführt. Während die erste Umfrage vor Beginn des eigentlichen Lehrbetriebs an die Studierenden herangetragen wurde und dabei das Ziel verfolgte, die Erwartungen, Lernvoraussetzungen und Bedenken dieser Gruppe zu erfassen, lag der Fokus der zweiten Befragung, die ca. fünf Wochen nach Semesterbeginn verschickt wurde, mehr auf der Evaluierung der Arbeitsbelastung und der Zufriedenheit mit den digitalen Lehrangeboten am Fachbereich. Aus dem Institut für Germanistik nahmen 318 Studierende an der Umfrage teil, diese bilden damit die größte Gruppe unter den insgesamt 521 Teilnehmer*innen.
An der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum wurden im Sommersemester 2020 durch das Team der PhiloLotsen (eine eigens für das Semester eingerichtete Taskforce) im Anschluss an eine Befragung der Studierenden (1062 Teilnehmer*innen) auch die Lehrenden (137 Teilnehmer*innen) zu ihren Erfahrungen im Corona-Semester befragt (Auswertungen der Befragungen). Durch diese Staffelung konnten Erkenntnisse aus der Auswertung der Studierenden-Umfrage bei der Konzeption der Lehrenden-Umfrage berücksichtigt werden. Für weitere Überlegungen eignen sich vor allem die Differenzen zwischen den Studierenden und Lehrenden und die Einschätzungen zur zukünftigen Lehre in einem regulären Semester. Bei den Fragen zum Workload, zur Interaktion, zu bevorzugten Lehr-/Lernszenarien und zur Nutzung digitaler Tools in regulären Semestern erweist sich das Corona-Semester wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen als eine Art Brennglas, in dem deutlicher zutage tritt, wo es auch jenseits der Corona-Zeit Verbesserungsbedarf gibt.
Trotz der großen Bandbreite unterschiedlicher Blended Learning-Szenarien können für die Bereiche Konzeption, Kommunikation, Motivation und Durchführung konkrete Aspekte und Tipps formuliert werden. Beispielhaft kann das anhand eines im Sommersemester 2017 entwickelten Lehrkonzepts erläutert werden, das in drei weiteren Lehrveranstaltungen wiederholt und optimiert worden ist. Bei dem beispielhaften Lehrkonzept handelt es sich um "Wikis statt Referate". Die Studierenden präsentieren in einem Gruppen-Wiki - an einem Wiki arbeiten 3-5 Studierende - nach konkreten Vorgaben Informationen des jeweiligen Wiki-Gegenstands mit direktem Bezug zum Seminarthema. Die Wiki-Gegenstände werden im letzten Drittel des Semesters auch zu Sitzungsthemen. Bei mir waren Wiki-Gegenstände meistens literarische Werke, die in Beziehung zum Seminarthema gesetzt wurden. Die in den Wikis versammelten Informationen erleichterten den Studierenden die Vorbereitung der mündlichen Prüfungen und Hausarbeiten. Im Folgenden werde ich zur Erläuterung der Problemlage entgegen dem üblichen Vorgehen nicht auf Good Practice-, sondern auf Bad Practice-Beispiele zurückgreifen, weil sie erfahrungsgemäß sehr gut dafür geeignet sind, für konkrete Probleme zu sensibilisieren.
In seinem Praxisbericht zeigt Sebastian Bernhardt in einem ersten Schritt, welche Konsequenzen die pandemiebedingten Veränderungen kurzfristig auf seine akademische Lehre hatten. Die Erfahrungen in der notgedrungen rein digitalen Lehre münden aber in einem zweiten Schritt in nachhaltige Perspektiven für die akademische Lehre, die sich nicht auf das Gegensatzpaar digital vs. präsent reduzieren lassen. Zentral ist, dass die Erfahrungen mit digitalen Flipped Classroom-Modellen sich auch in die Zeit nach Corona übertragen lassen, sofern digitale und präsente Vermittlungsanteilen langfristig und kompetenzorientiert miteinander verknüpft werden. Dabei soll weder das eine gegen das andere ausgespielt werden noch eine Digitalisierung um ihrer selbst willen, sondern eine Passung von Vermittlungsziel und Medium, hergestellt werden. Wie er im Folgenden zeigt, konnte er aus der Not der Situation geboren Erfahrungen sammeln, bei denen deutlich wurde, dass einige digitale und asynchron angelegte Flipped Classroom-Formate in Kombination mit synchronen Zoom-Sitzungen, die langfristig durch Präsenzphasen ersetzt werden, einen nachhaltigen Kompetenzerwerb erzielten und zu einer Individualisierung von Lernwegen bei den Studierenden führten.
Auf die als Zürcher Literaturstreit bekannt gewordene philosophisch-ästhetische Heiterkeitsdebatte um Emil Staiger Ende der 1960er Jahre folgte 1982 erneut eine Auseinandersetzung um die Möglichkeiten heiterer Literatur. Den Beginn der neuen Heiterkeitsdebatte in den 1980er Jahren bildet Hans-Jürgen Heises in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte Klage über die "Übellaunigkeit" der gegenwärtigen Poesie, in der er die "lebenszugewandten und sinnfrohen Verlautbarungen" vermisst. Autoren wie Günter Kunert, Peter Härtling, Karl Krolow, Michael Krüger und Adolf Muschg reagieren kritisch auf diese 'neue' Forderung nach mehr Fröhlichkeit in der Dichtung. In einer rekonstruierenden und kontextualisierenden Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern sich die Argumente der neuen Heiterkeitsdebatte von denen des durch Staigers Forderungen ausgelösten Zürcher Literaturstreits unterscheiden. Damit verbunden ist die These, dass Heiterkeit wieder nur als feuilletonistischer 'Kampfbegriff' verwendet wird, der eine differenzierte Sicht auf Heiterkeit als ästhetische Kategorie letztlich verstellt und die der Debatte eigentlich zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft unbeantwortet lässt.
Weimarer Beiträge 53/2007
(2007)
Die Weimarer Beiträge sind eine Zeitschrift für Literaturwissenschaft, aktuelle ästhetische Theorie und Kulturwissenschaft. Zu Ihren Schwerpunkten gehören moderne Literatur im Rahmen anderer Künste und Medien, die Wechselbeziehungen von Literatur, philosophischer und ästhetischer Reflexion sowie die kritische Analyse der Gegenwartskultur.
Die Arbeitsbedingungen und fachlichen Strukturen der Germanistiken jenseits von Deutschland, Österreich und der Schweiz sind anders - diese verschiedenen Voraussetzungen bringen sowohl andere Probleme als auch andere Potenziale mit sich. Mein Beitrag soll daher sowohl die Debatte über die digitale Lehre in der Germanistik in den DACH-Ländern um eine belgische sowie niederländische Außenperspektive befruchten als auch den Austausch mit anderen Germanistiken ermöglichen, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten. Vor diesen Hintergründen möchte der Beitrag zunächst darstellen, 1) wie sich die germanistische Lehre an der Universiteit van Amsterdam bereits vor der Covid-19-Pandemie gestaltete und inwiefern asynchrone und digitale Verfahren dabei eine wichtige Rolle spielten, sowie 2), welche positiven wie auch problematischen Effekte die spontan notwendige Umstellung vom Campus- auf den Online-Unterricht im März 2020 an der Universiteit Antwerpen mit sich brachte. Schließlich sollen daraus 3) Empfehlungen zu einem Blended Learning in der germanistischen Lehre nach der Covid-19-Pandemie sowie 4) Implikationen für die Bildungspolitik und für die Germanistik abgeleitet werden.
Der Beitrag plädiert dafür, den 'digital turn', der weite Teile der germanistischen Lehre spätestens im 'digitalen' Sommersemester 2020 erreicht hat, als Chance zu verstehen, das Fach in der Verbindung von Forschung und Lehre unter den Bedingungen des Digitalen neu zu denken und zukunftsorientiert zu profilieren. Digitalisierung formatiert (auch) in der Germanistik sowohl Forschungsgegenstände und Methoden als auch die Möglichkeiten ihrer Vermittlung in der Hochschullehre als einem Teil der Wissenschaftskommunikation. Doch Digitalisierung bewirkt weniger eine technische Ausstattung als vielmehr eine Kultur der Digitalität.
Zwei sehr unterschiedliche Romane haben Ende des 20. Jahrhunderts frischen Wind in die Segel der träge gewordenen Erzählliteratur geblasen: Michel Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone" und "Die wilden Detektive" von Roberto Bolaño. Beide gehen in ihrer formalen Machart ein hohes Risiko ein, beide meistern es – und beide sind autobiographisch grundiert. Allerdings nicht so, dass das Gelebte und das Geschriebene in irgendeiner Weise parallel verlaufen würden, vielmehr setzt die Gestaltung unweigerlich einen Prozess der Umgestaltung in Gang, so dass sich Dichtung und Wahrheit, um das einst von Goethe aufgetane Gegensatzpaar zu bemühen, tief ineinander verstricken. Der Anteil der Fiktion ist in beiden Büchern ebenso hoch oder höher als die schmerzhafte und lustvolle Erfahrung, die den Autor zur Verarbeitung drängte. Wobei der Schmerz beim Franzosen überwiegt, beim Chilenen alles in allem die Lust. Bolaños Roman zeichnet aus vielen verschiedenen Perspektiven die Wege und Etappen Arturo Belanos nach; schon der Name des Protagonisten verweist darauf, dass es sich um ein Alter-Ego des Autors handelt.
Der im Alltag wie auch in medialen Darstellungen immer wieder anzutreffende Befund, dass Arbeit "irgendwie" mit der ganzen Gesellschaft zu tun habe, das heißt auch mit unserem gesamten privaten Leben, lässt sich aus einer doppelten Blickrichtung heraus sehr viel genauer beantworten als es bisher vielfach der Fall war: nämlich erstens vom Spektrum der für den komplexen Bereich der Arbeit relevanten Diskurse aus und zweitens von der medial und sprachlich erfolgenden Zusammenführung dieser Diskurse und des dabei vermittelten Wissens.
Dieser Aufsatz widmet sich den Problemen der "Medienphilosophie", die vor allem vom gerade erschienenen Handbuch der Medienphilosophie in aller Schärfe aufgeworfen wurden – auch vom Autor dieser Zeilen, der selbst mit einem Beitrag im Buch vertreten ist. Er ist so etwas wie der Versuch einer Klärung der Probleme, die sich in den letzten 50 Jahren in den Medien angesammelt haben.
Ausgangspunkt meiner Interpretation ist die der "Vertreibung" vorangehende Romantrilogie Robert Menasses; der Autor scheint nämlich eine ausgesprochene Vorliebe für Inversionen zu besitzen. Die sogenannte "Trilogie der Entgeisterung" umfasst neben "Sinnliche Gewißheit" (1988) die Romane "Selige Zeiten, brüchige Welt" (1991) und "Schubumkehr" (1995) sowie das in "Selige Zeiten, brüchige Welt" thematisierte und von Menasse anschließend selbst verfasste philosophische Werk der Romanfigur Leo Singer, die "Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens" (1995). In der Trilogie wird mit der "Rückentwicklung […] vom 'Absoluten Wissen' […] zur 'Sinnlichen Gewißheit'" nicht nur die Inversion von Hegels "Phänomenologie des Geistes" (1807) vollzogen, sondern auch der "klassische Entwicklungsroman" wird in der Weise umgekehrt, dass das Individuum "eine Anlage nach der anderen, ein Talent nach dem anderen, eine Fähigkeit nach der anderen" verliert, bis es schließlich "eine verkümmerte Existenz" geworden ist. Meine Hypothese ist, dass auch im Falle der Vertreibung der Struktur des Romans zwei Inversionen zu Grunde liegen und dass hier ebenfalls eine prominente philosophische Vorlage von Relevanz ist, nämlich Walter Benjamins Essay "Über den Begriff der Geschichte" (1942).
Mit der Fanfiction sieht sich die Mediävistik der Chance gegenüber, die Frage nach Entwicklung, Form und Dynamik einer Erzählliteratur, die mit der Unmittelbarkeit des direkten Austauschs veröffentlicht, rezipiert und bewertet wird, zu beantworten: Anders als im tatsächlich mündlichen face-to face-Austausch sind die Texte von Erzählung, Kommentar und Rückmeldung einer Geschichte im Internet zumindest einstweilen auf den Servern der Fanfiction-Webseiten gespeichert und stehen dort der wissenschaftlichen Analyse und Bewertung zur Verfügung. Es ist der Blick auf eine neue Form der Literaturentwicklung und -vermittlung, aber im Vergleich zugleich der Blick auf eine sehr alte Form des Erzählens, die nach jahrhundertelangem Pausieren wieder aktuell ist – zusammen mit dem Postulat ihrer adäquaten Erforschung: Für die Erforschung von Fanfiction als neuem Mediomythos scheint das mediävistische Verständnis von Erzählen und Wiedererzählen hochgradig relevant und die Mediävistik kann umgekehrt möglicherweise im Studium dieses postmodernen Phänomens in aller gebotenen Vorsicht Szenarien mittelalterlicher Erzählkultur modellieren.
"Memes" funktionieren nicht simpel nach dem Prinzip der "imitatio". Sie beinhalten vielmehr ein kreatives Moment der Umgestaltung und Transzendierung des vorher Dagewesenen. Obwohl sie aus Kopien hervorgehen, sind sie mehr als bloße Nachahmung, Verdoppelung und Wiederholung; sie funktionieren – im Sinne einer potenziell irritierenden Abwandlung des "mimesis"-Prinzips – "memetisch": Memes sind darauf ausgerichtet, die Bereitschaft und Fähigkeit zu wecken, ein forminhaltliches Rezeptionsangebot produktiv in einen user generated content umzuformen und umzudeuten. Meme ist insofern gewissermaßen die Abkürzung für "Forminhalt mit memetischer Funktion". So gibt es memetische Fotos, Texte, Segmente, Sequenzen, Gesten, Tänze, Skulpturen und anderes mehr. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Versuch, ausgehend von zwei distinkten memes oder meme-Komplexen eine Art Typologie dieser Gebilde zu entwickeln und so ihre intrikate Semantik besser zu verstehen. Zur Erfüllung dieses Desiderats ausgehend von Fallbeispielen sind allerdings zunächst einige terminologische und wirkungsästhetische Präzisierungen vonnöten, die zum einen den spezifischen Reiz der "memes" oder genauer: die Spezifität der durch sie erzeugten Rezeptions- oder Kommunikationssituation erhellen, zum anderen das hier im Vordergrund stehende "politische meme" als Sonderform des "meme" schärfer konturieren sollen.
In den hier skizzierten Kontext kollektiver Selbstverständigung zeitgenössischer Kulturdiagnostiker fügt sich auch das Mem-Konzept ein, dessen Urheber jedoch nicht im Entferntesten daran dachte, einen Beitrag zur Lösung kulturanthropologischer Grundprobleme zu leisten. Der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der den Neologismus "Mem" eingeführt hat, ist in einem ganz anderen Kontext beheimatet und verfolgt ganz andere Intentionen. Es war vor allem der Gedanke der Replikation, der Dawkins so fasziniert hat, dass er die Frage stellte, ob nicht auch die kulturelle Evolution als ein autoreproduktiver Replikationsprozess begriffen werden könnte. Aber wer oder was sollte sich replizieren? Ließ sich eine Struktureinheit mit einem variablen Komplexitätsgrad annehmen, die analog zum Gen als ein Replikator fungieren könnte? Die Antwort auf diese Frage war die Mem-Hypothese. Gene stellen als biologische Erbeinheiten eine Art von Grundbausteinen der belebten Materie dar. Daran anknüpfend führte Dawkins als Analogon zum Gen die Größe ein, die er Mem nannte. Er definierte Mem als die Einheit kultureller Vererbung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Kopien von sich herstellen kann. Aufgrund eines solchen Wirkungsvermögens können Meme als Quasiakteure der Replikation betrachtet werden, sie seien die Replikatoren, die die kulturelle Evolution in Gang hielten.
Der vorliegende Beitrag rekonstruiert anhand eines bisher in der Forschung kaum beachteten Textes Schernikaus den Weg, den dieser geht, um mit ästhetischen Mitteln "die welt [zu] verändern". In seinem Theaterstück "Die Schönheit", das im Dezember 1987 im Berliner SchwulenZentrum (SchwuZ) durch das Tuntenensemble "Ladies Neid" uraufgeführt wurde, gibt schon der Titel die Frage nach der Ästhetik vor. Das Theaterstück "Die Schönheit" stellt die Frage nach Schernikaus schriftstellerischer Schönheit. Schernikaus Schönheit, das ist zu zeigen, ist nicht Zierrat für sein politisches Anliegen, sondern seine Schönheit ist selbst der Bereich, in dem "die welt veränder[t]" wird.
Vom scheinbaren Ende der Ironie : wie der Ironiker sich ironisch die Ironie auszutreiben versucht
(2018)
"Die Ironie scheint gesiegt zu haben", diagnostiziert Hermann Kurzke im Jahre 1990 und meint damit, dass die moderne Gesellschaft von einer so gut wie alles relativierenden Distanzierung im Sinne einer Abstraktion beherrscht werde, durch welche jede ernsthafte Auseinandersetzung verunmöglicht sei. Revolutionen aber, so Kurzke und hiermit letzten Endes jede ernsthafte und also authentische Handlung einschließend, vertrügen grundsätzlich keine ironische Distanzierung. Ein Ausweg scheint kaum denkbar, ja, letzten Endes gefallen diese neuen, nämlich modernen Menschen sich zumeist in der Pose umfassender Selbstreflexion und Distanz oder ahnen zumindest, dass jedweder Ausweg verunmöglicht ist - und zwar durch die Ironie selbst, die jede Bewegung von vornherein einkassiert. Es ist aber, wie in diesem Artikel gezeigt wird, nun die Ironie selbst, die sich auszutreiben versucht und dies mit ironischem Erfolg.
Alexander Mitscherlich war ein außerordentlich zeitsensibler Mediziner und Akademiker, der kaum eine Gelegenheit ausließ, gesellschaftlich brisanten Themen mit den von der Psychoanalyse bereitgestellten Denkmitteln auf den Grund zu gehen. In den drei Dekaden seiner maßgeblichen Wirkungszeit, den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, hat er der Freud'schen Lehre und der psychosomatischen Medizin in der Öffentlichkeit zu beispielloser Popularität verholfen. Nur wenige Wissenschaftler haben das geistige Profil der Bonner Republik vergleichbar stark geprägt. Dafür spricht etwa seine überragende Radio- und TV-Präsenz. Dabei kam ihm sein schwungvoll assoziierender, essayistischer Schreibstil zugute, der ihm freilich bei der peniblen Theorieentwicklung eher im Wege stand. Mitscherlichs fachwissenschaftliche, im engeren Sinn medizinisch-therapeutische Arbeiten, die deswegen nicht bedeutungslos sind, haben ein deutlich geringeres und weniger nachhaltiges Echo erhalten. Sein Ruhm und Nachruhm – soweit
von Letzterem gesprochen werden kann – verdanken sich in erster Linie seiner schriftstellerisch-sozialpsychologischen Publizistik. Die vorliegende Studie setzt diese Rezeptionslinie fort, indem sie sich einem für sein Denken grundlegenden, bislang aber wenig beachteten Theoriebeitrag Mitscherlichs widmet: seinem Toleranzkonzept. Paradox formuliert könnte man sagen: Toleranz steht bei Mitscherlich im Zentrum seines Gedankensystems, das kein System ist und kein Zentrum hat. Wie ist das zu verstehen?
Die Germanistik ist in besonderem Maße mit dem Umstand vertraut, dass Literatur an Prozessen der Nationenbildung teilhat. Schließlich ist im deutschsprachigen Raum jene besondere Form entstanden, die als Kulturnation angesprochen wird. In der Frühphase der nationalen Bewegung waren Literaten federführend an ihrer Hervorbringung beteiligt. Bald sorgte die Literarhistorie für identitäre Selbstversicherung, indem sie eine endogene, aus autochthonen Quellen gespeiste Kulturentwicklung beschrieb. Die Geschichte der deutschen Literatur wurde als ein Prozess der Entfaltung gedeutet, der die Nation zu sich selbst kommen ließ. Mithin ist die Selbstkritik der Soziologie, einer anderen Wissenschaft aus dem 19. Jahrhundert, auch auf die Philologie zu beziehen: Sie hatte teil an einem "methodologischen Nationalismus", der die Forschung von vornherein auf den Nationalstaat und dessen angebliche Vorgeschichte beschränkte. Man näherte sich der Literatur so als ob diese innerhalb geschlossener Grenzen stattfände; grenzüberschreitende Prozesse blieben außer Acht. Seit einiger Zeit bemühen sich die Philologien um eine "transnationale Wende", ohne der eigenen Fachgeschichte entnehmen zu können, wie dabei vorzugehen ist. Insofern die Komparatistik Nationalliteraturen als distinkte Vergleichseinheiten voraussetzte, bot sie ebenfalls keine Orientierung. Doch bediente die "vergleichende Literaturgeschichte" sich auch anderer Verfahren, wo sie etwa die "Wanderungen von Stoffen und Formen" untersuchte. Deshalb schlug Fritz Strich schon in den 1930er Jahren die Bezeichnung "Weltliteraturgeschichte" vor.
In der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in ganz Europa die sogenannten Völkerschauen, in denen populäre Unterhaltungsformen, Inszenierungspraktiken und wissenschaftliche Ansätze eng ineinandergriffen. In Deutschland spielte dabei der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeck eine wesentliche Rolle: Als sein Tierhandel am Anfang der 1870er Jahre in Schwierigkeiten geriet, begann er, Zurschaustellungen fremder, als "exotisch" betrachteter Menschen zu veranstalten, was ihm großen Erfolg einbrachte. Wie bereits mehrfach in der Forschung hervorgehoben, gingen die so entstandenen Völkerschauen mit bestimmten Inszenierungstechniken einher: Es ging darum, das "Exotische" – das heißt hier vor allem die am Ende des 19. Jahrhunderts ein breites Publikum faszinierende körperliche Fremdheit – anschaulich zu machen und sie zugleich in vertraute Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen einzubetten, um den Zuschauern das Fremde zu vermitteln. Hagenbecks Schaustellungen zeichneten sich insbesondere durch ihre genau durchdachten, auf dramatischen Strukturen und auf melodramatischen Motiven beruhenden Attraktionen aus – wie Überfall und Frauenentführung –, die es ermöglichen, Verbindungslinien zwischen Völkerschauen und Theaterkunst zu ziehen. Es lässt sich zeigen, dass die Art und Weise, wie diese "exotischen" Menschen inszeniert wurden, vom wissenschaftlichen Blick der Anthropologen sowie von der Kooperation zwischen Anthropologen und Schaustellern beeinflusst wurde. Es soll gefragt werden, inwiefern Spuren der Völkerschauen im europäischen Theater der Jahrhundertwende um 1900 aufzufinden sind: Inwieweit übten anthropologisierte Inszenierungen fremder Völker einen Einfluss auf den Retheatralisierungsprozess des Theaters aus? Inwiefern entstand das moderne Theaterverständnis aus einer Anthropologisierung des Theaters?
Seit dem frühen Tode von Parry und der posthumen Herausgabe seiner Schriften durch seinen Sohn (mit einer langen Einleitung, die die außergewöhnliche Leistung des Vaters unterstrich) bewegt sich die Literatur über Parry in der Spannung zwischen zwei Polen: auf der einen Seite steht die Idee, Parry habe die Forschung über Homer und über mündliche Poesie revolutioniert; auf der anderen die Vorstellung, Parry müsse vor allem als Träger und Weiterführer vieler Forschungstraditionen – der deutschen Philologie, der russischen und jugoslawischen Epenforschung, der amerikanischen Anthropologie und Folkloristik, der französischen Linguistik und Anthropologie – gelten. Uns interessiert hier weniger, ob Parry als Entdecker des wahren Homers oder als der "Darwin der Homer-Forschung" angesehen werden kann, sondern inwiefern wir seinen Forschungen etwas für die heutigen Diskussionen um Literatur und Anthropologie entnehmen können.
Wenn hier verhandelt wird, wie Florian Henckel von Donnersmarck im Drehbuch zu "Das Leben der Anderen" (2006) an den Plot eines britisch-französischen Filmklassikers anknüpft und an einen Roman aus der späten DDR, so hat das teils mit der herausgehobenen Stellung seines Erfolgswerks und seinen Selbstkommentaren zu tun, teils mit Überlegungen zur Intertextualitätsforschung. Beginnen wir mit den ersten beiden Aspekten und klären dann bei der Drehbuchanalyse die theoretischen Positionen. Vorausgeschickt sei nur, dass mit einem erweiterten Zitatbegriff gearbeitet wird, wie in der neueren Kulturwissenschaft üblich, und entsprechend einer Entwicklung im Kunstsystem seit den 1980er Jahren. Dort versteht man unter Zitieren längst nicht mehr nur die wörtliche Übernahme einer Textstelle, sondern jede beabsichtigte Bezugnahme eines Kunstwerks auf ein anderes, sei es aus der eigenen Sparte oder aus benachbarten: Akte künstlerischer Selbstreferenz. Mit der Erweiterung des Zitat- geht die des Textbegriffs einher, der hier Zeichensysteme in den Grenzen eines Einzelwerks meint, damit auch Bedeutungsträger eines Films. Als literaturwissenschaftlicher Beitrag zu verstehen ist das Folgende zum einen wegen der faktischen Aufwertung des Drehbuchs durch das konsekrationsfähige Verlagshaus Suhrkamp, zum anderen, wichtiger, weil wir den Film fast ausschließlich auf der Plot-, nicht auf der Bildebene betrachten.
Wenders selbst hatte sein Meisterwerk von 1987 als "vertical road movie" tituliert und damit die Sonderstellung des Films (nicht nur) innerhalb des eigenen Schaffens über Gebühr heruntergespielt. Diese Sonderstellung dadurch herauszuarbeiten, dass das Attribut "vertikal" ernst genommen, die wenig zielführende Zuweisung "Roadmovie" hingegen außer Acht gelassen, dass also die im Film erfolgende(und in dessen Titel bereits vage angekündigte) Verabschiedung des Vorn und Hinten zugunsten des Oben und Unten, oder um es mit Fred van der Kooij zu sagen: die "'Rückeroberung' der Vertikalen", als das wahrgenommen wird, was sie in Wenders' OEuvre ist, nämlich ein radikaler Bruch mit dem Vorangegangenen, ist Ziel der folgenden skizzenhaften Ausführungen.
Die Entscheidung, "Flüchtling" zum Wort des Jahres 2015 zu erklären, bewirkte zweierlei: Sie rief Flucht und Vertreibung in das kulturelle Bewusstsein zurück und rückte ihre medialen Repräsentationsformen in das Blickfeld der Migrationsdiskurse. Der literarische Diskurs der Migration interessiert sich für ästhetische Darstellungsformen von Migrationsformen. Er hinterfragt festgefahrene Vorstellungsmuster und problematisiert die bedeutungskonstruierenden und -konstituierenden Schemata der Migration, zu denen auch die erzwungenen Formen Flucht und Vertreibung zählen. Der literaturwissenschaftliche Diskurs geht der Frage nach Figurationen des Flüchtlings nach und untersucht, in welchen kulturellen Bedeutungszusammenhängen Flüchtlingsfiguren verortet werden, an welchen poetischen Mitteln diese Verortung erprobt wird und welche Erkenntnisse aus dem literarischen Diskurs des Flüchtlings gewonnen werden können. Dieser Diskurs verlöre aber an Wirkung, würde er jene begriffliche Signifikanz nicht auch in ästhetischer Hinsicht begründen. Zugleich gilt es die Wechselwirkung des Literarischen und Gesellschaftlichen im methodischen Vorgehen zu berücksichtigen. Ohne die Wechselwirkung an dieser Stelle historisch vertiefen zu können, sollen die Semantiken, die der öffentlich-politische Diskurs dem Flüchtlingsthema bisher zugeschrieben hat, herangezogen werden, denn in diesen Semantiken lässt sich eine Symbolik erkennen, die Aufschlüsse über das Verständnis des Kulturellen nach einer Definition ex negativo geben kann: Symptomatisch ist die dreifache Annahme, Flüchtlinge betrachteten identitätsstiftende Kriterien der aufnehmenden Gesellschaft nicht als verbindlich, sie teilten deren Geschichte nicht und könnten daher auch nicht an deren Gedächtnishorizont teilhaben; dieses Verständnis erfasst den Flüchtling nicht als Phänomen kultureller und globaler Prozesse, sondern verortet ihn an den Grenzen des Eigenen im Sinne einer Erscheinung außerhalb des eigenkulturellen Raumes.
In Kontext eines modernen Interesses an als archaisch markierten Denkformen steht auch Benjamins im Jahr 1933 verfasster, zu Lebzeiten jedoch unpublizierter Aufsatz mit dem Titel Lehre vom Ähnlichen. Als Vorstufe existieren zwei wohl 1932 verfasste kurze Arbeiten "Zur Astrologie" und "Zur Erfahrung" sowie eine Umschrift aus dem Jahr 1934 mit dem Titel "Über das mimetische Vermögen". Diese Texte Benjamins werden vornehmlich aufgrund der darin enthaltenen sprachtheoretischen Überlegungen meist als Aktualisierungsversuch von Benjamins frühen Arbeiten zur Sprachphilosophie gesehen oder in Beziehung zum Problem der Erinnerung gesetzt, wie es sich von Benjamins Proust-Lektüren und der Berliner Kindheit um 1900 her ergibt. Benjamins Texte zum Problem der Ähnlichkeit lassen sich jedoch auch in einen thematisch und zeitlich näherliegenden Zusammenhang stellen: Der Arbeit an Benjamins groß angelegtem, unvollendetem Werk über die Pariser Passagen, die sich von 1927 bis zu Benjamins Tod 1940 erstreckt.
Der Dichter als "poeta vates" ist eines der Dichtungsmodelle, das die Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert bestimmt. Der Topos des "poeta vates", wie er von Autoren des 18. Jahrhunderts unter anderem in der lyrischen Gattungsform der Hymne akzentuiert wird, ruft ein Modell religiöser Autorschaft auf und greift zugleich auf antike Vorbilder zurück. Autorisiert wird der Dichter von einer höheren Instanz. Mit dem Konzept des "poeta vates" entwirft schon die antike Literatur einen Topos, der den Dichter als Seher, Mittler und als göttlich Inspirierten begreift.
Es gibt im Schreiben Heinrich Heines eine gestische Konstante, die sich durch das ganze Werk hindurchzieht und die sich am besten mit dem Begriff der Unrast bezeichnen lässt. Unrast ist Bewegung, die in einem angespannten Verhältnis zur Nicht-Bewegung steht. Sie erfolgt aus Angst vor Stillstand und aus Sehnsucht nach Ruhe zugleich. Sie ist Suche ohne benennbares Ziel und Flucht ohne unmittelbaren Anlass. Sie entspringt dem Ekel davor, dass alles so bleiben könnte, wie es ist, aber auch dem Schauder darüber, wie es wäre, wenn es anders würde. Sie kann Lebensenergie ebenso gut momenthaft freisetzen wie langsam aufzehren. Die folgenden Ausführungen versuchen die persönlichen, die gesellschaftlichen und die poetologischen Fragen zu rekonstruieren, auf die Heines Unrast eine im Hinblick auf den inneren Zusammenhang seines Gesamtwerks bislang zu wenig beachtete Antwort darstellt.
"The Cultural Revolution generation always talks about how they lived through such a painful calamity in Chinese history, but I feel that the shock and incredible impact the decade of reform and economic commodification in the 1980s had on individuals was also extremely profound. [...] [Y]ou can't say that simply because that generation's material life is richer, their lives are happier. What I really want to focus on is, over the course of this transformation, who is paying the price? What kinds of people are paying the price?" Beide Äußerungen fielen anlässlich des Erscheinens von "Platform" (2000), Jias zweitem Spielfilm, der Anfang September 2000 auf dem Filmfestival von Venedig seine Weltpremiere feierte. Mit ihm nahm der Regisseur eine Besichtigung der 1980er Jahre in China, genauer: des Zeitraums von 1979 bis 1990, vor; das heißt, wenn man sich eine gewisse Vereinfachung gestattete, könnte man sagen: Worauf die Geschehnisse bei Zhang, Chen und Tian zulaufen, nämlich auf die Kulturevolution, bildet in Platform wenn auch nicht den Ausgangspunkt, so doch zumindest das diesen konkurrenzlos prägende Großereignis. Oder etwas salopp formuliert: Indem er chronologisch dort weitermacht, wo "Lebewohl, meine Konkubine", "Der blaue Drachen" und "Leben!" aufgehört haben, tritt Jias Film als eine Art Sequel der drei Werke in Erscheinung, mag es sich bei ihm auch in vielerlei Hinsicht um eine Revision derselben oder, im Sinne von Harold Blooms "anxiety-of-influence"-Konzept, um eine ödipale Kampfansage eines jungen Filmemachers an die Regie Vätergeneration handeln.
Von Passivität, Abneigung, gar einem "tief verwurzelte[n] Mißtrauen" gegenüber dem Interview, wie es Volkmar Hansen als typisch für Schriftstellerinnen und Schriftsteller diagnostiziert, kann im Falle Peter Kurzecks keine Rede sein. Der Autor zeigt sich in journalistischen Gesprächen deutlich engagiert, er gibt bemerkenswert ausführlich Auskunft: über den Inhalt seiner Romane, den Prozess des Schreibens und dessen Motivation; über die Erinnerung an die eigene Kindheit im hessischen Staufenberg und die Flucht aus Westböhmen dorthin; über bereits geschriebene oder noch zu schreibende Bücher, über Möglichkeiten und Grenzen der eigenen autobiographisch grundierten Erinnerungsarbeit. Wo andere mit Abneigung reagieren und ausweichen, legt Kurzeck sein Schreiben bereitwillig offen, um dabei eben nicht nur zu erläutern, worum es in den Texten seiner "Serie" inhaltlich, motivisch oder konzeptionell geht oder gehen wird, sondern auch, um dezidiert Einblicke in die eigene Dichterwerkstatt zu ermöglichen.
Unterwegssein am Rande "Europas" : Robert Musils Prosa aus den 20er Jahren als Praktik des Spacing
(2018)
"Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte [...]. Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen." Mit dieser Aussage hat Michel Foucault bereits früh - in den späten 1960er Jahren - eine Wende von der Geschichte (oder Zeit) zum Raum diagnostiziert. Der "spatial turn", die Wiederentdeckung des Raumes durch die Postmoderne, hat mittlerweile auch in die Literaturwissenschaften Einzug gehalten. Dort, wo man den "'erzählte[n] Raum' [...] schon längst vor dem spatial turn behandelt" hat, hat die neue Raumperspektive vor allem zu einer "Aufwertung realer Räume" geführt: Orte werden "nicht mehr nur als narrative Figuren oder Topoi, sondern auch als konkrete, geographisch identifizierbare Orte" untersucht; es geht also etwa um "Jane Austen's Britain" oder "Sherlock Holmes' London". Was diese Art der Behandlung literarischer Werke im Zeichen der "räumlichen Wende" angeht, ist Robert Musil mit seinem Hauptwerk "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930/32) denkbar ungeeignet. In seinem "auf dem Gedanken basierenden Roman", wie Milan Kundera treffend feststellt, wird Wien, der Schauplatz des Romans, "kaum erwähnt, ja der Autor hält es nicht einmal nötig, Straßen, Plätze und Gärten visuell heraufzubeschwören." Bei Musil ist Kakanien, so Kundera weiter, "nicht, wie Davos bei Thomas Mann, Hintergrund des Romans, es ist eines der Themen des Romans; es wird nicht beschrieben, es wird analysiert und gedacht". Auch wenn sich bei Musil also keine topographische Beschreibung von Orten findet, so reflektiert Musil moderne Raumverhältnisse doch auch in seinem Hauptwerk auf bedenkenswerte Art und Weise. Vor allem aber Musils kleine Texte aus den 1920er Jahren, die in der Forschung bisher nur marginal behandelt worden sind, bieten interessante Ansatzpunkte für eine raumtheoretische Betrachtung.
Mit der Einsicht in eine Gespensthaftigkeit von Marx präsentiert Jacques Derrida eine treffende Metapher für das bis heute übliche Muster, Marx als Projektionsfläche in politisch hochaufgeladenen Diskursen zu instrumentalisieren. Auch eine Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Marx-Verständnis muss kritisch auf diese Tendenzen reflektieren. Um dieser Problematik gerecht zu werden, erfolgt in der vorliegenden Untersuchung eine strikte Konzentration auf das Bild, das Benjamin sich von Marx gemacht hat. Die in der Forschung etablierte Auffassung, nach der Benjamin Marx verfehlt oder missverstanden habe, erscheint bei dieser Vorgehensweise nicht relevant. Anstatt Benjamins Marx-Verständnis an objektivierten (oder dogmatisierten) Forschungsstandards zu messen, wird nur die Frage behandelt, was Benjamin an und bei Marx verstanden hat.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt am 9. Mai 1945 fand die dort seit Februar inhaftierte Journalistin Eva Noack-Mosse eine kleine Anzahl von Gedichten und Gedichtfragmenten auf "Fetzen armseligen Papiers [...] meist mit Bleistift gekritzelt, vielfach durchgestrichen und verbessert, oft verlöscht und schwer lesbar." Sie wurden der dort am 19. April 1945 verstorbenen Kunsthistorikerin und Dichterin Gertrud Kantorowicz zugeschrieben und gehörten zu der "unübersehbaren Flut" von Versen, die sich laut Hans Günther Adlers monumentaler Geschichte von Theresienstadt über das Lager ergoss. Er sah in den meisten nur "ein einsames Gesellschaftsspiel mit sich selbst," denn noch "ein klapperndes Versmaß verspricht mehr Schutz und Bestand als das Fristen eines zerhämmerten und gnadenlosen Daseins." Geht man aber von der persönlichen Bekanntschaft der jungen Gertrud Kantorowicz mit Stefan George und den hiermit verbundenen lange nachwirkenden Anregungen aus und wird ferner berücksichtigt, welche Rolle im George-Kreis die Antike-Rezeption gespielt hat, so ist es nicht mehr so verwunderlich, dass die meisten Theresienstadt-Gedichte Kantorowicz' in antikisierenden Versformen und im hohen Stil gehalten sind; das ist nicht nur eine unerhörte Verfremdung der herabziehenden und demütigenden Lagererfahrung, sondern auch ein Sich-Erheben über Schmutz, Gewalt und Ungeist, eine ganz persönlich geprägte poetische Selbstbehauptung und Widerstandshandlung. Diesen Zusammenhängen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Weimarer Beiträge 64/2018
(2018)
Die Weimarer Beiträge sind eine Zeitschrift für Literaturwissenschaft, aktuelle ästhetische Theorie und Kulturwissenschaft. Zu Ihren Schwerpunkten gehören moderne Literatur im Rahmen anderer Künste und Medien, die Wechselbeziehungen von Literatur, philosophischer und ästhetischer Reflexion sowie die kritische Analyse der Gegenwartskultur.
Der Konflikt zwischen den Herrschenden und denen, die die Herrschaft begründen, kann durch kulturelle Artikulation verhindert werden. Einer der Faktoren, die zu diesen kulturellen Artikulationen beitragen, sind die Noemata der Kultur. Man kann also sagen, dass Noemata zur Bildung, Veränderung und Transformation von kultureller Gedächtnisakkumulation führen. Kulturelle Gedächtnisakkumulation ermöglicht den kulturellen Vergleich verschiedener Kulturen, indem die subjektive Identität einer Nation definiert wird. Die Grenzen des Raumes entsprechen auch einer abstrakten und symbolischen Verlängerung. Das Symbol ist mit der Sprache verbunden, das heißt mit dem Diskurs. An dieser Stelle kann man die Existenz von Noema in der Kultur und die Auswirkung auf den Punkt des Umsetzens in der Literatur sehen, der die Periodenmerkmale widerspiegelt. Das Ziel dieser Arbeit ist es, in den Werken "Wie kommt das Salz ins Meer?" von Brigitte Schwaiger und "Kadının Adı Yok" ['Die Frau hat keinen Namen'] von Duygu Asena anhand Edmund Husserls Begriffen Intentionalität und Noemas zu untersuchen.
The aim of this study is to trace back the translator of "Reinhold Lubenau Seyahatnamesi [Osmanlı Ülkesinde, 1587-1589]" and focus on her translation approach through paratexts. The traveller portrays the Muslim 'other' whom he met in the Ottoman Empire where he spent his time between the years 1587-1589, when the Ottoman Empire had the power and Islam was being perceived as a threat to them versus his own culture which he belonged to as a Prussian Protestant. The translation of this itinerary is available to Turkish readers after approximately 400 years in 2012. What makes this translation interesting is the translation of a source text, in which the target culture was being portrayed from the perspective of the 'other', into a target language. How was this 'foreign' perspective constructed by the traveler translated and reflected in the paratext? What was the approach of the translator against the challenges he encountered during the translation process? Answers to these questions among many others were being searched through an examination of paratexts. In addition, it was also discussed whether the author moved to the reader or the reader moved to the author. Paratexts encourage reading and direct the reception (Genette 2016). In this study, book covers, names, titles, genre, graphics illustration and footnotes were examined. Translator footnotes, which were provided by the translator in order to make the text clear, were classified in order to underline the functions of these footnotes. Translator footnotes are the tools, which make translators visible and help them to raise their voices in the texts. In peritexts, translator can provide extra information to the readers, explain and justify his/her translation decisions.
Die deutsche Literatur ist ohne die Märchen der Gebrüder Grimm nicht zu denken. Sie verkörpern die deutsche Kultur und sind sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene geeignet. Neben der Kulturvermittlung von Generation zu Generation haben die Märchen der Gebrüder Grimm den Zweck, das Volk zu belehren und aufzuklären. Die Märchen sind nicht nur in europäischen Ländern gängig, sondern stoßen auch in anderen Ländern wie Georgien, Aserbaidschan und der Türkei auf großes Interesse. Die vorliegende Arbeit hat die Absicht, orientalische Einflüsse in den georgischen, aserbaidschanischen und türkischen Märchenübersetzungen der Gebrüder Grimm zu analysieren und diese zu deuten. Hierfür wird von den Märchen "Rotkäppchen" und "Der Wolf und die sieben Geißlein" Gebrauch gemacht. Parallel dazu werden die Übersetzungen mit der deutschen Ausgangssprache in Vergleich gesetzt und somit sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten aufgezeigt.
Hermann Pauls sprachpsychologische Wurzeln: Darwin und die funktional-pragmatische Psychologie
(2020)
Den 'Darwin-Effekt' auf die Sprachwissenschaften, also den Evolutionismus der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, thematisiert der Beitrag von Clemens Knobloch. Die Rezeption der Evolutionsbiologie war vielschichtig und widersprüchlich. Von nicht wenigen als Fortschritt begrüßt, der eine naturwissenschaftliche Legitimation auch der Sprachwissenschaft begründe und als produktiver interdisziplinärer Transfer bewertet, blieb der Rekurs auf Darwin häufig jedoch eine bloß modische Wissenschaftsattitüde, der zugleich dezidierte Ablehnung provozierte. Auch innerhalb der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften regte sich bei einer Anzahl von Autoren entschiedener Widerstand dagegen, Darwin die Rolle eines "wissenschaftlichen Platzanweisers" für die eigene Disziplin einzuräumen. Als 'Darwinismus wider Willen' könnte man den von Knobloch untersuchten Beitrag Hermann Pauls deuten, den er zur Entwicklung der historischen Sprachwissenschaften, vor allem auch der Sprachpsychologie, geleistet hat.
Den 'Darwin-Effekt' auf die Sprachwissenschaften, also den Evolutionismus der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, thematisiert der Beitrag von Wolfert v. Rahden. Die Rezeption der Evolutionsbiologie war vielschichtig und widersprüchlich. Von nicht wenigen als Fortschritt begrüßt, der eine naturwissenschaftliche Legitimation auch der Sprachwissenschaft begründe und als produktiver interdisziplinärer Transfer bewertet, blieb der Rekurs auf Darwin häufig jedoch eine bloß modische Wissenschaftsattitüde, der zugleich - nicht nur von theologischer Seite - dezidierte Ablehnung provozierte. Auch innerhalb der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften regte sich bei einer Anzahl von Autoren entschiedener Widerstand dagegen, Darwin die Rolle eines "wissenschaftlichen Platzanweisers" für die eigene Disziplin einzuräumen. Max Müller etwa unterläuft den Evolutionsdiskurs auf ironische Weise. Wie von Rahden darstellt, finden sich in der 'multiplen Semantik' des Sprachursprungsbegriffs jener Zeit Allianzen zwischen Vertretern darwinistischer Evolutionsbiologie, der aufstrebenden Indogermanistik sowie Verfechtern der 'Einheit der Sprachnation', die in der Rekonstruktion der germanischen 'Ursprache' (Jacob Grimm) das Streben nach der politischen Einheit einer 'Nation deutscher Zunge' auch sprachwissenschaftlich flankierend unterstützen wollten. Die semantische Verschiebung vom Sprachursprungsbegriff zum Begriff der Ursprache als Forschungsgegenstand sollte die erhoffte neue wissenschaftliche Basis zur Beantwortung der alten Frage eröffnen; doch die Suche nach der 'Chimäre' der Ursprache (W. v. Humboldt) verharrte letzten Endes ebenso im Nebel der Spekulation wie zuvor die Suche nach dem Ursprung der Sprache. Gleichwohl generierte sie entscheidende Innovationsschübe für die historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften, weil sie die empirischen und philologischen Dokumentationen und Untersuchungen einer Vielzahl konkreter Einzelsprachen beförderte und vorantrieb.
Editorial
(2020)
Diese Ausgabe des "Forums Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" vereint zwei Themenschwerpunkte, die, unabhängig voneinander entstanden, auch inhaltlich zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In drei englischsprachigen Beiträgen des ersten Teils geht es um die sich semantisch und in ihrer historischen Genese überlappenden Begriffe 'Energie', 'Entropie' und 'Anthropozän'. Der zweite Themenschwerpunkt behandelt begriffshistorische Verschiebungen im Theoriegebäude der Sprachwissenschaft. Die Ausgabe wird beschlossen durch den Politikwissenschaftler Kari Palonen (Universität Jyväskylä, Finnland), der einen Band zur Geschichte der politischen Ideengeschichte rezensiert.
Nachstehenden Text schrieb ich, während ich an der University of Victoria in British Columbia, an der Westküste Kanadas, lehrte. Schon vorher war ich oft in Nordamerika gewesen und hatte überall im Land mit vielen Menschen gesprochen. Die Auseinandersetzung mit "Political Correctness" war ein Versuch zu verstehen, was mich jedesmal neu irritierte, wenn ich den Fuß auf nordamerikanischen Boden setzte: Mein (europäisches) politisches Orientierungssystem funktionierte nicht mehr. Ethnozentrismus, identitäre Politik, Tendenzen zu politischer Abschließung waren und sind in meiner europäischen Sicht "rechts" - hier galten sie als "links" und als die letzte Weisheit progressiver Politik. Und in der Kritik solcher Tendenzen, auch im Seminarraum, fühlte ich mich in mir unangenehmer Nähe zu - aus europäischer Sicht - "rechten", konservativen Autoren, mit denen ich sonst keine politischen Werte teilte. Schon damals war mir klar, dass die US-Gesellschaft, weniger die kanadische, politisch in zwei feindliche Blöcke gespalten war. Diese Spaltung wirkte tief bis in die Argumente der verfeindeten Gruppen; für abwägende Positionen war wenig Raum, zu sehr waren die Feinde ineinander verkeilt. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass das gesellschaftliche und politische Zerwürfnis sich noch weiter vertiefen könnte. Aber die heutigen USA sind tatsächlich noch tiefer in einem Strudel politischen Irrationalismus. Insofern war die schon schattige Schlussbemerkung des alten Aufsatzes bei Weitem zu optimistisch. Und der politische Irrationalismus hat sich auch in Europa einen weiten Handlungsraum erobert.
Wie kann man sich auf etwas beziehen, das sich einfach nicht sagen lässt? Melanie Unseld hat herausgestellt, dass "Salomons Singespiel als künstlerisch-autobiographische Selbstreflexion und als Markierung der eigenen Liminalität zu verstehen [ist], als Versuch einer künstlerischen Selbstverortung, entstanden in einer isolierten Exilsituation, in der Selbstverortung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellte." Wo das Politische und eine extreme Form von Zensur korrektes, den Normen entsprechendes Kommunizieren nicht mehr zulassen, diese Situation aber gleichzeitig das Bedürfnis auslöst, ein Medium des gelingenden Selbst(er)sprechens zu finden, erscheint (kulturelle) Identität auch als ein performativer Akt, in dem die Herstellung und Darstellung der eigenen Geschichte nicht mehr klar zwischen Fiktionalität und Faktualität trennen kann, sondern spezifisch eigene Formen des Selbstentwurfs findet. Das macht Elisabeth Böhm im Folgenden anhand von Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" nachvollziehbar.
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges blühte das deutschsprachige Berufsschauspiel auf - und mit ihm auch das Marionettentheater. Beide agierten in denselben Räumen und fußten auf demselben Repertoire, das hauptsächlich aus dem Englischen und Niederländischen, seltener aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen übertragen wurde. Da es in Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden keine professionellen Dramatiker gab, bearbeiteten die Prinzipale die Texte meist selbst oder übertrugen die Aufgabe einem angehenden oder abgeschlossenen Akademiker gegen Lohn. Der Einfluss des evangelischen Schultheaters und des katholischen Jesuitentheaters ist dagegen zu vernachlässigen, da deren Texte nicht für eine professionelle Aufführung konzipiert waren bzw. einen übermäßigen szenischen Aufwand verlangten. Auf der Suche nach neuen Texten wurden dagegen die Opernsammlungen von Cicognini und anderen Librettisten, deren Werke überwiegend im höfischen Kontext entstanden waren, aufmerksam studiert. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Puppen- und dem Schauspielertheater bestand in der Betriebsorganisation. Man konnte eine Marionettenbühne bereits mit einem Bruchteil des Personals einer Schauspieltruppe betreiben. Dies senkte die Betriebskosten und erweiterte die Auftrittsmöglichkeiten. So spielten die Marionettenspieler nicht nur an Höfen und auf Rathäusern, auf Jahrmärkten und Messen in Bretterbuden und Gasthäusern. Sie waren auch in den Vorstädten und selbst in kleinen Dörfern zu finden. Für die Genehmigung waren ausschließlich die Kommunen zuständig. [...]
Ludwig Anzengruber wurde zu Lebzeiten zum 'Klassiker der Bauernkomödie' stilisiert, was seinen in der Stadt angesiedelten Dramen aufgrund der "eingerastete[n] Erwartungshaltung des Publikums" mitunter zum Verhängnis wurde. Dass sich die am Land dargestellten gesellschaftlichen Probleme nahtlos auf die Stadt übertragen lassen, hat Anzengruber im Nachwort zu seinem Roman "Der Sternsteinhof" angedeutet, das auch als poetologischer Schlüsseltext für seine Dramenproduktion gelesen werden kann. Demnach diene ihm "der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens" zu einer einfacheren und verständlicheren Darstellung, "wie Charaktere unter dem Einflusse der Geschicke werden oder verderben." An den Vorstadtbühnen muss in theatraler Hinsicht wohl zudem die Schaulust der Großstädter an den ländlichen Bauernfiguren mitbedacht werden. Und - so das Fazit des vorliegenden Beitrags - auch im Hinblick auf die Überwachung des Wiener Unterhaltungstheaters dürfte besonders der Gattung der Bauernkomödie ein erweiterter dramaturgischer Handlungsspielraum zugestanden worden sein. Während sich die Zensur im Falle der "Kreuzelschreiber" vor allem dem 'vorgeschobenen', tagesaktuellen Kirchenkonflikt widmete, der in Anzengrubers Komödie nach der Exposition allerdings keine größere Rolle mehr spielt, tolerierte sie die satirische Kirchenkritik wohl auch, weil sie den politisch und moralisch nicht gerade integren Bauernfiguren in den Mund gelegt wurde.
Sozial- und politikromantische Einbildungen haben eine lange, vielleicht sogar unendliche Lebensdauer, vor allem - aber nicht nur - in den Massenmedien. Zu solchen Vorstellungen gehört, dass die Oper vor allem im 19. Jahrhundert eine revolutionäre und systemkritische Wirksamkeit entfaltete oder die Komponisten dies zumindest beabsichtigten. [...] Die Opernzensur, so wird umgekehrt geschlossen, sei dazu dagewesen, all dies zu unterdrücken. Und die freiheitsliebenden und aufgeklärten Komponisten hätten einen steten Kampf gegen die Zensoren zu führen gehabt. Das hier skizzierte Bild der Operngeschichte darf man, auch wenn es immer noch in wissenschaftlichen Kontexten erscheint, als groben Unfug bezeichnen. [...] Viel wichtiger als das politische Argument war sowohl im 18. wie im 19. Jahrhundert das moralische Argument von Zensoren gegen einzelne Opern.
Es legt sich nicht unmittelbar nahe, dass sich eine Alttestamentlerin von ihrem Fach her zu Zensur äußert. Schließlich ist das, was wir heute unter Zensur verstehen, vorrangig mit der Kontrolle von Massenmedien verbunden, die es in der Form zu biblischen Zeiten nicht gab. Zensur im Sinne kontrollierender Lenkung von Information und Deutungshoheit über Fakten durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Institutionen und Machthaber gab und gibt es freilich überall, wo Menschen zusammenleben und sich eine soziale Ordnung bzw. Hierarchie herausbildet. So will dieser Beitrag in einem interdisziplinären Kontext einige grobe historische und theologische Linien vom alttestamentlichen Verbot, andere Gottheiten zu verehren, über die ikonographische Zensur hin zu erlaubten, religionspolitisch aber völlig inkorrekten sprachlichen Gottesbildern nachzeichnen.
Fast unbemerkt und wider alle Erwartung ist der Laie ausgerechnet unter den Bedingungen einer modernen, hoch differenzierten, aber inzwischen weitgehend entbürgerlichten Massengesellschaft zum Experten seiner selbst ernannt worden. Konsumenten, Studienfachwähler, Spiritualitätsbegeisterte und andere von ihrer Eigenkompetenz überzeugte Meinungsinhaber bekennen sich inzwischen selbstbewusst zu den Dogmen der Selbstautorisierung, Selbstbestimmung, Selbstermächtigung, Selbstherrlichkeit, Selbsterkenntnis und Selbstverliebtheit, obwohl oder gerade weil sie jedem philosophischen System abhold sind, alle Ideen für weitgehend überflüssigen Ballast und die bürgerliche Gesellschaft längst nicht mehr für eine diskutierende Klasse halten. Das spätestens seit der Reformation geltende Zeugnis vom "Priestertum aller Gläubigen": ist es im Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endlich zur selbstverständlichen Wahrheit geworden? Das Fragezeichen ist der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen.
Erstens: Der Begriff der Zensur löst Assoziationen an vergangene Welten oder an autoritäre Systeme aus. Aber Zensur ist Gegenwart, auch in der klassischen Form durch Staaten und Religionen; und sie gewinnt ganz neue Facetten und Dynamiken durch die Systeme der digitalen Welt. Zweitens: Zensur wird grundsätzlich als negativ wahrgenommen, als Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit. Aber mindestens die Hälfte des Problems besteht auch in der westlichen freiheitlichen Welt darin, wie man - im Dienste der Freiheit - Zensur aufbaut, intensiviert und durchsetzt. Drittens: Die zahlreichen Bereiche gesellschaftlicher Tabuisierung, die in einer (oft massiven) Zensurierung des Sagbaren münden, sind nicht zu unterschätzen. Es gibt Prozesse einer partiellen Sensibilisierung, die sich in sozialer Sprachkontrolle ausdrücken. Neben den sprachlichen gibt es aber auch inhaltliche 'Verbote'. Viertens: Aus einem dogmatischen Relativismus erwächst oft ein normativer Postfaktizismus. Eine dieser Varianten ist der "gefühlige Postfaktizismus", demzufolge Fakten, die den Gefühlen vieler Menschen widersprechen, nicht mehr vorgebracht werden dürfen. Linksintellektuelle und Rechtsautoritäre sind sich in der Verwendung dieser Muster sehr ähnlich.
Manfred Prisching: Die Verbotsgesellschaft : Zeitdiagnostische Befunde zur Zensur - Georg Kamphausen: Der Laie als Experte seiner selbst, oder : was heißt moralische Selbständigkeit? - Irmtraud Fischer: Vom kreativen Effekt der Zensur alttestamentlicher Gottesbilder : das alttestamentliche Bilderverbot in seinen historischen Kontexten und seinen Auswirkungen auf die metaphorische Rede von Gott - Michael Walter: Zensur und Political Correctness auf der Opernbühne - Matthias Mansky: Ludwig Anzengruber und die Zensur : Anmerkungen zur Bauernkomödie "Die Kreuzelschreiber" - Lars Rebehn: Vorzensur, Nachzensur, Selbstzensur : das Puppentheater, der Staat und die Moral - Elisabeth Böhm: Was sich einfach nicht sagen lässt : Sagbarkeit, Gattungskonzeption und kulturelle Identität anhand von Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" - Dieter Haselbach: Political Correctness : zur politischen Kultur in Nordamerika (1995)
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
Die folgende Auseinandersetzung mit der "Wahlverwandtschaften"-Abhandlung versteht sich nicht allein als Beitrag zur Rezeption Benjamins in der Literaturwissenschaft, zumal diese von Burkhardt Lindner und Vivian Liska bereits auf umfassende Weise nachgezeichnet worden ist. Ihr geht es vielmehr darum, in der kritischen Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Echo, das Benjamin in der Literaturwissenschaft gefunden hat, eine poetologische Dimension in seinen Schriften aufzuweisen, die in der doppelten Bedeutung als Theorie und Praxis der Dichtkunst noch heute für die Literaturwissenschaft wie die philosophische Ästhetik von Bedeutung ist. Wie zu zeigen sein wird, sind Benjamins "Wahlverwandtschaften" für die Philologie wie die Philiosophie noch immer zu entdecken.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Wenn man in der Bibelkritik nach Figuren der Fälschung sucht, muß man eine Reihe verwandter Phänomene wie Betrug, Plagiat, Textverderbnis, Kopie usw. miteinbeziehen: jene Konzepte, die an die Stelle der Fälschung treten, ihr aber oft zum Verwechseln ähnlich sehen. Zu untersuchen ist daher, wie die Frage, ob die Bibel oder Teile von ihr echt oder gefälscht sind, nicht nur immer wieder anders beantwortet, sondern auch immer wieder anderes gestellt wird. Im folgenden werden daher an vier Autoren - Baruch de Spinoza, Jean Astruc, Hermann Samuel Reimarus und David Friedrich Strauß - vier Aspekte der Fälschung thematisiert: Fälschung als Grenzsetzung, Materialität der Fälschung, Urfälschung und schließlich die doppelte Aufklärung der Fälschung.
The article presents the image of Count Albert Joseph Hoditz (1706–1778) as depicted in European literature. The emphasis is not primarily on German-language literature; the study foregrounds the image of Count Hoditz in other European literatures. The investigation spans the period from the 19th century to the beginning of the 21st century.
Die deutsche Literatur boomt wie lange nicht mehr. Das belegen nicht nur Zahlen wie die Menge verkaufter Bücher oder die Anzahl der Zuhörer bei einer Lesung von Stuckrad-Barre, sondern auch das vielerorts geäußerte Gefühl, daß es nun doch weitergehe, daß man die Nachkriegsliteratur einschließlich G. Grass und P. Handke, M. Walser und C. Wolf hinter sich gelassen habe. Es gibt also irgendwann seit 1989 eine deutsche Popliteratur oder auch, bescheidener, "Literaturpop" (Stuckrad- Barre), an deutsche, aber vor allem an amerikanische Traditionen anschließend und von relativ hoher Medienwirksamkeit. Allein die Vielfalt der Diskussionen über eine gewisse Sorte von Texten, die - vage genug und keineswegs unumstritten - unter dem Begriff 'Pop' verhandelt werden, indiziert einen Innovationsschub, den man nicht zu hastig als schamlose Anbiederung der Literatur bei der allgegenwärtigen Kulturindustrie verteufeln sollte. Damit ist nicht gesagt, daß diese Literatur gut oder wichtig sei, bloß weil sie (vielleicht) neu ist, wohl aber, daß die Kritik nicht unter das Niveau der Texte zurückfallen sollte; neu heißt ja noch nicht 'weiter'; das Neue ist zunächst einmal das Andere: "A cat is not a deficient dog." Man darf erwarten, daß der neuen Popliteratur vor allem dort (wissenschaftlich) angemessen begegnet wird, wo man jenseits des Fortschrittsparadigmas operiert und Pop weder als Ausverkauf denunziert noch als jüngste Avantgarde feiert. Noch vor allen Versuchen ihrer formalen oder inhaltlichen Bestimmung bezeugt sich diese Literatur als neu durch den Generationswechsel, den die fraglichen Autoren selbstbewußt und aufrührerisch vollziehen und kommentieren.
Suspense
(2016)
Überraschung und 'suspense' hebt Hitchcock anhand zeitlicher Kategorien voneinander ab. Dabei ist es ein Zukunfts- und ein Wissensmodell in einem, welches Überraschung und 'suspense' systematisch trennt, da Zukunftswissen ausschließlich den 'suspense' charakterisiert - und organisiert. Zeichnet sich 'suspense' als ein über einen Informations- und Wissensvorsprung (des Rezipienten) zeitlich wohl konstruiertes Interim (des Filmemachers) aus, das die Zukunft einer Explosion als vorhersehbaren Fluchtpunkt der Gegenwart festlegt, so hat die Überraschung nicht viel mehr als eine Art präsentische Ekstase zu bieten. Das Fehlen sowohl an Wissen als auch an Zukunft lässt sie in den Augen des Regisseurs zu einem dilettantischen und drittklassigen 'thrill' verkümmern. Zukunftswissen, verstanden als "Wissen in Zukunft", so wird man aus Hitchcocks Anekdote - zugleich aber auch über diese Anekdote hinaus - schließen dürfen, macht die Gegenwart unweigerlich zur Zwischenzeit. Als solche hat sie bei Hitchcock einen klar determinierbaren Anfang und ein ebenso klar determinierbares Ende.
Die hier versammelten Beiträge gehen wesentlich auf die internationale Tagung 'Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne' zurück, die im Rahmen des Writer-in-Residence-Programms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) mit der Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe vom 30. November bis 1. Dezember 2012 an der University of Oxford stattfand.
In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in 'Marathon, Eis und Schnee', 'Safari' und 'Johanna' räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.
Als Auftakt zu diesem Sammelband, nicht als wissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinn, biete ich hier eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrages, mit welchem ich bei der Konferenz Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne die Autorin im Namen der Subfaculty of German in Oxford willkommen geheißen und ihr zum Büchnerpreis gratuliert habe, der ihr im Oktober 2012 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen worden war. Ich möchte dabei insbesondere kurz auf Felicitas Hoppes ersten Roman 'Pigafetta' (1999) eingehen und ihn sowie sie als Reisende in den Kontext anderer deutscher und österreichischer Schriftstellerinnen beziehungsweise Schriftsteller stellen, die ebenfalls die Welt bereist haben. Sollte mir dabei ein Fehler unterlaufen, möge mir Frau Hoppe verzeihen und sich an Rainer Maria Rilkes (1875-1926) Worte erinnern: "Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen sammeln."
In transkulturellen Texten der Gegenwart finden sich Praktiken der Übersetzung, Diskurse über Translationsprozesse, aber auch künstlerische Auseinandersetzungen mit übersetzten Texten. In Olga Grjasnowas 'Der Russe ist einer, der Birken' liebt spricht die Protagonistin Mascha, die Übersetzungswissenschaften im Doppelstudium studiert, mehrere Sprachen und ist zugleich - durch ihre biographische Herkunft, ihre Freundschaften und Liebesbeziehungen und durch ihren Beruf - in mehrere kulturelle Kontexte eingebunden. Durch diese vielfachen Transgressionen ist Übersetzung daher im Text auch als Transkonzept präsent.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Norbert Bachleitner hat bereits die beiden ersten Buchübersetzungen aus dem Jahr 1843 von August Diezmann und Erwin von Moosthal in ihrem unterschiedlichen Adressatenbezug aufgrund der Unterschiedlichkeit der Übersetzungen charakterisiert. Hans T. Siepe wirft hier einen Blick auf diese den beiden Bucheditionen vorausgehende Übersetzung und tut dies ebenfalls mit einem Blick auf das 1. Kapitel.
Nicht nur diese Gefahr beschwört Adolf Zeising in einem Artikel für die "Blätter für literarische Unterhaltung" aus dem Jahre 1854, er sieht auch noch "die Entdeutschung der Schriftsteller" als notwendige Folge der Überschwemmung des literarischen Marktes mit "Übersetzungen […] für einen Spottpreis"voraus. Und natürlich gilt - nicht nur ihm - der Einfluss der Romane von Alexandre Dumas Père als besonders gefährlich. In der Tat ist der Autor mit seinen Feuilletonromanen in Deutschland omnipräsent, wo er seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts dank einer in rascher Folge anwachsenden Masse von schnell auf den Markt geworfenen Übersetzungen unaufhaltsam zum König der Leihbibliotheken aufsteigt. Neben einem kurzen Blick auf die quantitative Produktion, Diffusion und Rezeption von Dumas-Übersetzungen sollen die Schreibstrategien der Übersetzer und die Absatzstrategien der Verleger anhand von einigen ausgewählten Beispielen im Mittelpunkt des Beitrags stehen.
George Sand (1804-1876) zählt zu den herausragenden Figuren der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. [...] Auch in Deutschland gehörte Sand, legt man die Präsenz ihrer Romane im Bestand der zeitgenössischen Leihbibliotheken als Maßstab zugrunde, zu den meistgelesenen französischen Autoren. Da heute nicht mehr von einer vergleichbar breiten Kenntnis ihres Werks ausgegangen werden kann, erscheint es sinnvoll, einleitend einen Abriss des literarischen Schaffens der Schriftstellerin voranzustellen, dessen übersetzerische Vermittlung im Vormärz Gegenstand der folgenden Untersuchung ist. [...] Ein Blick auf die beteiligten Übersetzer zeigt ein heterogenes Bild. [...] Eine breite Vermittlung der Texte als Unterhaltungsliteratur wird durch ästhetisch und politisch gebundene Deutungsdiskurse einer intellektuellen Avantgarde ergänzt, die in vielen Fällen direkt an bestimmte Übersetzungen geknüpft sind, in Form von Einleitungen, Vorworten oder erläuternden Artikeln in verlagseigenen Zeitschriften, offenbar mit dem Ziel, die Rezeption in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die folgende Studie möchte diesen Steuerungsprozessen im Rahmen der übersetzerischen Rezeption nachgehen und untersuchen, inwiefern sie tatsächlich Ausdruck einer doppelten Vermittlung der Sand-Übersetzungen sind, zum einen ausgerichtet auf das Unterhaltungsbedürfnis eines entstehenden Massenlesepublikums, zum anderen eingepasst in den Ideenkampf bestimmter, tonangebender Milieus.
Georg Büchners Übertragungen hatten keine dokumentierten Wirkungen, was vor allem daran lag, dass Hugos Theaterstücke nach 1835 in Deutschland zunehmend auf Ablehnung stießen. Vorher waren sie in etlichen Einzelübersetzungen erschienen, nachher interessierte sich kaum noch jemand dafür. Büchners Übersetzungen kamen also zu spät. Immerhin sind sie seit der Ausgabe von Fritz Bergemann (1922) wiederholt in Büchner-Gesamtausgaben abgedruckt worden, nämlich in der von Werner R. Lehmann (Bd. 1, 1967), als Faksimile in der von Thomas Michael Mayer (Bd. 5, 1987), sodann in der von Henri Poschmann (Bd. 1, 1992) und zuletzt in Band 4 der historisch-kritischen "Marburger Ausgabe", der im Frühjahr 2007 erschien. [...] Der Kommentar der "Marburger Ausgabe" kontextualisiert Büchners Übersetzung konsequent, und zwar sowohl mit den konkurrierenden Übersetzungen seiner Zeit, als auch mit den seinerzeitigen Möglichkeiten des literarischen Ausdrucks. Beides kann Rückwirkungen auf die Textkonstitution haben.