CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Die philologisch-kulturwissenschaftliche Studie "Täuschend, ähnlich" untersucht Fälschung und Plagiat als komplementär aufeinander bezogene Praktiken. Sie liest sie explizit als Symptome kulturhistorischer Brennpunkte und epistemischer Krisenmomente. Dabei werden ganz konkrete Fallbeispiele aus den Feldern von Philologie, Psychoanalyse, Naturwissenschaften und Poetologie mit theoretischen Erörterungen zu Fälschung bzw. Plagiat aus diesen Disziplinen konstelliert. Mit Fälschung und das Plagiat werden Figuren vorgestellt, die in besonderer Weise als Entstellung auf die 'offizielle' Geschichte des Wissens und der Kultur zurückweisen: Es wird gezeigt, dass diese ebenso wie Irrtümer und Fehler feste Bestandteile unserer Kultur- und Wissensgeschichte sind und diese sogar häufig befördern. Vor allem aber soll der Sachverhalt produktiv gemacht werden, dass Fälschungen und Plagiate, gerade weil sie als Störungen gelten, rückwirkend Auskunft über die kulturellen Ordnungen – die Wissenschaften oder Künste – geben können, in denen sie sich ereignen. Berücksichtigt wird auch die Faszinationsgeschichte der Fälschung und des Plagiats. Findet diese doch ihren besonderen Ausdruck darin, dass Literatur und Kunstwerke nicht nur gefälscht bzw. plagiiert werden, sondern dies ihrerseits zum Thema machen und mit künstlerischen Mitteln durcharbeiten.
Seit seinem Erscheinen im Jahr 1919 stand das 'Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens' im Zentrum des öffentlichen Interesses. Die Aufzeichnungen, die von der zunächst anonym bleibenden Herausgeberin, der Wiener Kinder-Analytikerin Hermine Hug-Hellmuth, als "Kulturdenkmal unserer Zeit" präsentiert und von Sigmund Freud als kulturhistorisches Dokument ersten Ranges gewürdigt wurden, erwiesen sich nur wenige Jahre nach ihrer Publikation als Werk der Analytikerin selbst. Dass das Tagebuch als 'authentisches' Zeugnis so erfolgreich war - bereits in den ersten Jahren wurden 10.000 Exemplare verkauft - und sich als Fälschung so wirksam entfalten konnte, hatte mit seinem spezifischen kulturellen und wissenschaftlichen Umfeld zu tun. Denn Hug-Hellmuth war nicht nur fest in die psychoanalytische Bewegung eingebunden, auch hatte sie sich in dem im Entstehen begriffenen kinderpsychoanalytischen Diskurs der 1910er Jahre bereits einen Namen gemacht - und so die für eine Fälschung unabdingbaren Qualifikationen erworben. Vor allem aber lag die Durchschlagskraft des Tagebuchs in seiner wissenschaftsinternen Bedeutung: Versprach es doch, als gleichsam verschriftlichter 'Originalton', Freuds Theorie von der kindlichen und adoleszenten Sexualität sowie deren Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen zu belegen und somit eine der wichtigsten Hypothesen der Psychoanalyse auf empirische Grundlagen zu stellen. So sollte das intime Jugendtagebuch, das sich schon qua Genre als 'unverfälschte' und unverstellte Selbstaussage präsentierte, den lang ersehnten Einblick in die Blackbox der adoleszenten Seele ermöglichen, jenen psychischen Raum also, der sich der pädagogischen Kontrolle ebenso wie der auf Erwachsene eingestellten Psychoanalyse entzog.
Ich möchte im folgenden Georges Perecs "Un cabinet d'amateur" als einen Text vorstellen, der […] die Kategorien der Repräsentation grundlegend in Frage stellt. Die entscheidende Pointe dabei ist jedoch, daß Perecs Text die (inzwischen wohlfeile und gefällige) Rede von der "Krise der Repräsentation" nicht bloß wiederholt. Der Roman vermag es vielmehr – so meine These –, mit literarischen Mitteln und auf äußerst witzige Weise anschaulich zu machen, wie die kunstwissenschaftlichen und dem Kunstmarkt zuarbeitenden Diskurse, die ein Kunstwerk umschließen […], ungeachtet der Herausforderungen durch die modernen Kunstwerke selbst die
Repräsentationsbehauptung aufrechterhalten. […] Schließlich soll dargestellt werden, daß Perec das Motiv der Kunstfälschung als prominentes poetologisches Paradigma in Anschlag bringt.
Die Obsession für das menschliche Antlitz ist dem 20. Jahrhundert ins Gesicht geschrieben. So produzieren die modernen Bildmedien Fotografie, Film und Fernsehen in zuvor ungekanntem Ausmaß endlose Serien menschlicher Porträts, so erzeugen sie gänzlich neue Perspektiven auf das Gesicht und bringen allgegenwärtige faciale Schemata in Umlauf. Dabei wird das Gesicht zu einem maßgeblichen Vehikel gesellschaftlicher Normierung und zugleich zu einem Paradigma, an dem grundlegende Fragen der Subjektivität, der Kommunikation und der Ästhetik verhandelt werden. Dass nicht nur theoretische Diskurse die Funktionen des medialisierten Gesichts reflektieren, sondern auch die Medien selbst, lässt sich an Georges Franjus Les Yeux sans visage (1959) zeigen. Vermag der Film – ein Klassiker des Horrorgenres – es doch wie kaum ein anderer, die Potentiale des menschlichen Gesichts als Medium der Subjektivität und seine Bedeutung als Sujet des modernen Films auszuloten – und zwar gerade, indem er dessen Verlust in Szene setzt.
Double blind - psychogene und psychosomatische Sehstörungen nach Sigmund Freud und Georg Groddeck
(2019)
Die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts nahm in ihren Überlegungen Sehstörungen zum Anlass, um das Funktionieren des gesunden Auges, vor allem aber die Funktionsweisen der menschlichen Psyche zu thematisieren. Anne-Kathrin Reulecke zeigt, dass sowohl Sigmund Freud als auch Georg Groddeck davon ausgingen, dass das Sehen keine rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr eine psychologisch sowie sozial und kulturell präfigurierte Aktivität ist. Sie legt dar, dass Freud eine nichtorganisch bedingte Sehstörung, die sogenannte hysterische Blindheit, als Effekt eines innerpsychischen Triebkonflikts und als dessen gleichsam neurotischen Ausweg deutet. Groddeck hingegen bestimmt das gesunde Auge als Organ eines grundlegenden Nicht-alles-sehen-Könnens. Die Kurzsichtigkeit betrachtet er als sinnvolles Hilfsmittel des Körpers, das dann eingesetzt wird, wenn die normale Tätigkeit des Verdrängens beim Sehen, die Selektion gefährlicher Bilder, nicht ausreichend funktioniert.
Kinoleidenschaft, geteilt
(2010)
Im Kino geht es um Sehnsüchte und Leidenschaften - das ist ein Allgemeinplatz. Weitaus seltener bemerkt worden ist, dass es einem echten Vertrauensbeweis gleichkommt, gemeinsam ins Kino zu gehen. Der Kinogänger offenbart dabei die eigenen Passionen - allein schon durch den Vorschlag, diesen oder jenen Film anzuschauen. Und er lässt die anderen an recht persönlichen Erschütterungen teilhaben: dem Erschrecken, Seufzen, Kichern oder auch Schluchzen. Gemildert wird diese Offenherzigkeit jedoch dadurch, dass auch die Begleiter im Halbdunkel aus dem Seitenwinkel wahrnehmbar sind. Nicht selten gleichen sich auf diese Weise die Reaktionen miteinander ab. Ein ostentatives Aufstöhnen wird durch ein beherrschtes Nicht-Reagieren beantwortet, ein lautes Lachen durch erleichtertes Mitlachen. Die Kino-Gemeinschaft ist durch ein System kommunizierender Blickwechsel miteinander verbunden.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass bereits das frühe Manuskript der "Berliner Chronik" eine Bearbeitung der Gattungen 'Stadtbild' und 'Autobiographie' darstellt und - das ist sein Charakteristikum - diese Bearbeitung auch in Szene setzt. Des weiteren soll nachgezeichnet werden, dass die "Chronik" auf äußerst komplexe Weise autobiographische und topographische Schreibweisen miteinander verknüpft und dabei - so meine These - zu dem maßgeblichen Text wird, in dem Benjamin die Kategorie des Raumes für sein Denken entfaltet. Anders gesagt: Im Schreiben der "Berliner Chronik" richtet der Kulturhistoriker Benjamin sein Denken räumlich aus.
Statik
(2022)
Bei der Statik handelt es sich um einen vielschichtigen Begriff, der zumeist ausgeblendet wird und dem sich Kunst-, aber auch Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen bislang nur selten explizit widmeten. Im Folgenden wird es um die weitere Aufschlüsselung dieses Begriffs gehen, wobei die Kunst der Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht. Im abschließenden Teil wird der Blick dann auf weitere, für die Klärung des Begriffs relevante Bereiche gerichtet. Die Bemerkungen können nur ausschnitthaft darstellen, dass Moderne und Postmoderne stärker von der Statik geprägt sind, als man gemeinhin annimmt. Sie konterkariert die gängigen Erzählungen von Beschleunigung und hemmungsloser, ungezügelter Bewegung als einem Kennzeichen der Moderne. Dabei tritt sie nicht in Distanz zur Dynamik - vielmehr kann sie nur in Anbindung an diverse Prozesse gefasst werden.
Große Geschichten der Ästhetik sind selten geworden. Ihr Anliegen, dem ästhetischen Denken durch die Jahrhunderte zu folgen, der Genese und inneren Logik ihrer Begriffe zu vertrauen und deren Dynamik, Vielschichtigkeit und oft Ambivalenz(en) zu rekonstruieren, ist spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in philosophisch-ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Diskursen nicht mehr en vogue. Die Gründe sind so verschieden wie unterschiedlich transparent, das Resultat ist eine weitgehende Abstinenz gegenüber umgreifenden historischen Darstellungen und ein weitgehender Verzicht auf disziplingeschichtliche Gesamtentwürfe, jedenfalls im traditionellen Sinne. Wladyslaw Tatarkiewiczs große Geschichte der Ästhetik in drei Bänden (von der Antike bis zur Neuzeit) aus den Jahren 1962-1966 (dt. 1979-1987) gehört schon in die Kategorie solcher Raritäten, der selten gewordenen Unternehmungen, den historischen Horizont europäischer Geistesgeschichte im Feld ästhetischer Vorstellungen, Ideen und Begriffe auszuschreiben. Die Geschichte der sechs Begriffe wirkt noch viel mehr wie ein geistiger Dinosaurier in der gegenwärtigen Diskurslandschaft.
In ihr ist viel bewahrt und vollendet von dem, was genuine Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert mit ihren Wurzeln, die im 19. Jahrhundert liegen, hervorgebracht hat. Die Stringenz ihres Begriffsvertrauens und das Ungebrochen-Enzyklopädische des historischen Wissens gehören zu dem, was Wladyslaw Tatarkiewicz vielleicht als einer der letzten, oder der letzte bedeutende, europäische Denker von Rang in Sachen Philosophie und Kunst noch einmal eindrucksvoll mit aller Reichweite und allen Grenzen - demonstriert hat.
In Kontext eines modernen Interesses an als archaisch markierten Denkformen steht auch Benjamins im Jahr 1933 verfasster, zu Lebzeiten jedoch unpublizierter Aufsatz mit dem Titel Lehre vom Ähnlichen. Als Vorstufe existieren zwei wohl 1932 verfasste kurze Arbeiten "Zur Astrologie" und "Zur Erfahrung" sowie eine Umschrift aus dem Jahr 1934 mit dem Titel "Über das mimetische Vermögen". Diese Texte Benjamins werden vornehmlich aufgrund der darin enthaltenen sprachtheoretischen Überlegungen meist als Aktualisierungsversuch von Benjamins frühen Arbeiten zur Sprachphilosophie gesehen oder in Beziehung zum Problem der Erinnerung gesetzt, wie es sich von Benjamins Proust-Lektüren und der Berliner Kindheit um 1900 her ergibt. Benjamins Texte zum Problem der Ähnlichkeit lassen sich jedoch auch in einen thematisch und zeitlich näherliegenden Zusammenhang stellen: Der Arbeit an Benjamins groß angelegtem, unvollendetem Werk über die Pariser Passagen, die sich von 1927 bis zu Benjamins Tod 1940 erstreckt.
Barbara Honigmann knüpft in ihrem Roman 'Alles, alles Liebe!' (2000) an das Genre Briefroman ihres Debüts 'Roman von einem Kinde' (1986) an. Sie führt auch in vielem den Ton weiter, der bereits diesem ersten Text seine besondere, eigenwillige Färbung gab. Es ist ein unverwechselbarer, unnachahmlicher Ton. Daß diesem Ton, den die Honigmann-Kritik bisher häufig als "einfach ", mitunter beinahe "kindlich", von einer "Naivität der höheren Art" gerühmt hat, eine ausgeprägte Sprachreflexion zugrunde liegt, soll im zweiten Teil dieses Beitrags gezeigt werden. Erinnerte Kindheit und verzeichnete Landschaften. - Erinnerte Kindheit im SED-Staat funktioniert weder als vermeintliche Idylle - verzeichnete Selbstbildnisse und Landschaften, so der ursprüngliche Titel von Honigmanns Debüt - noch als Identifikationsmuster für Anna, die Protagonistin in Honigmanns Roman 'Alles, alles Liebe!'. Anna, eine junge jüdische Frau, sieht aus wie eine Zigeunerin und assoziiert damit das Bild der 'schönen Jüdin'. Dieses Bild der abendländischen Kulturgeschichte avanciert zur "Metapher für die doppelt Andere", in der die "Phantasmen über das andere Geschlecht mit denen über das 'Jüdische' eine exotische Verbindung eingehen." So schreibt Anna an Eva: "Liebe Eva! Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war 'Zigeuner'. Jemand rief es mir nach, kaum daß ich ein paar Schritte aus dem Bahnhof getan hatte, auf der Suche nach meinem Hotel. Aber soviel ich mich auch umgesehen habe, da war kein Mensch und kein Hotel, weit und breit."
[Rezension zu:] Manfred Schmeling u. Hans-Joachim Backe (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond
(2012)
Rezension zu Manfred Schmeling u. Hans-Joachim Backe (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2011. 316 S.
Die variantenreichen Beziehungen zwischen Religion und Literatur, auch über den europäischen Raum hinaus, zu analysieren, haben sich in der internationalen Wissenschaftslandschaft des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur Theologie und Literaturwissenschaft, sondern viele verschiedene Disziplinen zur Aufgabe gemacht. Wir haben es hier mit einem Untersuchungsfeld zu tun, das eine Vielzahl von Methoden und Ansätzen nicht nur erlaubt, sondern erfordert. Daher ist es durchaus sinnvoll, in einem Band verschiedene, heterogene Sichtweisen auf das Feld zu präsentieren. Eben das leistet die Aufsatzsammlung 'From Ritual to Romance and Beyond' von Manfred Schmeling und Hans-Joachim Backe, die 25 Beiträge zum Thema Religion und Literatur zusammenbindet.
Rezension zu Eckart Goebel u. Elisabeth Bronfen (Hg.), Narziss und Eros. Bild oder Text? Göttingen (Wallstein Verlag) 2009. (= Manhattan Manuscripts, hg. von Eckart Goebel, Paul Fleming u. John T. Hamilton, Bandnummer: 2), 302 S.
'Narziss und Eros', Band 2 der 'Manhattan Manuscripts', die Eckart Goebel mit Paul Fleming und John T. Hamilton herausgibt, setzt literaturhistorisch bei Ovids Fassung des Narziss-Mythos an und geht zeitgemäß - kontextgebunden - einen großen Schritt über Freud hinaus. Anstatt sich an den Ungereimtheiten, Spannungen und Widersprüchen der Ausführungen Freuds abzuarbeiten, legt der Band ohne viel Aufhebens die Kriterien narzisstischer Persönlichkeitsstörung nach dem Diagnoseklassifikationssystem DSM-N ('Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders', Fourth Edition) der American Psychiatrie Association zugrunde, holt Eros in den Titel und bringt damit (Un)Ordnung in Ovids und Freuds Ordnungen der Geschlechter.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
Der vorliegende Beitrag erkundet die Funktionen geselligen Erzählens und mündlicher Erzählsituationen in der Literatur der Frühen Neuzeit und der Gegenwart. Anlass zu einem solchen epochenübergreifenden Vergleich gibt die Beobachtung, dass die literarische Form des Rahmenzyklus, die als typisch für die Frühe Neuzeit begriffen wird (etwa für Boccaccio und Marguerite de Navarre), in der Gegenwartsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere in den letzten vierzig Jahren, ein auffallendes Comeback bei Autoren wie zum Beispiel Rafik Schami und Patrick Roth erlebt und sich großer Beliebtheit erfreut. Die vergleichende Gegenüberstellung verspricht, nähere Einblicke in die jeweiligen Funktionen geselligen Erzählens in der Frühen Neuzeit und der Gegenwartsliteratur zu vermitteln. Als Leitfragen kristallisieren sich dabei folgende Aspekte heraus: Welcher Zweck wird mit der Einbindung einzelner Geschichten in einen Gesprächsrahmen jeweils verfolgt und inwiefern hat sich die Funktion der Rahmenstruktur in der zeitgenössischen Literatur im Vergleich zur Frühen Neuzeit gewandelt?
Die Übersetzung der Kashinawa-Mythen in Theodor Koch-Grünbergs "Indianermärchen aus Südamerika"
(2019)
Neben seinen ethnologischen und linguistischen Studien zu indigenen Kulturen der Amazonasregion beschäftigte sich der deutsche Brasilienforscher Theodor Koch-Grünberg auch mit indigenen Mythen und hatte klare Vorstellungen davon, wie diese mündlich überlieferten Erzählungen dokumentiert und übersetzt werden sollten. Modellcharakter hatte für ihn die interlineare Übersetzung des brasilianischen Historikers João Capistrano de Abreu von Texten aus dem Kashinawa, einer Panosprache, die noch heute im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet von Mitgliedern der ethnischen Gruppe gesprochen wird. Capistranos Textsammlung "Rã-txa hu-ni ku-ĩ" wurde 1914 in Brasilien veröffentlicht. Bereits 1920 erfolgte die Publikation der "Indianermärchen aus Südamerika" durch Koch-Grünberg, wobei von den 117 ins Deutsche übertragenen Geschichten 13 aus Capistranos Werk stammten. In diesem Beitrag soll anhand ausgewählter Textbeispiele die Übersetzung Koch-Grünbergs aus dem Kashinawa ins Deutsche diskutiert werden. Grundlage war dabei die transkribierte Textsammlung in Originalsprache mit einer Wort-für-Wort-Übersetzung ins Portugiesische sowie einem angehängten Glossar und einem Grammatiksketch. In Koch-Grünbergs eigenen Aufzeichnungen wird zusätzlich deutlich, dass es sich um einen multiplen Übersetzungsprozess handelt: von einem mündlich präsentierten narrativen Diskurs mit performativen Elementen in Schriftsprache, von einer indigenen Sprache Südamerikas in eine typologisch weit entfernte europäische und von einer vollkommen unbekannten Kultur in eine für den brasilianischen wie den deutschen Leser nachvollziehbare.
Männlichkeit zeichnet sich durch Praktiken aus. Und einer dieser Praktiken besteht eben darin, Repräsentationsorte von und für Männlichkeit bereitzustellen. Insofern fiktionale Werke einen erheblichen Anteil am individuellen oder sozialen Selbst Verständnis haben, ist auch deren Kanonisierung als eine solche Macht-Praktik von Interesse. Kanones wie Männlichkeit werden zu Angelegenheiten ihres 'Machens' - und sind darin aufeinander verwiesen.
Ausgehend von David Wellberys Befund, dass wir es im Bereich der Literatur seit der Transformation des Formenverständnisses ab 1800 mit einem endogenen Formenbegriff zu tun haben, möchte ich den Effekten nachspüren, die die Integration des Kraft-Begriffs in den des Lebens im Bereich der Literatur hat. Denn insofern sich ab 1800 davon sprechen lässt, dass die Formen der Literatur - insbesondere die des Romans - eine Theorie von Formung allgemein und damit eine Theorie von Leben im Besonderen verhandelt, gehe ich davon aus, dass mit der Erweiterung des Lebensbegriffs um den der Kraft, der auch in der Literatur statthat, eine Erweiterung des endogenen zu einem emergenten Formenverständnisses in Betracht gezogen werden muss. Und zwar deshalb, weil Literatur im Gegensatz zur Physiologie Formungsprozesse darstellen und reflektieren kann. Kurzum: Weil die Literatur Kraft in ihr Leben aufnimmt und in das Leben zurückgibt, erweitert sich auch der Funktionsumfang ihrer Formen, sie werden emergent. Ausgemacht wurde diese Funktion indes nicht erst in der Literatur, auch wenn sie erst dort zur Anschauung kommen kann - und genau deshalb zur Lebenskraft des Lebens werden konnte.
In dem vorliegenden Beitrag möchte ich mich anhand der ersten Theorie des deutschsprachigen Bildungsromans, Karl Morgensterns "Ueber das Wesen des Bildungsromans" (1819/20), dem Gegenstand 'Geschlecht' als einem elementaren Bestandteil solcher Theorien annähern, der darin dreierlei vollbringt: er wird erstens zur Produktion des Primärobjekts (Roman) poetologisch angestrengt; zweitens wird er zugleich durch die Verfahrensweise der Texte mitproduziert; und schließlich zersetzt er drittens diese Theorien paradoxerweise von innen. Die Ausgangshypothese ist dabei die folgende: Entgegen ihrem Vermögen ('faculty') (als Theorien), den Formverläufen von Literatur nur noch folgen, sie aber nicht mehr (wie noch Poetiken) vorhersagen zu können, sind Romantheorien vielmehr daran interessiert, deskriptiv und damit präskriptiv zu verfahren, und hilfreich bei dieser Beschreibungsarbeit ist die Vergeschlechtlichung ihres Gegenstandes - wenn nicht immer dezidiert auf der Textoberfläche, so zumindest doch auf der Ebene ihrer Verfahrensweisen. Insofern der Roman und seine Form an sich selbst Formgenese verhandeln und diese Verhandlung ab 1800 zu einer wird, die auch die Formen des Lebens und deren Formung beschreibt, kommt den Theorien, die diese Formen von außen regelgeleitet einhegen wollen, eine Sonderrolle zu. Die Romantheorien tragen in die dem Roman korrespondierende Form des Lebens ein spezifisches Verständnis von Geschlecht ein, womit beide Formen - Geschlecht und Roman - in ein Wechselverhältnis zueinander treten. [...] Und im Falle des Bildungsromans lautet das als Arbeitshypothese: Der Bildungs-Begriff wird operativ dort, wo er zur Theorie wird, und zwar zu einer von ästhetischer Erziehung sowie von literarischer Form, Geschlechter-Form und Lebens-Form. Beginnen möchte ich mit einer historischen und ideengeschichtlichen Verortung Morgensterns; mit Blick auf seine Vorlesungen von 1810 gilt es dabei auch, sein Verständnis von Männlichkeit näher in den Blick zu rücken. Nach einführenden Bemerkungen zu der im Fokus stehenden Theorie des Bildungsromans ziele ich auf die Erläuterung seines Gestalt- und Formenverständnisses ab, um nach der Analyse der Geschlechter-Imagines der Theorie (insbesondere ihrer Verfahrensweisen) abschließend auf diejenigen Stellen des Textes näher einzugehen, in denen sich die Theorie selbst untergräbt.
Ausdruck und Verkörperung : Fritz Kortners Überlegungen zu Stimme und Geste in Film und Theater
(2013)
Bertolt Brecht hat in seinem 'Arbeitsjournal' aus dem kalifornischen Exil die Schwierigkeiten eines seiner Bekannten, des Schauspielers Fritz Kortner (1892−1971), in den Filmstudios von Hollywood beschrieben: "Kortner kann keine rolle bekommen. eisler erzählt, daß die leute in RKO [Radio Keith Orpheum, eine amerikanische Radio- und Filmgesellschaft] bei der Vorführung von Probeaufnahmen laut gelacht hätten: er habe mit den augen gerollt. nun ist eigentliches spiel hier verpönt, man gestattet es nur den negern. die stars spielen nicht rollen, sondern kommen in "situationen". Ihre filme bilden eine art von comics (abenteurerroman in fortsetzungen), welche einen typ in vielen bedrängnissen zeigen (selbst die wiedergabe der story in der presse sagt etwa: gable haßt garbo, hat aber als reporter … usw.). aber gerade seine arbeitslosigkeit veranlaßt k[Kortner], sogar im privatleben sehr viel mehr zu spielen, als er es je auf der bühne tat. ich sehe ihn mit einem gemisch von heiterkeit und entsetzen eine einfache erzählung unbedeutender vorgänge mit einem unmaß von gestik und "ausdruck" vortragen." Diese Eintragung Brechts aus dem Jahre 1942 ist über den anekdotischen Anlass hinaus aufschlussreich. Brecht notiert die unterschiedlichen Auffassungen bei europäischen Emigranten und den Gewaltigen der amerikanischen Filmindustrie hinsichtlich dessen, was es heißt, eine Rolle zu spielen. Fritz Kortner verfügt über die vokalen und mimisch-gestischen Ausdrucksmittel der expressionistischen Schauspieler-Generation vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er weiß, wie man etwas 'mit Ausdruck' vorträgt. Doch erscheint eben dieser von ihm so virtuos verkörperte Schauspielertypus im amerikanischen Filmgeschäft der 40er Jahre nur noch als exotisch. Allenfalls wird dergleichen bei 'Negern', also den Verlachfiguren des Hollywood-Films, toleriert. Von weißen Schauspielern wird etwas anderes erwartet: Nicht die Verwandlung ist das Ziel, sondern die Wiedererkennbarkeit der Stars in unterschiedlichen Kontexten. Und gefragt ist eine unterkühlte und - gemessen an europäischen Maßstäben - anti-theatralische Art des Schauspielens mit herabgesetztem Einsatz von Mimik, Gestik und vokalen Mitteln.
Salina Reinhardt setzt sich mit dem Thema der krisenhaften Männlichkeit am Beispiel des seit den 1990er Jahren zum Kultroman avancierten "Fight Club" von Chuck Palahniuk auseinander. Der Konflikt des weißen, heterosexuellen Mannes konkretisiert sich in dem Protagonisten und lässt durch dessen Persönlichkeitsspaltung gegenläufige Rollenerwartungen sowie fehlende Neuentwürfe aufeinanderprallen und in einer Überkompensation eines hypermaskulinen, sich von jeder Form weiblicher Zuschreibung loslösenden Männlichkeitsentwurfs gipfeln, der in seiner Mythenhaftigkeit nicht nur thematisiert, sondern vor allem als ein in den Wahnsinn führendes Problem inszeniert wird. Den Konflikt zwischen dem Protagonisten und seiner abgespaltenen Persönlichkeit schließt Reinhardt mit dem Erzählmodus des Romans kurz, der in seiner Aufspaltung den Geschlechter-Kampf der schizophrenen Figur mit sich selbst reproduziert und diesen beinahe in einer Eigendynamik zu überhöhen scheint.
In Georg Büchners Jubiläumsjahr seines 200. Geburtstages sind die 1824-1826 in juristischen Fachzeitschriften publizierten, inzwischen längst vergessenen Gutachten von Georg Büchners Vater Ernst erneut unter dem Titel "Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln" veröffentlicht worden. Die depressive Patientin des titelgebenden Berichts gab an, zunächst 30 und später dann 300 Stecknadeln in suizidaler Absicht verschluckt und unbeeinträchtigt wieder ausgeschieden zu haben. Ernst Büchner hielt das nicht für glaubhaft; zur experimentellen Überprüfung schaffte er einen großen Dachshund an, dem er Stecknadeln ins Futter mischte, um ihn dann zu töten, den Bauchraum zu eröffnen und die erhöhte Peristaltik des Darms zu beobachten [...]. Am 18. Dezember 1836 hatte der Vater die Übersendung eines Buchpaketes angekündigt, das auch Exemplare dieses Gutachtens enthielt; der inzwischen in theoretischer Medizin habilitierte Sohn sollte sie exemplarisch mit seinen Studenten in Zürich durchgehen. Georg Büchner, der seinem Woyzeck-Drama, mit dem er zu dieser Zeit intensiv beschäftigt war, medizinisch-psychiatrische Gutachten des Falles Woyzeck – u.a. von Johann Christian August Clarus - zugrundelegte, war durch die Sendung seines Vaters "[k]urz vor seinem Tod [...] noch einmal mit dem absurden Schrecken konfrontiert, der vom Nadelexperiment ausgeht. Woyzecks mörderische Erbsen-Diät ist mit diesem grotesken und in der sinnlosen Summierung der verschluckten und ausgeschiedenen Nadeln durchaus komischen Experiment wahrlich verwandt." Der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags wird jedoch nicht auf dem Vergleich des juristisch-moralischen Ansatzes des Vaters und des Sohnes bei der Beurteilung der zugrundliegenden Fallgeschichten liegen, sondern auf der grundsätzlichen Struktur einer Subjektivierung durch Disziplinierung, durch Strategien des Überwachens und Strafens, die Georg Büchner als grundsätzliche sozialpolitische, psychologische und moralische Erkenntnis diesen Fallgeschichten abgewinnt, um sie in eine dramatische Form zu überführen.
Die Rückseite einer Stickerei gilt gemeinhin nicht als vorzeigbar. Ungeachtet ihrer dreidimensionalen Textur ist die 'Nadelmalerei', wie man die Stickkunst schon in der Antike zu nennen pflegte, vielmehr ganz auf die Frontalseite ausgerichtet. In ihrer stark hierarchisierenden Fokussierung der zur Ansicht bestimmten kunstvollen 'Schau-' zuungunsten der meist ungestalten, dem Blick entzogenen 'Kehrseite' unterscheidet sie sich grundlegend von anderen Textilarten wie gefilzten oder gehäkelten Stoffen, deren Vorder- und Rückseite einander entweder gleichen oder aber symmetrisch sind. Anders als die konventionelle Leinwandmalerei wiederum ist die Stickerei konstitutiv mit ihrer Rückseite verbunden, insofern der stoffverzierende Faden "gleichzeitig zu seiner eigenen Befestigung auf der Unterlage dient."
Der Familien- oder Generationenroman durchlief seit seiner deutschsprachigen Prägung durch Thomas Mann zwei Schübe oder "[B]oom[s]": Auf die Welle der sogenannten 'Väterliteratur' oder 'Väterbücher' der 1970er und 80er-Jahre folgte ungefähr ab Ende der 90er-Jahre eine abermalige Konjunktur der Gattung im Umfeld neu aufgeflammter Debatten über 'Vergangenheitsbewältigung', die 'Enkelperspektive' auf den Nationalsozialismus und über 'Germans as victims'. Vergegenwärtigt man sich die ungebrochene Popularität dieser aktuellen Erscheinungsform des Generationenromans, so erstaunt der prominent auf dem Buchcover platzierte Untertitel von Christoph Geisers 2013 erschienenem Roman 'Schöne Bescherung': Dieser sei 'kein Familienroman', heißt es dort. Gesetzt wird diese peritextuelle Lektüreanweisung noch dazu ausgerechnet von einem Autor, der mit seinen frühen Texten Grünsee (1978) und Brachland (1980) die vielleicht wichtigsten Familienromane der jüngeren schweizer Literatur schuf.
Statt den Untertitel zu 'Schöne Bescherung' vor diesem Hintergrund zu problematisieren, buchte ihn das Feuilleton tendenziell als nicht weiter erläuterungsbedürftig ab und taxierte den Roman gar als Schlussstein einer veritablen "Familientrilogie". Schöne Bescherung will aber eben - anders als die formalästhetisch konventionelleren frühen Romane Geisers - explizit und dezidiert 'kein Familienroman' (mehr) sein. Der Text stellt sich also keineswegs in ein Verhältnis der Kontinuität zu Brachland, dem nächstälteren Roman der angeblichen "Familientrilogie". Vielmehr kommuniziert er noch vor seinem Incipit, eben durch den trotzigen Untertitel, einen kuriosen gattungsbezogenen Abgrenzungswillen. Dieser soll im Folgenden ernstgenommen werden.
"Königliche Hoheit", Thomas Mann's second novel, is as replete with descriptions of interiors, paintings, decorations and other spatial features as it is obsessed with the very concept of 'representation'. The complex interplay of 'space' and 'signification' that underlies this text has not received much scholarly attention. This paper attempts to elucidate how "Königliche Hoheit" interweaves descriptions of space(s) and thorny semiotic issues. In the process, it seeks to show that the novel, far from being a harmless 'fairytale' grounded in Mann's own biography, is suffused with exclusionary ideology.
'Generationenromane' versus 'Väterbücher'. - Stephan Wackwitz' Roman 'Ein unsichtbares Land' (2003) hat eine gleichsam panoramische Struktur: Der Text bietet die wohl eingehendste und materialreichste "Auseinandersetzung mit familiären und kulturellen Archiven" aller jüngeren 'Generationenromane' und rekonstruiert, ausgehend von den schriftlichen Erinnerungen Andreas Wackwitz', des Großvaters des Erzählers, die Geschichte des 20. Jahrhunderts als Familiengeschichte - von der 'Urkatastrophe' des ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Dabei entspricht 'Ein unsichtbares Land' in scheinbar idealtypischer Weise den literaturwissenschaftlichen Postulaten über die aktuellen 'Generationenromane'.
Der Text beruht tatsächlich auf der "nachträglichen Rekonstruktion einer Familiengeschichte", wobei diese "rekonstruierte Vergangenheit [...] weit hinter die Geburt der Erzählfiguren" zurückreicht und "daher nur schwer vereinbar mit einem kontinuierlichen Erzählen" ist; in ihm wird "Geschichte neu besichtigt und rekonstruiert", und zwar "mit dem Anspruch, unbekannte Aspekte der historischen Wahrheit freizulegen" - er ist, kurzum, ein Zeugnis hingebungsvoller "Arbeit am kulturellen Gedächtnis als Konstruktionsarbeit" und somit kohärent mit der gängigen Deutung des 'Generationenromans' der Gegenwartsliteratur als metahistorisches, selbstreflexives und eben gleichsam 'rekonstruktives' literarisches Verfahren, das gedächtnistheoretisch grundierte Interpretationsansätze erfordert. Als scheinbar prototypischer 'Generationenroman' ist nun 'Ein unsichtbares Land' in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse. Zum einen reflektiert Wackwitz als "Repräsentant der 68er-Generation" genau die intergenerationellen Verwerfungen, die auch in der sogenannten 'Väterliteratur' der Siebziger- und Achtzigerjahre prominent figurieren. Mithin lässt sich an diesem im Paratext als 'Familienroman' bezeichneten Werk besonders deutlich und prägnant zeigen, wie mangelhaft und revisionsbedürftig auch die jüngeren literaturwissenschaftlichen Differenzierungsversuche zwischen der 'Väterliteratur' und den aktuellen 'Generationenromanen' zuweilen sind.
"Wie der Geist zum Kamele ward" : Zu einem Leitmotiv in Jonas Lüschers 'Frühling der Barbaren'
(2016)
This paper deals with the semantics of 'barbarism' in Jonas Lüscher's novella "Frühling der Barbaren" (2013). It aims to show that the text incorporates the concept of 'barbarism' into what Lüscher himself calls a "narratology of social complexity": a narrative mode that enables literary texts to serve as platforms for the reflection of moral problems. Lüscher achieves this by referring to specific intertexts by Friedrich Nietzsche and Ingeborg Bachmann while subtly modifying and distorting them. In doing so, "Frühling der Barbaren" acquires a diagnostic and genuinely critical quality: with this sleight of hand, which could be considered a prime example of 'barbarian theorizing' (Walter Mignolo, Maria Boletsi), the novella evokes existing narratives only to recode them into a sardonic critique of global capitalism.
"Das Elementare in der Musik" : Zeitkritik und 'primitive' Musik in Thomas Manns Doktor Faustus
(2015)
Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) ist ein Altersroman, ein Exilroman, ein Deutschlandroman, aber vor allem natürlich ein "Musik[]roman". Das ist im Hinblick auf die Frage nach einem gerade auch intermedial konstituierten Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert signifikant. Denn der in jener Zeit beginnende und im Nationalsozialismus kulminierende Umschlag von Kunst und "Kultur" in Krieg und "Barbarei" koinzidiert im zeitdiagnostischen Panorama von Manns Roman mit einem ästhetischen Interesse am "Elementaren", am "Primitiven und Uranfänglichen". Dieses aufkeimende Interesse und seine politischen Weiterungen werden in Betrachtungen über zeitgenössische Kunst reflektiert und insbesondere am Schaffen des Tonsetzers Adrian Leverkühn exemplifiziert. Anders ausgedrückt: Der zeitgenössische Diskurs über das 'Primitive' spiegelt sich in Struktur und Handlung des Romans. Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen wird, wie diese Vorstellung des 'Primitiven' im 'Doktor Faustus' funktionalisiert ist und aus welchen Quellen sie sich speisen könnte, ist ein "ausgeweitete[r] Primitivismus-Begriff" in Anschlag zu bringen, der sich in der Literaturwissenschaft erst zu etablieren beginnt.
"Und jetzt ich" : Gegen-Ästhetik und algorithmische Autorschaft in Jan Brandts "Tod in Turin" (2015)
(2021)
Als "Buchpreisverarbeitungsbuch" (TiT, 290) mit einer Erzählinstanz, die sich explizit als der empirische Autor zu erkennen gibt und geradezu leitmotivisch ihren beruflichen Status offenlegt - "'[i]ch bin Schriftsteller'" (TiT, 18 u.ö.) -, ist "Tod in Turin" Metaliteratur, Literatur über Literatur und vor allem über deren Produktions-, Rezeptions- und Verwertungsbedingungen. Metatextuell im Sinne Gérard Genettes, das heißt: Prätexte nicht nur referierend, sondern 'kommentierend', ist "Tod in Turin" aber schon qua Titel und Thema. "Die reiche, Jahrhunderte umspannende deutsche Italienliteratur" füllt längst eine schon wieder überholte Bibliographie von monographischer Dimension. In diese Tradition schreibt sich Jan Brandt ein und betreibt mit ihr ein "postmoderne[s] Spiel" (TiT, 291), dessen Telos, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, über die Subversion oder Persiflage bestehender literarischer Italienbilder hinausreicht. Es besteht vielmehr in einer neuartigen, nämlich 'algorithmischen' Fruchtbarmachung des überwältigenden Prätext-Kanons.
Data Mining
(2016)
In öffentlichen Debatten ist bereits viel spekuliert worden, auf welche Weise soziale Netzwerke die Zukunft ihrer Mitglieder vorhersehen und planen können. Diese Frage kann jedoch ohne Rekurs auf die Dominanz der angewandten Mathematik und der Medieninformatik nicht ausreichend beantwortet werden. Denn beide Praxis- und Wissensfelder haben mit ihren stochastischen Analysetechniken von Nutzeraktivitäten die digitale Vorhersagekultur der Sozialen Medien im Web 2.0 erst ermöglicht, die es früher in diesem Ausmaß und Machtanspruch noch nicht gegeben hat.
Die Analyse erzählender Literatur gehört nicht zu den Standards der empirischen Sozialforschung. Eine positivistische Auffassung von "Realität" spricht solchen Texten nämlich soziologischen Erkenntnisgewinn ab. Hier wird aber argumentiert, dass Schriftsteller in der Regel die bestmöglichen Experten für die Vertextlichung von schwer fassbaren Emotionen sind. Ihre Kunstfertigkeit entspricht auch dem Erkenntnisziel der soziologischen Habitusforschung. Darüber hinaus erzeugt erzählende Literatur in der Regel "Stimmungen" oder "Atmosphären". Diese lösen bei den Protagonisten der Geschichten Emotionen aus und besitzen dadurch Handlungsrelevanz. Ein Stimmungskonzept ist in der Soziologie jedoch weitgehend unbekannt. Habitusansätze beschreiben bloß Dispositionen und Haltungen. Sie eignen sich deshalb nicht zur mikrosoziologischen Analyse von Interaktionssituationen, wie etwa von abweichendem Verhalten. Ein bestimmter Habitus macht zwar plausibel, dass etwa mangelnde Selbstkontrolle zu Devianz führt, erklärt jedoch nicht, in welchen Situationen diese auftritt. Hier könnte das Stimmungskonzept als Ergänzung zum Habitusansatz Verwendung finden. Das empirische Untersuchungsmaterial dieser Arbeit stellen die "Lausbubengeschichten" von Ludwig Thoma dar. Diese thematisieren nämlich hauptsächlich abweichendes Verhalten in Form von Autoritätskonflikten und Jugenddevianz auf satirische Art. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu untersuchen, wie der Schriftsteller durch Habituskomponenten und Stimmungsbilder eine plausible Darstellung von abweichendem Verhalten erzeugt, die auch erkenntnistheoretische Relevanz für die Soziologie besitzt.
Wie verhalten sich historische Textsemantik und bildsprachliche Semantik zueinander? Welche strukturellen Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede bestehen zwischen politischen Grundbegriffen und ihren Visualisierungen? Wie verändern sie sich in der 'Sattelzeit', an der Schwelle zur Moderne? Diesen Fragen versucht der folgende Essay nicht theoretisch, sondern empirisch anhand eines französischen Fallbeispiels nachzuspüren: der Ikonographie von République in der Zeit von 1789 bis 1889. Die exemplarischen Bildbelege entstammen der zeitgenössischen Gebrauchsgrafik, einem Printmedium relativ großer sozialer Reichweite, gesammelt im Fundus des Lexikons der Revolutions-Ikonographie. Begriffshistorische Vergleichsmöglichkeiten bietet u. a. das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich.
Hufeland beginnt seinen Text über die Zeichen des Todes beim Menschen nicht mit dem Hinweis auf die Erfolge der sich konstituierenden Reanimationsmedizin, sondern mit einem Bericht über Felice Fontanas Experimente an ausgetrockneten Haarwürmern und Rädertierchen. Man könnte diesen Einstieg leicht als etwas kuriose Analogie überlesen und sich auf die vitalistischen Lebenskrafttheoreme konzentrieren, die diese Analogie rahmen, aber es lässt sich argumentieren, dass die Rede über die Unsicherheit der Zeichen des Todes und die Möglichkeit der Wiederbelebung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu vernehmen ist, mit der Erforschung des Lebens mikroskopisch kleiner Organismen wie dem Rädertierchen nicht nur akzidentiell zu tun hat.
Vielfältig sind die Definitionen, die das Überlebensparadigma im Sinne eines die Weltsicht prägenden Denkmusters zu erfassen versuchen, und verschieden sind die Aspekte, die der Betrachter in seiner Auffassung jeweils als die dominierenden pointiert. Nichtsdestoweniger wurzelt das moderne Verständnis vom 'Überleben' zuletzt im evolutionistischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem evolutionistischen Diskurs sind nicht bloß Darwins Werke zu verstehen, sondern vielmehr die Konstellation von Autoren, Diskursen, Berichtigungen, Anregungen, Ergänzungen, die sich um Darwins Evolutionstheorie drehen und die den Namen Darwinismus tragen. Anders ausgedrückt: Unsere Auffassung des Überlebensbegriffs ist in diesem Diskurs verfangen und kann von ihm nicht restlos loskommen. Dies gewinnt an höchster Evidenz in den Reflexionen über das Überleben von kulturellen Artefakten, die in Analogie zu den Exemplaren bestehender Spezies als Resultat einer 'natürlichen' Auslese gedeutet werden. Unter den unzähligen Beispielen einer Übertragung des Auslesegesetzes von der biologischen auf die kulturelle Evolution mag hier die Reflexion von Hans Blumenberg vorgeführt werden, denn sie bietet viel mehr als eines der rein evolutionistischen Modelle, die eine Erläuterung des kulturellen Überlebens präsentieren. Kein weiterer Autor hat meines Erachtens in der Nachkriegszeit solch einen anspruchsvollen Versuch unternommen, das Darwinsche Evolutionsgesetz jenseits der Fehlschlüsse des Sozialdarwinismus wiederherzustellen und es für die kulturelle beziehungsweise ästhetische Anthropologie fruchtbar zu machen. Des Weiteren erzielte Blumenberg mit seiner theoretischen Berichtigung zuletzt die Beschreibung eines humaneren Modells der kulturellen Produktion, dessen ethische Dimension im Folgenden auszuloten ist. Das Heranziehen einiger Betrachtungen über Primo Levis narrative Erfahrung dient anschließend dazu, die ethische Grundproblematik herauszudestillieren, die das Verbleiben in diesem - obschon korrigierten - Überlebensparadigma in Hinblick auf das historische Gedächtnis impliziert.
Früh- und Spätwerk eines Autors sind manchmal gegensätzlich. Hätte Fontane nur Geschwisterliebe und Mathilde Möhring hinterlassen, käme niemand auf die Idee, beides stamme aus derselben Feder. Auch die Beliebtheit verteilt sich oft unterschiedlich auf Werkteile, die zu unterschiedlicher Zeit entstanden sind. Der Fall Clemens Brentano ist allerdings speziell. Seine vor 1817 geschriebenen Werke haben ein anderes Publikum als die, die er nach 1817 schrieb. Zwei Leserschaften hat der Autor, beide ansehnlich, die des religiösen Spätwerks noch um ein Vielfaches größer als die des Romantik-OEuvres. Und zwischen den beiden Gruppen: keine Berührung. Die einen kennen nichts von dem, was die anderen verehren, und umgekehrt.
Wie kommt das? Was ist 1817 mit Clemens Brentano passiert? Welche Veränderungen zeigen um diese Zeit die Lebensumstände, das Schreiben, die Welt- und Selbstreflexion des Autors?
Das vorweg: Brentano sorgte für die literaturhistorisch beispiellose Werkscheidung selbst, indem er seinen Nachlass zweiteilte. Die religiösen Manuskripte bekam der fromme Bruder Christian, die übrigen die freigeistige Schwester Bettine. Entsprechend sollten die Werkteile sehr unterschiedliche Editionsverfahren durchlaufen. Schon am Wendepunkt sandte Brentano zudem das Signal, er werde in Zukunft anders schreiben als bisher. Nach dem Eindruck des Publikums, von Wolfgang Bunzel zusammengefasst, "gibt er 1817 seinen bisherigen Lebensinhalt, das Dichten, auf [...]. Fortan entstehen scheinbar nurmehr religiöse Erbauungsschriften."
Das Ziel dieser Arbeit ist über historische und soziale Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland zu diskutieren, die bei den frühesten iberischen Expeditionen im 16. Jahrhundert, bei der Entdeckung Brasiliens, stattfanden, und sich mit dem offiziellen Beginn der deutschen Auswanderung nach Brasilien, im Jahr 1824, mit der Gründung der Kolonie von São Leopoldo im Bundesstaat Rio Grande do Sul, verstärkte. Im Hinblick darauf, dass die Deutschen ihre Traditionen, Sprache und Kultur, deren Unterschiede die brasilianische Heterogenität intensivierte, nicht vollständig verloren haben, bezieht sich der zweite Teil dieses Textes auf ein konkretes Beispiel einer brasilianischen Stadt namens Marechal Câdido Rondon. Die Stadt liegt in Südbrasilien und wurde von deutschstämmigen Auswanderern gegründet. Trotz diesen germanischen Wurzeln, welche sich durchaus in der Architektur und den Volksfesten bemerkbar machen, zeigt die Gemeinde keine Auffälligkeiten hinsichtlich der deutschen Sprache aufgrund der Förderung der Zweisprachigkeit.
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges blühte das deutschsprachige Berufsschauspiel auf - und mit ihm auch das Marionettentheater. Beide agierten in denselben Räumen und fußten auf demselben Repertoire, das hauptsächlich aus dem Englischen und Niederländischen, seltener aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen übertragen wurde. Da es in Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden keine professionellen Dramatiker gab, bearbeiteten die Prinzipale die Texte meist selbst oder übertrugen die Aufgabe einem angehenden oder abgeschlossenen Akademiker gegen Lohn. Der Einfluss des evangelischen Schultheaters und des katholischen Jesuitentheaters ist dagegen zu vernachlässigen, da deren Texte nicht für eine professionelle Aufführung konzipiert waren bzw. einen übermäßigen szenischen Aufwand verlangten. Auf der Suche nach neuen Texten wurden dagegen die Opernsammlungen von Cicognini und anderen Librettisten, deren Werke überwiegend im höfischen Kontext entstanden waren, aufmerksam studiert. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Puppen- und dem Schauspielertheater bestand in der Betriebsorganisation. Man konnte eine Marionettenbühne bereits mit einem Bruchteil des Personals einer Schauspieltruppe betreiben. Dies senkte die Betriebskosten und erweiterte die Auftrittsmöglichkeiten. So spielten die Marionettenspieler nicht nur an Höfen und auf Rathäusern, auf Jahrmärkten und Messen in Bretterbuden und Gasthäusern. Sie waren auch in den Vorstädten und selbst in kleinen Dörfern zu finden. Für die Genehmigung waren ausschließlich die Kommunen zuständig. [...]
Der Medienwissenschaftler und Philosoph Markus Rautzenberg untersucht in seinem Beitrag die Denkfigur des Indexikalischen. Er vergleicht dazu Benjamins Überlegungen zur Bildlichkeit mit Hans Blumenbergs Reflexionen über die Vergleichbarkeit von fotografischer Belichtung und Begriffsbildung, Charles Sanders Peirce Semiotik und Ernst Jüngers Essays "Über den Schmerz". Benjamins theoretische Aussagen zur Fotografie oszillieren nach Rautzenberg zwischen dem Ideal einer mechanischen Objektivität und einer neuplatonischen Blendungsmetaphysik. Anhand von Benjamins Texten historisiert Rautzenberg den Gegensatz von 'Magie' versus 'Technik', um zu zeigen, dass diese Unterscheidung erst mit dem Aufkommen der Fotografie denkbar wird.
Auf den Bildern Chris McCaws hinterlässt das Licht nicht nur Spuren, sondern Wunden. Das Foto erleidet die Einwirkung des Lichts – Bedingung der Möglichkeit fotografischer Medialität – sichtbar als Zerstörung der eigenen Substanz; eine Verwundung, die dann als solche ausgestellt wird. Der amerikanische Fotograf nutzt großformatige Analog-Kameras, um mit diesen den Verlauf der Sonne über einen langen Zeitraum zu dokumentieren. Durch die dafür notwendige, sehr lange Belichtungszeit brennt das Sonnenlicht Spuren in das Negativ und zeichnet damit den Verlauf des Gestirns am Firmament als physische Spur der Zerstörung nach. Die Faszination dieser seltsam unheimlichen und intensiven Bilder liegt darin, dass sie als "Ikonen des Realen" sehr deutlich machen, dass das Problem der Indexikalität, trotz aller Bemühungen dieses Gespenst abendländischer Präsenzmetaphysik aus der Fotografietheorie zu vertreiben, nicht aufhört, konstitutives Moment fotografischer Medien zu sein und die Theorie zu beunruhigen. Nach wie vor "legt" Fotografie ihrem Namen entsprechend "Zeugnis ab" für das Licht, das einmal auf fotosensitive Oberflächen gefallen ist und aus diesem Grund ist das Interesse an Begriff und Phänomen des Zeugen nicht nur durch den Zeugenschaftsdiskurs des Holocaust motiviert, sondern auch und gerade als medientheoretisches Problemfeld bedeutsam. Aber was für ein Begriff von Zeugenschaft ist hier im Spiel, bzw. wie wirken medientheoretische Erwägungen auf den Begriff des Zeugen ein und umgekehrt?
Der Essay thematisiert eine in der Frühen Neuzeit noch weit verbreitete Praxis des Schreibens: das Abschreiben von Texten. Bei näherer Betrachtung dieser Schreibpraxis im Kontext von Geschichtsschreibung zeigen sich unterschiedliche Motivationen und Funktionen des Abschreibens von Texten. Nach der ersten Fixierung einer Geschichte treten eine Reihe weiterer Schreibertypen in Erscheinung, die die Geschichte durch unterschiedlich starke Eingriffe in den Text, durch Kommentare oder auch durch Fortsetzungen transformieren. Die Praxis des Abschreibens selbst wie auch dessen unterschiedliche Funktionen in einer Epoche auch noch nach Erfindung des Buchdrucks stellen nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen legitimer Nachahmung und illegitimem Plagiat in Frage, sondern relativieren auch die heute verbreitete Bewertung von Texten mit Begriffen wie Originalität und Kreativität.
Transkulturalität, Transnationalität, Transgender, Transspecies – Innerhalb des letzten Jahrzehnts erleben die politischen und wissenschaftlichen Debatten um Theorien, die sich dem Präfix 'trans-' (lat. 'jenseits, über, über – hin') verpflichtet sehen, eine bemerkenswerte Konjunktur. Grundlegend verbindet sich mit diesen Konzepten die Vorstellung eines übergreifenden und umfassenden Diskurses, der für durchlässige Konturen plädiert. Analytisch ermöglichen die Theorien des 'trans' die konzeptuelle Erfassung von Phänomenen, die sich in einem Prozess des Werdens befinden und aus entgegengesetzten Strukturen, Logiken, Dynamiken und Funktionsweisen bestehen. 'Trans' verweist folglich nicht auf geschlossene Identitätsvorstellungen, sondern enthält fluide Grenzverläufe. Die damit verbundenen subversiven Vorstellungen finden sowohl verstärkt Gehör in gesamtgesellschaftlichen Kontexten als auch innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen, die sich abseits einer Fortschreibung kanonischer Inhalte neu konzipieren.
Darstellungen von Abwesenheit : Trauerarbeit mit Vanitassymbolen bei Anna Seghers und David Bailly
(2008)
In Anna Seghers Erzählung 'Der Ausflug der toten Mädchen' (1963) wird mit den Mitteln der Phantastik eine Begegnung über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg inszeniert: Ein Schulausflug, der vor dem ersten Weltkrieg stattfand, wird in die Gegenwart der im mexikanischen Exil lebenden Erzählerin geholt. Das Besondere bei dieser Darstellung des Vergangenen ist die nachträgliche Perspektive: der Ausflug wird nicht neutral geschildert, sondern im Wissen um die Zukunft, die sich in diesem Falle als die Gewissheit über Vernichtung und Tod ausnimmt. Das Wissen der Erzählerin kontaminiert somit die Schilderung von der heiteren Versammlung der Jugendlichen, wobei bei jeder Gelegenheit die Allgegenwart des Todes hervorgehoben wird. Die Art der Darstellung gestaltet sich nach dem Prinzip 'heute Leben - morgen Tod' und lässt sich, wie ich zeigen möchte, als moderne Umsetzung des Eitelkeitstopos lesen, der auf der Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit basiert. Daher wird im Folgenden dieser Text vor dem Hintergrund der Vanitas-Tradition betrachtet und dem 'Stilleben mit Vanitassymbolen' von David Bailly aus dem 17. Jahrhundert gegenübergestellt werden. Die plastische Darstellung des Abwesenden in Verbindung mit der Thematik der Vergänglichkeit, beides Elemente, die besonders ausgeprägt in der Gattung Stillleben anzutreffen sind, stellen zentrale Merkmale sowohl des Textes von Seghers als auch des Gemäldes von Bailly dar.
Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist die These, dass neben der positiven Auffassung von der Natur als göttliche Schöpfung die Vorstellung einer bösen und feindlichen Natur das abendländische Denken durchzieht. Im Folgenden sollen Momente dieser Negativierung von Welt in einigen zentralen theologischen bzw. philosophischen Diskursen des Abendlandes kurz skizziert werden. Diese Gedanken bilden den kulturgeschichtlichen Hintergrund vor dem im zweiten Teil einzelne literarische Texte unter dem Aspekt der Ablehnung bzw. Dämonisierung der Natur untersucht werden.
E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" ist dank Freuds Interpretation zu einem seiner wichtigsten Werke geworden. Die Novelle, die die Leser mit dem jungen Studenten Nathanael, der mit sich ein Kindheitstrauma trägt, bekannt macht, ist ein komplexes Werk, das auch den weltbekannten Mediziner fasziniert hat. Diese Arbeit befasst sich mit der schon erwähnten Novelle, mit Freuds Artikel "Das Unheimliche" und mit der sehr relevanten Verfilmung aus dem Jahr 2012. Das Motiv des Unheimlichen kommt in dieser Arbeit als eine Kontaktstelle vor, die auf drei verschiedenen Ebenen interpretiert wird: aus der Perspektive des Unheimlichen in der Novelle, aus Sigmund Freuds Perspektive und wie es im Film auftaucht. Ziel dieser Arbeit ist es zu beweisen, dass das Motiv des Unheimlichen in der Verfilmung anders als im Buch begriffen werden kann, d.h. dass Freuds Motiv des Unheimlichen im Text als gruseliger und verwirrender empfunden werden kann.
Georg Adam, 1874–1948
(2021)
Dieses Porträt über Georg Adam gibt einen Vortrag wieder, den Norbert Randow (1929–2013) am 18. November 1960 anlässlich der 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Gedruckt erschien der Beitrag 1962 in der "Wissenschaftlichen Zeitschrift" der Humboldt-Universität unter dem Titel "Der Slawenfreund Georg Adam und sein Verhältnis zur bulgarischen Literatur". Die am Schluss des Vortrags angekündigte größere Studie zu Leben und Werk Georg Adams kam nicht zustande, da Randow 1962 wegen "Beihilfe zur Republikflucht" zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und anschließend seine slawistisch-bulgaristischen Forschungsvorhaben nicht wieder aufnehmen konnte. Stattdessen wurde er - seinem großen Vorbild Georg Adam folgend - herausragender Übersetzer aus slawischen Sprachen, insbesondere aus dem Bulgarischen und Weißrussischen. Der von Norbert Randow in den 50er Jahren übernommene Nachlass Georg Adams ist in großen Teilen Bestandteil des an die Humboldt-Universität gelangten Randow-Nachlasses, ein kleinerer Teil Korrespondenz ist an das Bulgarische Literaturarchiv in Sofia gegangen.
Es gehört zum topischen Inventar des Schreibens über Auschwitz, daß allem, was von der Vernichtung zu sagen ist, bereits ein Index der Unsagbarkeit anhaftet. So notiert Peter Weiss unter dem Eindruck des Frankfurter Prozesses 1964: "Zur Endlösung: es ist ja nur unsere Generation, die etwas davon weiß, die Generation nach uns kennt es schon nicht mehr. Wir müssen etwas darüber aussagen. Doch wir können es noch nicht. Wenn wir es versuchen, mißglückt es."
Das Projekt, die "Endlösung" zu versprachlichen, zeichnet sich gegen einen Horizont seines Mißglückens ab. Jegliche Aussage ist zunächst und zuerst ein Versuch. In zwei der Eintragung nachfolgenden Arbeiten ist diese Problematik auf sehr unterschiedliche Weise reflektiert. Das Prosastück 'Meine Ortschaft' exponiert den Gestus des Versuchens, forscht nach den Differenzen und Widersprüchen im Schreiben des Vergangenen. Die Ortschaft Auschwitz, die einen festen Bezugspunkt in der Bio-/Topographie des Exilautors markiert, präsentiert sich beim Rundgang als zerfallende, gleichsam entschwindende Stätte. Imaginative Annäherungen an ihre historische Realität werden im Text umgehend reflektiert und relativiert: "Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer andern Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt. Nur wenn er selbst von einem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, was dies ist. Nur wenn es neben ihm geschieht, daß man sie zusammentreibt, niederschlägt, in Fuhren lädt, weiß er, wie dies ist."
Bekanntermaßen hat der Begriff des Hybriden in den Kulturwissenschaften in den letzten drei Jahrzehnten eine beeindruckende Konjunktur erlebt. In Reaktion auf die virulenten Anforderungen der voranschreitenden Pluralisierung von Lebenswelten erschien die Öffnung und Verflüssigung vormals statischer Konzepte als geeignetes Mittel, unangemessenen, simplifizierenden Kategorisierungen entgegenzuwirken. Zwanzig Jahre nach dem Aufkommen des Bhabha'schen Hybriditätsverständnisses läuft der Begriff jedoch Gefahr, selbst zu einer mondial einsetzbaren Universalkategorie zu werden und birgt somit Risiken, die insbesondere in den postcolonial studies weiterhin zu diskutieren sein werden. Obwohl somit im folgenden Beitrag das kritische Bewusstsein ob generalisierender kulturtheoretischer Konzeptualisierungen mitschwingt, wird anhand des Verantwortlichkeitsdiskurses im Anthropozän eine Modellierung des Hybriden analysiert und als (unmittelbar kontextbedingtes) probates 'Behelfs- mittel' ausgewiesen. Das Gegenwirken der bipolaren Narrative und deren Einwirkungen auf ontologische Ebenen des menschlichen Subjektes im Anthropozän erfordert tragfähige Analyseinstrumente; die Denkfigur der Chimäre wird hierbei als ein Versuch fungieren, variable Vernetzungen von Subjekt(en) und 'Natur(en)', nivellierter als dies Hybriditätskonzepte leisten, zu analysieren. Der folgende Ansatz soll es erlauben, Plausibilitäten von Dichotomien infrage zu stellen und das menschliche Subjekt als 'Mischwesen' aus kantischer Vernunft und somatischer Determinante zu diskutieren.
Für die Juli-Ausgabe von "39Null - Magazin für Gesellschaft und Kultur" (7/2019) hat Katharina Rahn mit Moritz Neuffer und Morten Paul über die Neue Rechte, Medien und Fragen der Öffentlichkeit gesprochen. Zusammen mit weiteren Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen haben die beiden 2017 den Arbeitskreis "Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung" gegründet. Im daraus hervorgegangenen Eurozine-Dossier "Worlds of Cultural Journals" wurde 2018 ihr Aufsatz "Rechte Hefte. Zeitschriften der alten und neuen Rechten nach 1945" veröffentlicht.
Den 'Darwin-Effekt' auf die Sprachwissenschaften, also den Evolutionismus der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, thematisiert der Beitrag von Wolfert v. Rahden. Die Rezeption der Evolutionsbiologie war vielschichtig und widersprüchlich. Von nicht wenigen als Fortschritt begrüßt, der eine naturwissenschaftliche Legitimation auch der Sprachwissenschaft begründe und als produktiver interdisziplinärer Transfer bewertet, blieb der Rekurs auf Darwin häufig jedoch eine bloß modische Wissenschaftsattitüde, der zugleich - nicht nur von theologischer Seite - dezidierte Ablehnung provozierte. Auch innerhalb der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften regte sich bei einer Anzahl von Autoren entschiedener Widerstand dagegen, Darwin die Rolle eines "wissenschaftlichen Platzanweisers" für die eigene Disziplin einzuräumen. Max Müller etwa unterläuft den Evolutionsdiskurs auf ironische Weise. Wie von Rahden darstellt, finden sich in der 'multiplen Semantik' des Sprachursprungsbegriffs jener Zeit Allianzen zwischen Vertretern darwinistischer Evolutionsbiologie, der aufstrebenden Indogermanistik sowie Verfechtern der 'Einheit der Sprachnation', die in der Rekonstruktion der germanischen 'Ursprache' (Jacob Grimm) das Streben nach der politischen Einheit einer 'Nation deutscher Zunge' auch sprachwissenschaftlich flankierend unterstützen wollten. Die semantische Verschiebung vom Sprachursprungsbegriff zum Begriff der Ursprache als Forschungsgegenstand sollte die erhoffte neue wissenschaftliche Basis zur Beantwortung der alten Frage eröffnen; doch die Suche nach der 'Chimäre' der Ursprache (W. v. Humboldt) verharrte letzten Endes ebenso im Nebel der Spekulation wie zuvor die Suche nach dem Ursprung der Sprache. Gleichwohl generierte sie entscheidende Innovationsschübe für die historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften, weil sie die empirischen und philologischen Dokumentationen und Untersuchungen einer Vielzahl konkreter Einzelsprachen beförderte und vorantrieb.
Bei der exklusiven Alternative ist nur eines von beiden machbar. Diese Semantik, die nur eine von beiden Möglichkeiten zulässt, wird transparent in der lateinischen Ursprungsbedeutung 'alter' - der eine von beiden. Im Fremdwort 'alternieren' ist diese Bedeutung 'zwischen zwei abwechselnd' noch erkennbar, die im Prinzip allerdings zwei gleichwertige Lösungen impliziert. Die Wortprägung 'Alternative' - als Kompositum aus 'alter' ("der andere") und 'nativus' ("geboren, auf natürlichem Weg entstanden") - existiert im klassischen Latein noch nicht, sondern stellt eine relativ späte adjektivische Variante im Mittellateinischen dar und erscheint seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Texten als Adverb 'alternative', mit beginnendem 18. Jahrhundert wurde dann das auslautende '‑e' aufgegeben und adjektivischer Gebrauch möglich. Umgangssprachlich wird der Ausdruck zwar häufiger unpräzise in einem vageren Sinne verwendet und meint dann nicht nur genau zwei, sondern ganz unbestimmt mehrere Möglichkeiten ("es gibt doch viele Alternativen"), aber in der politischen Rhetorik der Gegenwartssprache dominiert auch im Sprachgebrauch jene logisch, linguistisch und etymologisch fundierte Bedeutung des Terminus. Wenn also der Begriff im politischen Kontext auftaucht, zeigt er - sprachwissenschaftlich gesagt - diese binäre Opposition, und wenn er hier personalisiert, eignet ihm auch diese antagonistische Zuspitzung und kompromisslose Polarisierung.
Auf dreifache Weise schreibt Schopenhauer Graciáns Lebensregeln weiter: indem er das "Oráculo manual" ins Deutsche übersetzt, indem er seinen "Spanischen Favoritautor" zitiert und indem er im Zuge seiner Gracián-Lektüre eigene Lebensregeln formuliert. Diese drei unterschiedlichen Rezeptionsweisen untersucht der folgende Beitrag. Nach einer kurzen systematischen Betrachtung von Schopenhauers Gracián-Zitaten und einigen Überlegungen zu dessen Verständnis des Oráculo manual im Kontext der 1832 abgeschlossenen Übersetzung wird der Status der Aphorismen als Lebensregeln bei Gracián und Schopenhauer diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei die grundsätzliche Frage nach der Rezeption der Lebensregeln selbst – wie sind sie zu lesen und zu leben?
In "Die Lesbarkeit der Welt" bescheinigt Hans Blumenberg Gracián eine "lebenslang getriebene Theorie der Lebenskunst". Das "Oráculo manual" bezeichnet er daher als "Lebenskunstwerk". Durch die "Gleichsetzung von Lebenskunst und Heiligkeit" im letzten Aphorismus – "En una palabra, santo" – sei die gesamte Aphorismensammlung "als Handreichung für das Arrangement mit der Vorläufigkeit aller Dinge" zu lesen. "Arrangement" steht hier nicht für eine künstlerische Anordnung des Lebens, sondern meint eine Lebenskunst, die darin besteht, sich mit der diesseitigen Welt zu arrangieren. Der letzte Aphorismus empfiehlt dazu nur noch die Tugend. Er wirkt wie eine salvatorische Klausel; nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das "Oráculo manual" immer wieder als "Anweisung zum Machiavellismus der Lebenskunst" gelesen wurde und wird.
Einen einzelnen Satz aus der Bibel übersetzen: Dies ist die Aufgabe, an der die Protagonistin von Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan, die Simultandolmetscherin Nadja, scheitert. Der Satz, der auf Italienisch zitiert wird und ins Deutsche übersetzt werden soll, hat es offenbar in sich. Er lautet: "Il miracolo, come sempre, è il risultato della fede e d’una fede audace" – das Wunder ist, wie immer, das Ergebnis des Glaubens und eines kühnen Glaubens. Mit genau diesen Worten übersetzt Nadja den Satz; sie erkennt aber zugleich, dass sie ihn nicht wirklich übersetzen kann. Diese Paradoxie einer Übersetzung des Unübersetzbaren geht mit einer zweiten, intertextuellen Paradoxie einher. Nadja findet nämlich den Satz in einem Buch, das als "Il Vangelo" (das Evangelium) und "bloß die Bibel" bezeichnet wird. Doch der Satz lässt sich dort nicht nachweisen. Die Bachmann-Forschung, einschließlich der Kritischen Ausgabe zum Todesarten-Projekt, bezieht dazu keine Stellung und schenkt so dem Verweis auf die Bibel stillschweigend Glauben. Nur wenige Simultan-Interpretationen fällen das Urteil: Dies ist kein Bibelvers.
Die Brisanz der Frage nach den Denkweisen der Spielgrenzen eröffnet sich, sobald man sich klar macht, dass mit der Entgrenzungsbewegung digitaler Spiele, wie Raczkowski einleitend bemerkt, sich auch das Ludische als Kulturphänomen transformiert. Die Richtung dieser Transformation wiederum zeigt sich, wenn wir uns vor Augen halten, dass die sogenannte Spielifizierung unserer Gesellschaft als Gamifizierung bezeichnet wird, Game aber im Zeitalter der Digitalisierung der Spiele der Name für eine Spielumgebung geworden ist, die sich durch Scoring und Flow, mithin durch die Quantifizierung und Rationalisierung der Spiele und ihrer Vergnügen auszeichnen. Wir sind damit an eben jenem Punkt angelangt, an dem sich das Nachdenken über die Transformation des Spiels mit der Feststellung von Alexander Galloway und Eugen Thacker überkreuzen, nach der die mit der Elementarität des Netzwerks einhergehende Veränderung der Umwelt uns dazu auffordere, eine Klimatologie des Denkens auszuarbeiten. Raczkowski kommt nach einem Durchgang durch die unterschiedlichen Positionen, die in der Kontroverse um den Zauberkreis eingenommen wurden, zu dem Schluss, dass der Magic Circle als Erklärungsmodell in den gegenwärtigen Entwicklungen selbst an seine Grenzen komme, als Grenzfigur jedoch für die Computerspielforschung entscheidend bleibe.
Walter Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" dient als Ausgangspunkt für mein Stück. Benjamin verbindet die Schöpfungsgeschichte der Genesis und die Geschichte des Turms von Babel, wobei er die einheitliche, reine Sprache, die vor Babel gesprochen wurde, auf den idealen Zustand im Garten Eden bezieht. Zefanjas Prophetie für das Ende aller Tage führt kreisförmig auf diesen Anfang zurück: "Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des HERRN Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen." (Zef 3,9).
Die Funken der Erlösung : Journal zur Übersetzung des Romans "Die Jakobsbücher" von Olga Tokarczuk
(2020)
"Für unsere Übersetzung waren all diese Überlegungen insofern bedeutsam, als wir zu entscheiden hatten, welche kulturhistorischen Verortungen wir schaffen, welche Konnotationen wir aufrufen wollten - durch die Verwendung eben dieses oder jenes Wortes -, und mit welchen Mitteln es möglich wäre, auch das Prozesshafte der Geschichte abzubilden, den Weg, den Jakob und Frank und seine Compagnie zurücklegen, im Sinne der physischen wie der kulturellen Topographie."
Man liest Übersetzungen im Allgemeinen als transparente Stellvertreter eines fremdsprachlichen Ausgangstextes, ohne sich des Prozesses des Übersetzens, bzw. der Übersetztheit des Textes bewusst zu sein. Was aber geschieht beim Übersetzen? Übersetzen ist immer Interpretation, so die brasilianische Translationswissenschaftlerin Rosemary Arrojo. Anhand zweier Erzählungen, "Liebe" und "Die Dame und das Ungeheuer oder die allzu große Wunde", der Autorin Clarice Lispector, ins Deutsche übersetzt von Curt Meyer-Clason und Sarita Brandt, wird nach Übersetzungsstrategien und den sich daraus ergebenden Interpretationen, nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Übersetzer und der Übersetzung gefragt, die aus den Zieltexten erkennbar sind, stellt man sie den Ausgangstexten gegenüber.
In der Erinnerungskultur der Goethezeit spielt das haptische Erleben von Souvenirs eine entscheidende Rolle – im taktilen Umgang mit Andenken werden über Form, Materialität und Funktion Abwesende vergegenwärtigt, Erinnerungen und Gefühle evoziert. Nachvollziehbar wird die Kultivierung und Reflexion dieser Praktik der Erinnerungskultur in dem sehr gut überlieferten Nachlass von Johann Wolfgang von Goethe, der von der Klassik Stiftung Weimar bewahrt wird. Obwohl Goethe dem Tastsinn jegliche Erkenntnisfähigkeit abspricht und ihn als den niedersten der Sinne diskreditiert, werden das Berühren und Berührtwerden von Körpern und Dingen in seinen literarischen Werken sowie insbesondere in seinen privaten Korrespondenzen variantenreich verhandelt. Eingebettet in empfindsame Liebessemantik, assoziiert mit religiösen Praktiken und medizinischen Diskursen oder verknüpft mit erotischen Momenten ist die Berührung ein wiederkehrender Gegenstand expliziter und impliziter Auseinandersetzungen.
At the end of the 18th century, German literature boasted a wide range of exemplary translations, especially from ancient literatures. When, a few decades later, translation theory began to flourish in Germany, translations like J.H. Voß’s “foreignizing” versions of Homer’s epic poems were considered as examples to be followed. Although today’s dominant translation theories – as, for instance, skopos theory – tend to advocate “domesticating” procedures, most translators of literary texts cling to the tradition established by (pre-) romantic German translators and philosophers like Voß or Schleiermacher, thus obviously meeting the expectations of the German reader.
In diesem Aufsatz geht es um einen Teil jener Ansätze von Karl Kraus, die bei der Entfaltung der Wiener historischen Avantgarde eine besondere, jedoch kaum geachtete Rolle gespielt haben. Denn er war es, der, nach den 1896 begonnenen Attacken auf den etablierten Pol des literarischen Feldes (der Kleinproduktion), sich ab 1912 auch gegen die Avantgarde richtete: nicht nur gegen den Expressionismus, wie oft behauptet wird, sondern auch gegen den Aktivismus, Dadaismus und Konstruktivismus. Er übernahm also zuerst die anderswo den Avantgardisten zukommende Rolle - nämlich die Zurückdrängung der klassischen Moderne - und anschließend versuchte er, auch jene überflüssig erscheinen zu lassen. All dies vollzog er nicht ausschließlich, doch überwiegend in seiner eigenen Zeitschrift "Die Fackel"; in einem Einzelunternehmen, das dazu da war, die Kraus’sche Sichtweise einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sprich: eine selbstständige Position zu etablieren. Das war ihm auch gelungen und er wurde dabei selten und nur geringfügig von dem einen oder anderen Netzwerk unterstützt oder getragen. [...] Im Anschluss an die Analyse des in dieser Arbeit vorerst aus undetaillierten Bestimmungen bestehenden Kontextes wurde eine Analyse der Fackel in ihren Verknüpfungen zu den Ismen unternommen. Die digitale Ausgabe der Fackel wurde durch zahlreiche Begriffe, die dem Vokabular der Avantgarde angehören, gefiltert. Der Bericht diskutiert einen Teil der Ergebnisse, die mit den Suchbegriffen "Expressionismus", "Futurismus", "Dadaismus", "Konstruktivismus", "Raumbühne" sowie "Neutöner", "Hans Arp" und "Friedrich Kiesler" erzielt wurden.
Cette contribution se consacre à la réception de Spitteler au sud des Alpes. Elle décrit notamment l'intérêt de Severino Filippon - germaniste et traducteur luganais - pour son oeuvre, ainsi que la perception du poète épique de Liestal dans les principaux journaux de la Suisse italienne. Il s'avère que Spitteler jouissait d'une certaine notoriété au Tessin, même s'il était loin d'être perçu de la même manière qu'un Francesco Chiesa. Cela n'était pas uniquement dû à une ignorance au sud des Alpes: dans ce contexte culturel, le massif du Saint-Gothard constituait en effet une fracture bien plus importante pour la Suisse que le "fossé" habituellement décrit.
Hans Henny Jahnns „Fluss ohne Ufer“ ist vor allem als Text martialischer sexueller Gewaltakte in die Literaturgeschichte eingegangen. Eine Perspektive, die ich aufbrechen oder verschieben möchte, indem ich sie in eine poetologische Fragestellung überführe. Die obsessive Beschäftigung mit dem Tod im Text soll also nicht, wie dies in der bisherigen Forschung häufig der Fall ist, als Deckdiskurs eines nekrophilen homosexuellen Autors verstanden werden. Meine These ist, dass sie auf eine poetologische Konzeption des Textes selbst verweist, der an der Selbstzerstörung des Protagonisten aufzeigt, dass es kein Ohneeinander von Schreiben, Schrift und Tod gibt. Oder: dass die Obsession, die Nekrophilie, schon im Schreiben liegt und nicht etwa bloß beschrieben wird. Eine wesentliche Funktion kommt in diesem Zusammenhang der Setzung von Eigennamen unter Schriftstücke, der Signatur, sowie feierlichen Akten der Umbenennung zu. Wer wann welchen Namen tragen kann und unter welchen Bedingungen dieser Name etwas bezeugt – dies ist das zentrale Thema vor allem des zweiten Teils der Romantrilogie „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn, nachdem er 49 Jahre alt geworden war.“
Wie fragil der scheinbare Differenzmarker der Emotionalität zwischen Mensch und Maschine ist, führt insbesondere das Genre des Science-Fiction-Films vor, das als ein Experimentierraum fungiert, in dem die biopolitischen Diskurse durch ästhetische bzw. poetische Konter-Diskurse aufgebrochen und hinterfragt werden. Diese Konterdiskursivität führt der Science-Fiction-Film "Ex Machina" (2015) eindrücklich vor, indem dieser anhand der als weiblich gegenderten und künstlich konstruierten AI und Protagonistin Ava (Alicia Vikander), auf der Ebene der Handlung die Frage verhandelt, ob die Grenze zwischen Mensch und Android teilweise aufgehoben werden kann, und damit verbunden die Frage, ob der vermeintliche Differenzmarker der Emotionalität nicht von Androiden produktiv gewendet werden könne, insofern er programmatisch in die entsprechenden Algorithmen eingebaut wird. Diese leitenden Überlegungen führen zur These des vorliegenden Beitrages: Die Protagonistin Ava bedient sich gegenüber den männlichen Figuren des Films der Strategie der Täuschung, indem Ava ihre künstlich angeeignete Emotionalität nutzt, um aus der Forschungsstation zu fliehen. Emotionalität kann entsprechend nicht (mehr) als eine Essenz des Menschen bzw. des Menschseins gelesen werden, sondern muss als ein elementares Konstrukt verstanden werden, das von der Maschine gegenüber den Menschen genutzt wird oder zumindest genutzt werden kann, um diese zu überlisten. Die vermeintliche moralische Überlegenheit des Menschen entpuppt sich folglich als ein grundlegender, menschlicher Denkfehler. Überlegen ist der Mensch gegenüber der Maschine nicht durch seine Emotionalität, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Weil der Mensch emotional ist, gelingt es der Maschine, ihn zu täuschen und sich somit als dem Menschen überlegen zu etablieren. Dergestalt führt "Ex Machina" explizit eine doppelte Grenzüberschreitung vor, indem der Film zum einen darauf aufbaut, dass Androiden scheinbar emotional handeln, da Avas Verhalten einen hoch rationalen Akt darstellt, der die künstlich erschaffene Frau gegenüber den Männern, Nathan (Oscar Isaac) und Caleb (Domhnall Gleeson), die sie beständig konstruieren, optimieren und testen, letztlich als überlegen präsentiert. Zum anderen führt "Ex Machina" anhand der Maschine Ava auf der Ebene des Gendering eindrücklich vor Augen, dass auch die männliche Überlegenheit und die damit einhergehende Geschlechterhierarchie ein reines Konstrukt ist. Der Homosozialität der beiden männlichen Figuren des Films steht die weiblich gegenderte Maschinenfrau Ava konträr gegenüber, auch wenn sie zunächst in diese integriert zu sein scheint, so dass die Frage nach der Repräsentation von Geschlecht und die nach den Verhandlungen zwischen den Geschlechtern nachdrücklich gestellt wird. Die damit aufgerufene Engführung von Männlichkeit und Überlegenheit sowie Weiblichkeit und Emotionalität wird im Verlauf des Films dezidiert aufgebrochen, sodass die Frage nach der Transgression gleich auf zweifache Weise gestellt wird, wenn man den Blick auf Ava richtet: 1. Inwiefern wird das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, in Bezug auf 'bios', an der weiblichen Androide Ava verhandelt? 2. Inwiefern erlaubt es Ava, Geschlechterverhältnisse neu zu denken, respektive das Verhältnis der Geschlechter, wie es im Film vorgeführt wird, einer neuen Betrachtung zu unterziehen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich in einem ersten Schritt die Differenz zwischen Mensch und Maschine, wie sie in "Ex Machina" inszeniert wird, in den Fokus der Betrachtungen stellen, um danach zu fragen, inwiefern das Verhältnis zwischen den 'menschlichen Männern' und der 'künstlichen Androide' das Konzept des 'bios' verhandelt. In einem anschließenden zweiten Schritt werde ich mich auf das Verhältnis zwischen den männlichen Figuren Caleb und Nathan sowie deren Beziehung zu Ava konzentrieren, um herauszuarbeiten, welche Geschlechterpolitik(en) in "Ex Machina" inszeniert wird, respektive werden.
Auch wenn die Immortalisten von Gavdos in ihrer Konzeptualisierung des Todesproblems insofern eine skeptische Haltung gegenüber der biologischen bzw. medizinisch-technischen Modellierung der Unsterblichkeitsproblematik beziehen, als sie den Tod nicht über den Funktionsverlust einzelner Bestandteile des Körpers, sondern über seine physiologische Bedeutung hinaus als gesellschaftliches und das heißt auch zwischenmenschliches Phänomen wieder in den Fokus rücken, sind auch sie nicht frei vom Pathos der Idee eines Neuen Menschen. Dass in ihren Texten die Frage nach der Unsterblichkeit die Konturen einer gemeinschaftlichen Praxis bekommt, sollte nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die 'Rückbesinnung' der Immortalisten von Gavdos auf die antiken Wurzeln des Unsterblichkeitsglaubens in erster Linie eine geradezu mythopoietische Konstruktionsleistung darstellt, an deren Ende die schöpferische Erfindung und nicht das Auffinden einer antiken Unsterblichkeitstradition steht: Die Besinnung auf das 'Ursprüngliche' wird hier zum Modus der Gegenwartsbewältigung verklärt, die Vergangenheit des europäischen Homo immortalis zur Zukunft der Menschheit erklärt.
Betrachtet man die Wissenstradition der westlichen Welt und ihre Kultur, so scheint es, als ob diese in zwei gegensätzliche Pole aufgespaltet wäre, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben. Auf der einen Seite steht eine literarisch-geisteswissenschaftliche Intelligenz, der eine naturwissenschaftliche Intelligenz gegenübersteht. Diese vermeintliche kulturelle Dichotomie ist der Hintergrund, vor dem sich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft bewegt.
1902 erschien Theodor Herzls utopischer Roman Altneuland im Verlag Hermann Seemann in Leipzig, schon im selben Jahr die hebräische und ein Jahr später die russische Übersetzung. Der Journalist, Autor und Begründer des politischen Zionismus hatte – inspiriert durch seine Palästinareise im Jahr 1898, auf der er u. a. mit dem deutschen Kaiser zusammentraf – seit 1899 an dem Text gearbeitet. Herzl schildert in dem Roman eine neue zionistische Gesellschaft in Palästina und führt hier das eher skizzenhafte Bild seiner 1896 erschienenen Broschüre Der Judenstaat weiter aus. Hier soll besonders auf diejenigen Aspekte des Romans eingegangen werden, die das jüdische Gemeinwesen in Palästina als ein 'kleines Europa' im Nahen Osten schildern. Zudem sollen die topographischen Begebenheiten im Roman und deren Bezüge zur israelischen Geographie, Gesellschaft und Kultur untersucht werden.
Poesie und Trauma der Grenze : literarische Grenzfiktionen bei Ingeborg Bachmann und Terézia Mora
(2006)
Meine Überlegungen in diesem Essay gelten zwei sehr unterschiedlichen Grenzfiktionen in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Terézia Mora, die in der Kontrastformel meines Titels als Poesie und Trauma der Grenze umschrieben sind. Damit bezeichne ich die Tendenz dieser topographisch angelegten Geschichten, eine prekäre Marginalität im Hinblick auf eine imaginäre Herkunft zu transzendieren oder als allegorisches Verfallsszenario zu chiffrieren.
Es handelt sich um Ingeborg Bachmanns Erzählung 'Drei Wege zum See', die letzte und längste von fünf Geschichten des 1972 erschienenen 'Simultan'- Bandes und auch die letzte Publikation zu Bachmanns Lebzeiten, sowie um Terézia Moras ersten Erzählband 'Seltsame Materie', dessen zehn Geschichten allesamt im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs angesiedelt sind. Für eine dieser Erzählungen mit dem Titel 'Der Fall Ophelia' wurde die 1971 in Ungarn geborene und seit dem Ende des Kalten Krieges in Berlin lebende Schriftstellerin auch mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis des Jahres 1999 ausgezeichnet. Der zeitkritische Gestus von Bachmanns Erzählung ist geprägt von einer modernen Entfremdungserfahrung und der Sehnsucht nach einem imaginären Ursprung; der anti-heimatliche Blick Terézia Moras auf das Terrain der eigenen Herkunft resultiert aus der alptraumhaften Erfahrung der Welt als Gefängnis, wie sie sie in einer Europa-Kolumne zum EU-Beitritt mittelosteuropäischer Länder im Mai 2004 skizziert hat: "Ich durfte zur ersten Generation gehören, die ihr Erwachsenenalter in einer neuen Welt begann. Vom Atomkrieg habe ich seither nicht mehr geträumt. Von Grenzschikanen bis heute. [...]"
Erstens: Der Begriff der Zensur löst Assoziationen an vergangene Welten oder an autoritäre Systeme aus. Aber Zensur ist Gegenwart, auch in der klassischen Form durch Staaten und Religionen; und sie gewinnt ganz neue Facetten und Dynamiken durch die Systeme der digitalen Welt. Zweitens: Zensur wird grundsätzlich als negativ wahrgenommen, als Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit. Aber mindestens die Hälfte des Problems besteht auch in der westlichen freiheitlichen Welt darin, wie man - im Dienste der Freiheit - Zensur aufbaut, intensiviert und durchsetzt. Drittens: Die zahlreichen Bereiche gesellschaftlicher Tabuisierung, die in einer (oft massiven) Zensurierung des Sagbaren münden, sind nicht zu unterschätzen. Es gibt Prozesse einer partiellen Sensibilisierung, die sich in sozialer Sprachkontrolle ausdrücken. Neben den sprachlichen gibt es aber auch inhaltliche 'Verbote'. Viertens: Aus einem dogmatischen Relativismus erwächst oft ein normativer Postfaktizismus. Eine dieser Varianten ist der "gefühlige Postfaktizismus", demzufolge Fakten, die den Gefühlen vieler Menschen widersprechen, nicht mehr vorgebracht werden dürfen. Linksintellektuelle und Rechtsautoritäre sind sich in der Verwendung dieser Muster sehr ähnlich.
Wenn man die Broch'schen Betrachtungen durchblättert, wie auch jene einiger Zeitgenossen, scheinen sie nicht nur ideengeschichtliche Resonanz, also rein akademisch-historisches Interesse, auszulösen, vielmehr erinnern viele Äußerungen an die Gegenwart oder regen zu Vergleichen mit der späteren Moderne (oder eben: mit der Postmoderne, Spätmoderne oder zweiten Moderne) an. Man stolpert über Beobachtungen, die sich in gegenwärtigen zeitdiagnostischen Studien wiederfinden, zum Teil bis in die Wortwahl hinein. Natürlich könnte man beide Arten von Literatur, damals wie heute, damit abtun, dass sich kulturpessimistisches Vokabular immer in gleicher Weise darstelle und demgemäß die verwendeten Denkfiguren immer ziemlich ähnlich seien. Man könnte aber auch dem Gedanken nachgehen, ob es sich nicht bei den beschriebenen Phänomenen um solche handelt, die seinerzeit, schon an der Wende zum 20. Jahrhundert, ihren ersten "Anlauf" zu verzeichnen hatten, während sie, nach mancherlei Bremsversuchen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erst in der Gegenwart zur vollen Entfaltung gelangt sind. Es könnte ja sein, dass schon in jener Zeit, als die Moderne erst so recht zu sich selbst gekommen ist, kräftige Tendenzen hin zu jener Welt spürbar und wahrnehmbar geworden sind, die als Postmoderne zu bezeichnen man sich mittlerweile angewöhnt hat. Die historische Zeitdiagnose könnte sich mit der aktuellen Zeitdiagnose überlagern. Es könnte - schon damals - von "uns" die Rede gewesen sein. Wie "postmodern" war Broch?
Selbste in der Spätmoderne
(2013)
"Was sich nach 25 Jahren Individualisierungsthese sicher sagen lässt, ist, dass sie kaum noch auf Widerspruch stößt." So lapidar leitet Markus Schroer seinen Aufsatz in einem Sammelband über Individualisierungen ein, und er hat Recht. Wenn wir das "Problem der Person" - mit ihren Identitäts- und Individualisierungsaspekten - in den Kontext von Rolle, Typ, Figur, Inszenierung und Theatralisierung stellen wollen, haben wir es zumindest mit den folgenden drei Aspekten zu tun. Erstens 'Identität'. [...] Zweitens 'Inkonsistenz'. [...] Drittens 'Inszenierung'.
Unweigerlich stellen sich lebensweltliche Assoziationen ein, wenn der Begriff der Mode verwendet wird – man denkt an Kleidung, Autos, Haarfarbe, Accessoires, alle möglichen Lifestyle-Attribute. Wenn man Mode über diesen naheliegenden Kontext hinausdenkt und das vertrackte Konzept auf andere Lebensbereiche anwenden will, stellen sich drei Fragen. Erstens: Wie kann man modische Trends von anderen Entwicklungen abgrenzen? Was ist bleibender oder nachhaltiger Wandel und was ist eine temporäre Modeerscheinung, die eine zeitliche Begrenzung aufweist: ein "Strohfeuer"? [...] Zweitens die Frage der Übertragbarkeit: Wo gibt es modische Erscheinungen jenseits der Textilien? Gibt es so etwas in Wissenschaft, Kunst, Politik, Management, Medien und anderen Bereichen? [...] Drittens die sich aufdrängende Frage der Intensivierung: Gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass sich modische Prozesse in einer spätmodernen Gesellschaft verstärken oder verbreiten?
Die Theaterstücke des kamerunischen Autors Kum'a Ndumbe III. sind erst seit einigen Jahren einem breiten deutschsprachigen Publikum zugänglich. Während er in Deutschland als Politologe durch seine Publikationen unter anderem zu deutscher Kolonialpolitik bekannt ist, fanden seine in deutscher Sprache zwischen 1967 und 1970 entstandenen Theaterstücke keine Beachtung bei deutschen Verlagen: „Ich schrieb mein letztes Theaterstück in deutscher Sprache im Jahre 1970. Dann hörte ich auf. Es war kein Echo da. Alle meine Versuche bei deutschen Verlegern blieben ohne Erfolg." Der mittlerweile in Lyon studierende Kum'a Ndumbe III. schrieb nun verstärkt auf französisch und veröffentlichte bei dem Verleger Jean Pierre Oswald, Paris in der Reihe Théâtre africain.
Die Überwindung des postkolonialen Blicks scheint bereits in sich ein paradoxes Unterfangen zu sein, sehen sich doch viele postkoloniale Theorieansätze (zumal bei dem Begriff der Hybridität) dem Vorwurf ausgeliefert, auch noch in einem Gegenanschreiben koloniale Diskurse fortzuführen. Jochen Dubiel hat sich in seiner Dissertation gleich in mehrfacher Hinsicht diesem Problem gestellt, indem er Charakteristika und Konstanten des kolonialen Diskurses herausarbeitet und darüber hinausgehend ein poetologisches Modell zur Analyse von Hybridität entwickelt. Interessant ist in diesem Fall die Verschiebung, die weniger die Repräsentation des Fremden, sondern hybride literarische Darstellungsweisen über eine intrakulturelle Perspektive herleitet. Dabei reagiert Dubiel auf ein Forschungsdesiderat, denn im Rahmen seines literaturwissenschaftlich-komparatistischen Ansatzes wird eine postkoloniale Lektüre nunmehr auf deutschsprachige Texte (Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen", Arno Schmidt: "Gelehrtenrepublik", Franz Kafka: "Ein Bericht für eine Akademie") angewendet, die oft genug noch von postkolonialen Fragestellungen ausgenommen werden. Getragen ist die Vorgehensweise von der Absicht nicht allein zu zeigen "wie Europa mittels diskursiver Strategien anderen Völkern Gewalt antut, sondern sich durch die Verstrickung in zahlreiche Widersprüche auch selbst hintergeht." (Dubiel, S. 24)
Die labyrinthische Organisation des Erzählraums, die bisweilen dem Prinzip der Assoziation durch Josef K. zu folgen scheint, korrespondiert historisch mit der desorientierten Wirklichkeitserfahrung der Moderne - einem "Gefühl der 'Ohnmacht' und der 'Entfremdung' des 'modernen Menschen'". Nicht ohne Grund wird "Der Proceß" so in der verbreiteten sozialgeschichtlichen (und vor allem sozialkritischen) Lesart zur literarischen "Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, aktueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das Begehren unterdrückenden 'Macht'". Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, diese sozialgeschichtliche Lesart unter Hinzunahme des in der Kafka-Forschung bislang nur randläufig berücksichtigten Paradigmas der 'Biopolitik' bzw. 'Biomacht', wie es insbesondere von Michel Foucault analysiert wurde, noch einmal produktiv zu erweitern. [...] Franz Kafkas literarisches Werk befasst sich zweifellos immer wieder mit modernen Machtverhältnissen und Normierungsprozessen sowie auch mit den Individuen, die vor der (scheinbaren) Wahl stehen, sich zu assimilieren oder von eben jenen verschüttet zu werden. Dieser Beitrag wird erstens zu zeigen versuchen, wie das Gericht in Der Proceß durch seine Raumordnung als Metapher für eine breitere Machtökonomie der diegetischen Gesellschaftsordnung lesbar wird. Zweitens wird er der Frage nachgehen, inwieweit die Kategorie des Angeklagten als Schnittpunkt gelesen werden kann, der zwar intradiegetisch einen eigenen institutionellen und epistemologischen Stellenwert hat, auf der Metaebene allerdings der Logik des modernen Zusammenspiels bio- und disziplinarpolitischer Interventionen und Prozesse nachspürt.
Erzählte Welten als soziale Wirklichkeiten denken: Dieser Beitrag skizziert ein Modell zur Untersuchung von Intersektionalität in multiperspektivisch erzählten Texten. Multiperspektivität wird als Erzählform stark gemacht, die in der Lage ist, die Machtverhältnisse und Diskurse der außertextlichen Realität aus der Vogelperspektive zu reflektieren. Aus einem narratologischen Blickwinkel wird hier der Frage nachgegangen, welchen Mehrwert die intersektionale Untersuchung von literarischen Perspektivenstrukturen für eine intersektional orientierte Literaturwissenschaft bietet, und mit welchen Begriffen und Konzepten eine solche Untersuchung durchgeführt werden kann. Es geht darum, die strukturellen Verhältnisse zwischen Einzelperspektiven zu den (sozialen) Hierarchien ihrer fiktionalen Wirklichkeit in Bezug zu setzen und zu untersuchen, welche Perspektiven diese Wirklichkeit schaffen und welche außen vor bleiben. Am Schluss steht eine exemplarische Textanalyse von Sibylle Bergs Roman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" (1997), die deutlich macht, wie die Beziehung zwischen Sozial- und Textstrukturen gedacht werden kann.
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive haben Aleida und Jan Assmann den Prozess der Kanonisierung, die "Stillstellung des Traditionsstroms", seine Fixierung und Bannung zunächst in die Schrift, sodann in die Wörtlichkeit, verschiedentlich als Indiz und Kriterium für einen sich abzeichnenden Übergang von rituellen zu textuellen Prinzipien kultureller Kohärenz erklärt. Dabei ist entscheidend, dass sich aus der doppelten, einerseits die Überlieferung bewahrenden und andererseits die "normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft " verkörpernden Funktion kanonischer Texte eine Spannung ergibt, die als Grundlage für die Etablierung von Auslegungskulturen gelten kann. In dem Maße, in dem das, was nicht vergessen werden darf, das zeitlos Geltende auf die Forderung nach Aktualisierung des Erinnerten für eine stetig sich verändernde Gegenwart trifft, bedürfen kanonische Texte der Interpretation, welche zwischen beidem zu vermitteln vermag. Zugleich gilt aber, dass aufgrund des für die Kanonbildung charakteristischen Vorgangs der "Schließung" von Text, der Abgrenzung des "Kanonischen" vom "Apokryphen", des "Primären" vom "Sekundären ", "alle kommentierenden Eingriffe und Zusätze" in den Bereich jenseits der Kanongrenzen verbannt sind, in den "Metatext: den Kommentar". Der in allen Einzelheiten festgeschriebene und zu bewahrende, zugleich aber vielfach mündlich und schriftlich kommentierte Text der hebräischen Bibel ist für dieses Verhältnis von Statik der kanonischen Schrift und Dynamik der kommentierenden Auslegung ebenso Zeugnis wie das im christlich-patristischen Kontext beobachtbare Wuchern vielsinniger Exegese und Kommentierung bei gleichzeitigem fortgesetztem Bemühen um den Bibeltext in seinem Wortlaut. In beiden Fällen zeigen aber die kontroversen Diskussionen um die Grenzen des Kanons auch, dass dessen Festlegung und Unterscheidung vom Kommentar ein Problem darstellt. Führt man etwa die äußerst komplexe und vieldiskutierte Frage nach dem Gewicht der schriftlichen Gestalt bzw. der mündlichen Überlieferung des Kanons im Judentum ins Feld oder bedenkt man die patristischen Nöte hinsichtlich der Übersetzungsproblematik, dann nimmt sich die skizzierte assmannsche Unterscheidung allzu schematisch aus. In historischen Zusammenhängen, in denen der kanonische Status heiliger Schrift für die Konsolidierung und Aufrechterhaltung der konnektiven Struktur einer Gesellschaft relevant ist, werden zwar kanonische Autorität und der Anspruch auf Ausrichtung an ihrer Maßgeblichkeit sowie die Behauptung der Wahrung von Kanongrenzen in den Folgetexten kontinuierlich rhetorisch reproduziert. Allerdings sind die Strategien auf der Ebene der Textgestaltung den expliziten Ansprüchen zuweilen in einer Weise gegenläufig, welche neben der Unantastbarkeit gerade die Verhandelbarkeit von Kanonizität auf den unterschiedlichsten Stufen ihres Festgeschriebenseins und in verschiedenen historischen Situationen implizieren und die damit auch den Status der Folgetexte zumindest zu einem verhandelbaren machen.
Die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns haben seit jeher bildende Künstler fasziniert, mit über 3000 Illustrationen von Künstlern des In- und Auslandes zählt er zu "den meist illustrierten Autoren der Weltliteratur". Dennoch sind diese Illustrationen bislang kaum aus medienkomparatistischer Sicht untersucht worden. Wie wird die Hoffmann'sche Erzählweise in das bildliche Medium übersetzt? Dieser Frage, die vorliegender Aufsatz sich stellt, ist noch kaum einer nachgegangen. [...] Wer die Illustration als 'Ideenklau' versteht, ignoriert, dass das Bild, als anderes Medium, den Inhalt des Textes verändert, transformiert. Aus diesem Grund wird dieser Aufsatz Klees "Hoffmanneske Märchenscene" und Hoffmanns "Goldenen Topf" aus medienkomparatistischer Sicht vergleichen. Im Gegensatz zu Jürgen Glaesemer, der 1986 schreibt: "Bis heute blieb der Inhalt der Hoffmannesken Szene weitgehend ungeklärt", haben zuvor bereits Jürgen Walter und Elke Riemer den Bezug des Bildes zu Hoffmanns Märchen aus der neueren Zeit erkannt. Bevor Klees Farblithographie kontextualisiert und die Beziehung zwischen Text und Bild unter die Lupe genommen wird, skizziert Pauline Preisler zunächst das Phantastische dieser Erzählung. Denn, wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dieser Aspekt relevant für den Medienwechsel.
Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie 'French Theory' herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm. Dennoch bietet die Rede von einer 'French Theory' - im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne - einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen 'Brazilian Theory' auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel "The Forest and the School" eine erste Anthologie. In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug. Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel "Brasilianische Interventionen" im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: "Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken". Selbst von einer sich andeutenden "Brasilianisierung der Theorie" ist hier die Rede. Doch lässt sich angesichts der zunehmend vernetzten, internationalen und multilingualen Welt, in der diese Theorie entsteht, überhaupt noch sinnvoll das Label eines Nationalstaats verwenden?
Gegenwelten, so eine sozialwissenschaftliche Definition, entstehen, wenn sich Teile der Gesellschaft von "etablierten Denk- und Verhaltensweisen" abwenden und "alternative Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten" entwickeln. Häufig verweist das Wort auf das viel diskutierte und schwer fassbare Phänomen des 'Postfaktischen'. Zugleich legt die Rede von 'Gegenwelten' die Frage nahe, ob jene Teile der Gesellschaft tatsächlich nur "alternative Vorstellungen" entwickeln oder nicht vielmehr 'in ihrer eigenen Welt leben'.
Dieser Beitrag geht nun vor allem begrifflich-historischen Aspekten des Zusammenhangs von 'Sicherheit' und 'Unverfügbarkeit' nach, wobei ich historisch und konzeptuell vor allem an 'Sicherheit' interessiert bin. 'Unverfügbarkeit' oder 'Nichtverfügbarkeit' wird unterdessen in weiten Teilen heuristisch gebraucht, zum Zwecke der Zusammenschau bestimmter Phänomene.
Rezension zu Finn Fordham: I Do I Undo I Redo. The textual Genesis of Modernist Selves in Hopkins, Yeats, Conrad, Forster, Joyce, and Woolf. Oxford (Oxford University Press) 2010. 281 S.
"Why are not excrements, children and lice works of art?" fragt sich James Joyce 1903 in seinem Pariser Notizbuch. Im elf Jahre später fertig gestellten 'Portrait of the Artist as a Young Man' schreibt er die Frage Stephen Dedalus als Eintrag in dessen Notizbuch zu. Finn Fordhams Band 'I Do I Undo I Redo' verspricht, den Prozess der Verfertigung von Kunstwerken zu analysieren, der bei Joyce in Frage stehen bleibt.
Der Dualismus von Körperästhetik und Moral, der die abendländische Kultur seit der Antike bestimmt hatte, bricht in der schönen Literatur erst im 20. Jahrhundert - im Gefolge psychologisierter anthropologischer Konzeptionen - endgültig auseinander. Es entstehen neue, komplexe Relationen von Körper und Psyche, in denen unterschiedliche Normenkomplexe und Machtstrukturen wirksam sind - soziale, geschlechtsspezifische, sexuelle. Demgegenüber scheint sich in den literarischen Zeugnissen der Gegenwart ein neues Paradigma anzudeuten. Die jüngsten Variationen der Konfrontation von Schönheit und Häßlichkeit, die Verwechslungen, Vertauschungen, Verwandlungen und Umkehrungen beider Zustände entstehen erkennbar vor dem Hintergrund avancierter technologischer Möglichkeiten zur Herstellung von Körperschönheit, einer Schönheitsindustrie und Medizin, die das Bewußtsein von der technischen Produzierbarkeit von Schönheit, vom Sieg über Alterungsprozesse vermitteln. Die Gegenwartsliteratur spiegelt eine neue Objekthaftigkeit von Schönheit und Häßlichkeit, ihren Warencharakter. Schönheit kann, wie bei Bruckner, enteignet werden, sie kann gekauft und gestohlen werden wie bei Kureishi, mit ihrem häßlichen Gegenteil verwechselt wie bei Brasme und sie kann mit diesem - zur kontrastiven und kommerziellen Überhöhung ihrer Eigenart -vorübergehend vertauscht werden wie bei Nothomb. Der Objekt- und Warencharakter von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit führt dazu, daß die Dichotomien zusammenrücken und austauschbar werden, weil sie kein metaphysisches, moralisches oder gedankliches Substrat mehr besitzen, sondern zunehmend vom marktwirtschaftlichen Prinzip bestimmt sind. Auf einem totalitären Markt der Schönheit kann plötzlich auch Häßlichkeit kommerziell und sexuell attraktiv werden, in einem faschistoiden Schönheitssystem ist sie die einzige Möglichkeit der individuellen Nicht-Anpassung.
Naturgemäß dürfte uns interessieren, was der Mensch ist, und auch – wenn das denn so zu trennen ist –, was er sein soll, da wir gewöhnt sind, uns selbst als Menschen zu bezeichnen. Es handelt sich also um eine Form der Selbstbeschreibung und der semantischen Wirklichkeitskonstruktion. Ein Begriff wie ’der Mensch‘ beruht auf einer Beobachtung, und beobachten können wir nur, wenn wir etwas unterscheiden, zum Beispiel den Menschen vom Tier. Seit etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt die Einsicht auf, daß solche Erkenntnisse, die sich in semantischen Traditionen (wie etwa der Bezeichnung ’animal rationale‘) verdichtet haben, sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung verändern. Das fällt den Menschen offenbar schwer zu akzeptieren, die – immer noch – gerne wissen möchten, was denn ’der Mensch‘ an sich sei, das heißt jenseits aller historischen Variabilität der Formen und der Veränderung des Wissens.
"Feinde, es gibt keine Feinde!" : Derridas "Politiques de l’amité" als Replik auf die Wende 1989/90
(2007)
Die Überlegungen zu „Politiken der Freundschaft“ durchqueren die Wendezeiten 1989 und 1990, sie gehen in der Beschäftigung mit den Problemen des Nationalismus, des Fremden, des Theologisch-Politischen in die achtziger Jahre zurück. Diese Durchquerung macht diese Schrift zu einem ausgezeichneten Dokument der Wende, wenn auch, was wenigstens andeutungsweise geschehen soll, das unmittelbarste Zeugnis für eine vom Ereignis der Wende erzwungene Auseinandersetzung die beiden Vorträge vom April 1993 hinzuzuziehen sind, die unter den Titeln "Wither marxism?" und "Spectres de Marx", zu deutsch: Die Gespenster von Marx, aber auch die Spektren, im Sinn von die verschiedenen Facetten, von Marx eine Trauerarbeit und eine neue Internationale ankündigen.
Ein See, ein Wald, ein Dorf und ein Herrenhaus: tiefste Provinz. Ein Schloß im Norden der Grafschaft Ruppin. "Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit, wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sichs auch hier, und einWasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen ..." Fontanes gleichnamiger großer Roman thematisiert die Wechselwirkung von Weltgeschehen und Region. Und es ist nicht nur das uralte Kommunikationsmedium der Natur in Gestalt des Sees, sondern als neuestes Medium die Telegraphie, die den "Ort" (See, Wald, Dorf und Schloß) mit der Welt verbindet.
Das Strohfeuer des Kulturbetriebs anläßlich des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno ist fast schon wieder verbrannt, die Geschäfte sind gemacht. Was bleibt, ist die "Wunde Adorno", wie er einmal von der "Wunde Heine" sprach. Ein Ärgernis - das wäre sein bestes Vermächtnis. Von Heine sagte er: "Sein Name ist ein Ärgernis und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann hoffen, weiterzuhelfen." (Die Wunde Heine, 146)